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Grad nur die Radower maden eine Wus- nahme, weil die Tante Marquiſe bie Millionen hat. Gonjt ... ein Jammer ift’s um ben elenden märkiſchen Sand!“ Martha war au[geitanben. Cie febte die große Schüffel auf ben eichenen Tiſch. Nun fiegte der Unwille doch über ihre Ge: laffenheit. „Du bift ein rechtes Rind, Helene,“ fagte fie ziemlichſcharf. „Schäme, Did, unjere liebe Scholle zu [d)elten. Die ijt treu, wenn fie aud) farg fein mag. Und wir müſſen Treue um Treue vergelten. Geh hinüber auf ben Kirchhof, [djau' Dir die alten Gräber an. Da liegen Deine Vorfahren, Reihe um Reihe, feit brei- hundert Jahren. Seit dreihundert Jahren hat das gegolten: Treue um Treue. Daf Dir das bie Städterin jagen muß, Dir, Helene! Schäm’ Did!” Cine Cefunbe ftand Helene nod) im Stob. Dann flog fie der Schwägerin jäh um den Hals und füpte fie redjts und finfs auf die Wangen. „Du Gute! Du Liebe! Du Wllerbefte . . ." Da trat gerade ber alte Herr aus ber Haustür, unb als er jeinen Spätling und die Schwiegertochter in der engen Um: armung jab, lachte er froh. „So hab’ id) (ud) gern. Das heißt —" er legte den gefriimmten rechten Zeigefinger um den Najenriiden — „das Heißt... . bie Über: Ichwenglichkeit jtammt — natürlid) von der Helene. Hat fie von der Mama. Die war aud) [0 . . . gleich aus bem Häuschen . . . bas heißt, damals, als wir nod) jung waren. Lieber Gott... Ja... und ijt bas heut nicht ein ſchöner Sep: temberabend ?“ Das lebte jagte er fdjon, fid) umwmen- benb, auf ber Mitte ber tiefausgetretenen Treppenitufen, bie in ben Garten hinab⸗ führten. Und ohne eine Antwort abguwar- ten, id)ritt er weiter hinunter, ben breiten janbigen Fahrweg entlang, der, von fonn: verbrannten fiimmerliden Rafenbeeten umjdumt, am Tor in den Dorfanger münbete. | Es war bie Stunde, zu ber er fid) feit Jahrzehnten, Sommer unb Winter, dort am Torweg mit dem pastor loci traf. Das Wetter mußte [djon fehr [chlecht fein, wenn ber alte Nittmeilter und Paſtor Sjedftein ihr Rendezvous in bie große Stube bes Sdloffes, wie bas herrichaftliche Haus troß aller Einfachheit von alters her ge: nannt wurde, oder in das verrduderte Studterzimmer des Pfarrhaufes verlegten. Wetterfefte Greije, die fie waren. Dem Rittmeifter verfchlug’s nichts, mit feinen fajt fiebzig Jahren bei jtrengjter Kälte ein paar Rejjeltreiben mitzumachen, und Hed: — fein, ber nur wenige Jahre jünger war, fuhr im Winter regelmäßig im offenen Wägelchen ohne Pelz nad) feinen beiden Yiltaldörfern, Dommelt und Radow, jtand im dünnen Talar in der ungeheigten Kirche auf der Kanzel und lachte nachher vor der Kirchtürjeinen anderen Freund und Patron Ernit Hadentin aus, wenn ber jchimpfend die gewaltige Kugel feines Corpus in foftbarem Zobelpelz aus bem gutsherr: lichen Gejtühl herausrollte. Wud) heut fam er pünktlich bes Wegs vom Pfarrhauje Der, der Heine hagere Mtann im [djwargen Düffelrod mit dem ſchwarzen breitfrempigen weichen Filzhut über dem jcharflantigen bartlojen Gelicht, aus bejjen brauner Lederhaut die großen Augen hell und gutmütig, eigen lujtig unb lijtig herausleuchteten. Er jtapite mit ge- mädjlichen Schritten, hob hier feinen diden S8noten|tod brollig drohend gegen den halbwüchligen Chriftian Mebger, ber in ber lebten Stonfirmanben|tunbe gebdöft haben mochte unb nun jdjleunig|t Reißaus nahm; blieb dort [teben, um einer Günje- Derbe, die in wohlgeordneter Marſchord⸗ nung über ben Anger 30g, wohlgefällig nadgujdauen, und fragte die Grau Kan: torin, die am Zaun ftand, wie ihre be- rühmten Gravenfteiner heuer zu geraten perjprüdjen. Da gerade bie hübjche Anna Flehr, bie Rantorstodter, am jelbigen Zaun Stachelbeeren pfliidte, jo kniff er ihr im Vorübergehen feit in bie runde rofige Bade. Für ein hübſches Menſchenkind hatte er das gleiche Verjtändnis wie für einen guten Apfel, wobei thm aber ein frijdes Mädel lieber war als ein Bube und ein bujtenber Gravenfteiner lieber als eine ſchrumpliche Reinette. Vor ihm her trottelte Waldmann; raftete, machte einen Bogen, lief wieder ein Stüdchen voraus, fam zurüd, ſchlen— ferte mit bem langen Behang — kurz, benabm [id) höchſt willfiirlid. Ganz im EPSSSSSISSZSSFSZITZIZA Auf märkiſcher Erde. Begenfaß aur Diana, die haarfcharf Hinter dem linfen Fuß ihres geftrengen Herrn blieb, mit ber feinen Naſe dicht an bel]en grauem Beinkleid. Und die grunbjáblid) nie von bem pajtoralen Dadel Notiz nahm. Schon von weitem grüßten jid) bie beiden alten Herren. Der Rittmeifter hob militäriſch zwei Finger an fein Käppchen; der Paftor beriihrte flüchtig bie Sjutfrempe. „'n Ubend, Hadentin. Wie gebt's? Wie fteht’s 2“ on Ubend, Paftor. Alles gut zuwege bet Dir?” Sie nannten [id) feit acdhtunddreißig Jahren Du; jeit Hedjtein den Wilhelm getauft hatte. Mit bem jtand er nun aud) Ihon zwölf Jahre auf Du und Du, feit bem Tauftage feines Altejten. Und bem hatte Hedftein neulich mit einem freund: Ihaftlichen Jagdhieb eröffnet: „Na, Syun- fer Hans, wenn id) Deinen (rjtgeborenen taufe, machen wir beide Brüderjchaft. Cput' Dich nur "n bijjel, daß ich nicht zu lange zu warten braud)'." Ein paar Augenblide blieben bie alten Freunde zwifchen ben Pfoften des Torwegs Stehen. zwei vierfantig bebauenen ſchwarz⸗ geteerten Eichenftämmen, jeder mit einer Vollfugel gekrönt, bie auf der Feldmark gefunden waren; Kantor Flehr, der ein *Büdjermurm war, hatte damals eine ge- lehrte Unterfuchung angejtellt, nad) ber fie ruſſiſcher Proventeng fein follten und aus den Sjulitagen 1759 ftammten, in denen General Wedel fic) vor Soltifow über die Oder zurüdziehen mußte. Der Paftor jah auf bie frijdje Radipur. „Die Radower waren hier. Wie waren fie denn, Sadentin?" „Ernſt ijt nod) ’n biffel dicker geworden, den?’ id. Das heißt — wenn's móglid) ift Mariechen war herablajjend wie immer, ganz Marquije, hatte ein Monſtrum von frinoline an, ein Kleid mit verrüdt vielen Volants und dazu einen neuen Sonnenfdirm, blaue Seide mit Spiben, der wohl wieder die Weiber auf zehn Meilen im Umkreis verdreht machen wird. Das heißt — fie nannte bas Ding natiir- lich nicht Schirm, fondern Ombrelle. Auf der Rechnung nimmt jid) bas übrigens tout egal aus, und bezahlt wird bie bod) jo: bald nicht.” Cie zwinferten jtd), verftändnisvoll BSSS3S33333334 5 lächelnd, mit den Augen zu und bogen in die, Allee von hodftimmigen Kajtanien ein, die fid) längs bes Gartengauns hinzog. Langjam, hehaglich jd)rittem fie neben- einander her; Diana immer mit der Naſen⸗ \pige am linfen Bein bes SRittmeijters, Waldmann bald voraus, bald zurüd, bald jtehen bleibend und bie fchlanfe CEng: länderin mit Eugen Augen, Balb neidijch, Balb migadtend, anjchauend. „Ja, und Ernjt hat eine neue Delikateſſe ‚erfunden. Crépes à la Suzette, glaub’ ich, nennt er bas Deubelszeug. Das heißt — Cierfudjen find’s mit irgend "ner Sauce aus Sifóren, wenn ich recht verjtanden hab. Du fannft Dir ja das Rezept von ibm geben lafjen. Die Pajtorin wird fid ion drauf verſtehn.“ „Nee, Hadentin. Ich bleibe bei Spec: eterfudjen. Wenn’s dazu langt, will ich ſchon froh fein. Denn was fo unjere Bauern find — Du fennjt fie ja — wenn bie uns bie Eier abliefern, wundert jid) meine Gufte immer, bap Hühner überhaupt Jo Heine Eier legen fónnen. Was hat Ernft denn fonft nod) erzählt?“ Der alte Rittmeifter fdnellte mit bem Fuß ein Steinchen zur Seite. „Sie find auf der Durchreiſe von Ems ein paar Tage in Berlin gewejen, haben aud) Wil: helm gefprodjen, der wieder mal große Rofinen im Kopf haben joll. Das heißt — von wegen der. Eifenbahn: Konzejlion — Du weißt ja. Die Rojinen fenn' ich nad: gerade, aber den Kuchen, in ben [ie ge baden werden jollen, den werd’ ich wohl nicht erleben. Na, id) will mid) nicht ärgern. Was Ernftfonft erzählte? Politik, Politik, und nochmal Politif. Unjer herr: licher Landtag — daß ihn der Deibel Hole — treibt fein Jeuchen weiter, Hohenlohe macht Büdlinge und Vtajejtät Tönnen zu: jebn, ob jchließlich ’n paar Kröten für bie Armee bewilligt werden. Schlechte Zeiten, Heckſtein . . hundsmiferable Zeiten. Ein altes Breußenherz möcht’ fid) am liebiten umdrehen bei dem Skandal.“ Oft zitierte der Baftor nicht Bibelworte. Die [parte er fic) für den Sonntag auf. Aber manchmal glitt ihm doch eins über die Lippen. „Hoffnung läßt nicht zu: jdjanben. werden,” meinte er. „Jawohl, Heditein, ich weiß. Gteht Nömer fünf. Aber im Hiob fteht aud: 6 BSS9S593939399396 Hanns von 3obeltig: BESSSSssesssss4 Der Menſchen Hoffnung ift verloren. Siehft Du... fo fteht’s um meine Hoffnung. Das Beipt — um die Armee gebt's, und wenn unjer Allergnädigfter Herr nur wollte! Bloß bem Wrangel ’nen Wink geben, und der fegte wie anno 48 den liberalen Schwindel gum Tempel ’raus. Gegen Demofraten helfen nur Soldaten. Co aber fript das Geſchwür weiter... bis in unfre eigenen Familien hinein!“ Das war ein Punkt, auf den ber Paftor bas Geſpräch nur ungern losjteuern jab. Denn bas ging auf Fri Hadentin, des Rittmeifters Zweiten, ber erft Leutnant bei den Frangern gewejen war, dann zur Themis geldjmoren hatte und nun als Kreisrichter in Stellberg jap. Ein guter Junge, aber ein unrubiger Kopf. Etwas untubiges Blut batten die Roblbecer Sjadentine ja alle. Das fam von ben (9ruders herüber, in denen nun mal der romantijche Zug lag. Aber auf ben Syri durfte Hadentin nicht zu fpreden fommen. Das wurde fonft ungemiitlid), und dazu war der Abend zu ſchön. Zum Glüd waren fie gerade unter der legten Kaſtanie angelangt. Driiben ftand der Kantor in jeiner Haustür, der lange Labammel, diirr wie die endloje Pfeife, aus ber er qualmte. Raum daß er fie aus den Zähnen 3og, um feinen Gruß anzu: bringen. „Na, iylebr, was madt der Bakel?“ rief Hadentin über die beiden Zäune herüber. „Dante, Herr Rittmeifter. Wie bas Spridwort jagt: Wer den Stod fürdjtet, fann nur mit dem Stod regiert werden. Man braucht ibit eben.“ „Ja, Kantor, vielleicht waren’s bejjere Zeiten, als man ihn mehr brauchte. Das heißt — nicht bloß in der Schulſtube.“ „Ic weiß nicht, Herr Rittmeifter, ob das befjere Zeiten waren.“ „Vielleicht erfahren Sie's noch.“ Hacken⸗ tin wandte ſich. Halblaut, etwas unwirſch meinte er zu ſeinem alten Freunde: „Der iſt auch ſchon angeſteckt, lieſt mit dem Grunowſchen Müller zuſammen die Tri: büne. Du ſollteſt ihm mal feſte den Dau⸗ men aufs Auge drücken, Heckſtein —“ „Er iſt nicht der Schlechteſte. Seine Bengels hält er ſtramm in Ordnung, mit und ohne Rohrſtöckchen, je nachdem. Sie lernen bei ihm gerade richtig: nicht zu viel und nicht zu wenig. Und ſolchen Chor in der Kirche, wie er ihn zurechtgebracht hat, wirſt Du im ganzen Kreiſe vergeblich ſuchen. Von der Muſika verſteht er was. ‚Deine $jodjad)tung', würde Dein Schwa⸗ ger Grucker ſagen. Na, und was die po⸗ litiſche Geſinnung anbetrifft.... Du kennſt ja meine Anſicht: das kommt und geht. Wenn wir ein paar Jährchen weiter ſind, lachen wir beide wohl über die Aufregung von heute. Denn, weißt Du, im Grunde iſt alles, was brandenburgiſch iſt, doch loyal bis auf die Knochen.“ Der Alte grollte: „Das haben wir 48 geſehn ...“ „Ach was! Was war denn da außer Berlin los? Berlin aber iſt gar nicht brandenburgſch, wenn's auch zufällig mitten in unſerer lieben Sandſtreubüchſe liegt. Berlin iſt Berlin. Da muß immer geſtänkert werden. Aber ſonſt? Der Flehr da iſt typiſch. Mal gelegentlich'n biſſel das Maul vollnehmen, mal recht klug ſchnacken, mal ſich recht gebildet fühlen und mal libe⸗ ral wählen, wenn's hochkommt. Mehr aber nicht.“ „Iſt gerade genug. Order muß pariert werden.“ „Wird aud)... Da fommt ja bie Lene. He, €eneden, wohin denn fo eilig?“ Mit ihren fchnellen Schritten fam fie vom (2djlojje ber. Einen Hut Hatte [te nicht aufgelebt; in ber letjen Dämmerung, die ſchon anhub, fpielten ihre Haarwellen ins Golbigrote. Cin Tuch hatte fie um: genommen; feit lag bas dünne Gewebe um die Schultern, umjpannte fnapp bie jugend- liche 3Büjte und war hinten in der Taille gujammengefnotet. „Ich will der Poft auflauern, Onfel Paftor. “ „Denkſt wohl, der Schwager Poftillon bringt Dir 'n Gdjat mit, Lene.” „Der könnte mir grad fehlen, Onfel Paftor. — Wilft Du, Waldmann, Du Frechdachs! Sieh Dir mal Diana an, wie die artig ijt." „sm Pfarrhaus gibt's friichen Pflaumen: fuchen, Lenecken.“ „Ic hafch’ mir beim Zuriicfommen ein Stüd.” Ste nidte bem Vater zu, fie winkte von —— — E | oo o go 0 = 995297000 PP ] e b a. Auf mürfilder Erde. BESS3S333333334 7 weitem zum Kantor hinüber und Dujdjte weiter, Durch bas Tor, den Unger entlang. Die beiden Alten jahen ihr wohlgefällig nad). Es warimmer, als jdjwebte fie über dem Boden. Ganz eigen zierlic) jebte fie unter bem meitbau|djigen Rod, der gerade nur die modijde Rrinolinenform andeutete, die Füßchen. Schujter Freyer in Logow war fonft fein Held in feinem Fach, aber für Das junge gnädige Fräulein auf Rohl- bed tat er immer fein Beftes. „Ein Mordsmädel, DeineLene!” meinte ber Paſtor ſchmunzelnd. Der Rittmeiſter nickte. „Ein gutes Kind. Das heißt — es iſt noch junger Moſt. Das gärt und gärt und will manchmal über: Ichäumen. Dlan muß die Lene ein bisfen [traff im Zügel halten.“ Hedjtein lächelte verjtohlen. Er wußte am beiten, daß die Kinder im Schloß nie recht im Zügel gehalten worden waren. Nicht gleichmäßig wenigitens. Mal hatten die Zügel am Boden gefchleift, mal waren fie wieder gewaltjam angezogen worden; unb wenn Hadentin am rechten Sügelenbe 309, zerrte die alte Gnädige am linfen. Aber das tat am Ende nicht viel. Es war ein guter Kern in den Kindern. Aber da fiel ihm ein, daß die Gelegen- heit vielleicht günjtig wäre, für ben Kantor noch ein gutes Wort einzulegen. „Sieh mal, Sjadentin," begann er aufs neue, „da haft Du eben auf den Flehr ge- Ihimpft. Haft aber ganz vergeffen, was der Dann fic) für Mühe mit der Lene ges geben bat. Ich meine von wegen ihres Ge- janges.“ „Bird ibm bod) bezahlt.“ „Ra hör’ mal: die paar Dittchen für die Stunde! Du fannjt froh fein, daß wir jold) einen mufifalifden Kantor haben. Aber neulich hat er mir freilich felber ge- ftanden, daß er am Rande mit feiner Runft ijt." „Jawohl — jawohl — id) weiß idjon. Das heißt — bap Lene in die Stadt miiffe, einen andern, befjeren Lehrer befommen. Die Litanet Bat er mir aud) vorgebetet. Unfinn, 3Bajtor. Dazu langt’s nicht mehr. Und id) will aud) nicht, bap ber Lene Fladufen in den Kopf gejebt werden. Da: mit darfft Du mir nicht fommen.. .” Der Nittmeifter riidte fein Käppchen plößlich ganz weit nad) rückwärts auf bie weißen lodigen Nadenhaare, wandte fid) furz um, und da Diana ber Kehrtwendung nicht jchnell genug folgte, vielmehr mit fragendem Blick auffah, friegte fie einen lanften Hieb. „Und im übrigen ijt ber Kantor bod) ein Demokrat!” — Helene war indejjen ben Dorfanger ent: lang gegangen, hatte ein paar Worte mit der Frau Kantorin gewedjjelt, bie immer ausjah wie ein fcheues, in der Gefangen: Ichaft gehaltenes Reh, wenn jemand vom Schloß fie anjprad, und die um fo [heuer und demütiger wurde, je freundlicher die Worte waren, die man an fie richtete. Dann hatte Lene bei Meifter Winkel, bem lobejamen Schneider des Dorfes und bejfen Krämer, eine ?Bejtellung ber Schwä- gerin ausgerichtet, bie fid) auf ein Paar Hojen ihres Neffen Hans bezog, unb dann war fie am Kicchhof ein paar Augenblide ftehen geblieben. Da lag, feitlich ber fei nen Baditeinfirche, bte nod) immer bes rid): tigen Gelduts entbehrte, weil weder Pa- tron nod) Gemeinde die Mittel aufbrachten, bas alte Erbbegrdbnis. Es mochte nod) in befjeren Zeiten gebaut fein, vor hundert oder hundertfünfzig Jahren vielleicht: bie eilenbefchlagene Tür war jogar von einem Paar Säulen eingerahmt, wirklichen Gand: jteinjdulen, mit einem Giebelchen darüber, in dem bas Sjadentin|dje Wappen mit den drei Haden als Relief etngelajjen war. Aber der Zahn der Zeit hatte den Bau angefrefjen. Die Säulen waren zermürbt, das Wappen war faum nod) erfennbar, das Siegelbad) ſchadhaft — gut, dak ber dicht wuchernde Efeu das Schlimmite zu: deckte. Das Erbbegräbnis hatte aud) ſchon lange nicht mehr gugeretdt; linfs und rechts daneben lagen Hadentinfche Graber. Schlichte Graber, bie fid) wenig von denen der wohlhabenden Bauern unterjchieden. Höchſtens daß fie ein wenig mehr gepflegt waren, und aud) das nur, weil die junge (9nábige eine bejondere Vorliebe für den Kirchhof hatte. Ein paar Minuten ftand Helene am Zaun. Ihr lagen Mtarthas Worte im Sinn von der Treue um Treue. Die hatten fie vorhin gepadt und flangen nod) in ihr nad). Wher wie fie fo auf bie Gräber fah, . über denen fid) zwei große Maulbeerbäume mit weitgejpannten Äſten breiteten, die nod) auf des großen Friedrichs Befehl 8 BESssssesesesoeay Hanns von Zobeltiß: gepflanzt worden waren, fing [ie plößlich an zu frojteln. Neulich in Radow hatte fie in einem Bande Gedichte geblättert. Eigentlich nur, weil Tante Marie jo viel Wejens von dem großen Franzoſen Victor Hugo machte. Sekt fiel ihr mit einem Male ein Sag daraus ein: ‚Gloire, jeunesse, orgueil, biens que la tombe emporte . . .‘ Ruhm und Jugend und Stolz — Nein! Nein! Für fie hatten die Gräber nichts Erhebendes! Nur fürchten konnte fie ftd) vor ihnen. Und fie 30g bas Tud fejter um die Schultern und eilte rajd) weiter, am Krug vorüber und an der Schmiede, ber neuen Chauffee zu, bte dicht am Dorfausgang die jdymale Winte über: brüdte. Da ftand [djon der Doktor Hemming mit den beiden Junfern. Oder vielmehr er [tanb, feitlid) ber Brüde, an eine dice Weide gelehnt unb himmelte über bas Stoppelfeld zum Horizont hinüber. . Die Jungens aber jaßen auf der Steinbrüftung ber Briide; ber langaufgejchoflene Hans ſchien es jeinem Hauslehrer nadjmaden zu wollen; er ftarrte träumend auf das rin: nende Waller, während Thede — Theo: bor — irgendeine Bohnenftange aufgega> belt hatte, die dreimal jo lang war wie ber Anirps, und mit ihr ebenjo fräftig wie zwedlos in den Uferrändern umberjtatte. Vielleicht dachte er in feiner wallenden Phantafie, auf bieje bequeme Art ein paar der berühmten Winke-Rrebje zu fangen und Mutter in bie Küche zu liefern. Alle drei achteten nicht auf die Nahende. Und Helene war bas ganz redt. Denn ber Hauslehrer mit feinen waljerblauen Schmachtaugen langweilte fie; außerdem fonnte fie ihn nicht leiden, weil er immer Ja fagte, aud) wenn ihm ber Widerfpruch auf ber jommerjprojligen Stirn gejchrie- ben ftand. Und bie Jungens — die June gens waren eben dumme Goren mit hun- dert unniigen Fragen, dazu mit unfehlbar ſchmutzigen Pfoten, die überall hintalkſch— ten, wo fie nichts zu juchen hatten. Wher bas war es nicht allein. Die Equipage, bie vor bem Kruge hielt und augenjd)einfid) aud) auf bie Poft wartete, beichäftigte ihre Gedanfen. Sie hatte die Radower Schimmel erfannt und den biden Jochen, den zweiten Herrſchaftskutſcher. Überhaupt war's zweite Garnitur: Wagen, Pferde, Kutſcher. Wen ließen die Rado: wer nurabholen? Sie hatten ja gar nichts davon erzählt, bap jie einen Gaſt ermar- teten. Uber fie hatten freilich fajt immer (9d|te im Haus. Ob es jemand von ben ‚Zeibern‘ aus Frankfurt a.O.war? Einer von den jagdluftigen Herren vom Leib: regiment, ber nod) ein paar Rebbiihner fnallen wollte? Oder ein Ulan aus Ziil: [tdau? Oder fam nur Onfel Artenau aus Stellberg, um der Ptarquije feine neuejte Pracht: unb Prunkſtickerei vorzu- führen? Pfui Spinne... fold) ein Mann, ber fid) Königlich Preußiicher Major 3. S. Ichimpfen ließ und den halben Tag am Stidrahmen jag wie eine alte Jungfer. Mit einem Male hatte Syunfer Thede bod) bie Tante erjpäht. Er ſchmiß bie Bohnenjtange ins Waller, dak es hodjauf: ipribte, ſchwang feine furgen Beinden mit einem Wuppdich über bie Brüftung, [tte ein Indianergeheul aus, fam im Galopp angejagt, und — ridjtig — da wollten aud) [djon feine Pfoten mit den Farben: fledjen von Tinte, Flußmodder und Tufch: fajtenreften an ihren Rod aus geblümter Indienne. „Tante Lene, Tante Lene, weißt Du [djon bas Allerallerneuefte?“ „Finger weg, Thede! Himmel, wie der Junge wieder auslieht?!” Und da gerade Doktor Hemming fid) umjdjaute, den Stroh: hut, den er immer bis in den November hinein trug, lüftete und anjtatt auf ben harmlofen Horizont zu ihr Dimmelte, modjte ber auch gleich fein Teil ab: befommen. „Nein, wie Sie den Bengel mit joldjen Händen herumlaufen laſſen fonnen?! Unjere Ferkelchen [inb ja rein: lider.“ Und bann fam bod) bie Neugier ihrer jungen Jahre: „Das Allerneuejte? Na, bas wird wieder mal was Feines fein?“ „Ein Ruſſe fommt nad) Radow. Cin wirklicher leibhaftiger Ruſſe.“ Inzwilchen hatte auch der Hans fid) von ber Briidenmauer herabbequemt. Im Vollgefühl feiner höheren Weisheit Höhnte er: „Ja — unb Thede jtellt fid) ben Rufen mit einer Barenfellmiike und einem [o langen Bart vor . . . joie er in der Fibel abgemalt ijt." „Der Ruffe lebt in Eis und Schnee. Säuft vielen Schnaps und nod) mehr Tee” — gab der Hauslehrer einen Fibel: Bildnis. Bemälde von Roger van ber Weyden im Kaiſer Friedrich: Mujeum zu Berlin. Nach einer Yumiere: Aufnahme von Hermann Boll in Berlin. ae ee —— — —À — — — e aca rr — .. au. — . SSoossssssssssssy Auf märliiher Erde. RRBBRESESESSSSSSSGA 9 vers eigner Erfindung zum bejten und wartete, ob jein Wisden nicht ein Ladheln auf dem ſchönen Mädchengelicht herauf: zaubern würde. Uber er wartete vergeblid. „Ach Un- jinn —“ meinte Helene nur unb [chlenderte langjam über die Brüde auf die Chauffee. Ach Unfinn — fagte fie, und bod) befchäf: tigte fie ber Ruſſe gewaltig. Ein 9tulle, ein leibhaftiger Mtosfowtter! Wo ben die Radower nur aufgegabelt hatten? Und warum die heut nachmittag nichts von ihm erzählt hatten? Gewiß weil er wieder einmal eine Überrafchung für den ganzen Kreis jein follte. Sicher irgendein (rop: fiirjt oder einer ber millionenjchweren Bojaren. Oder mindeftens ein Diplomat. Wher dann hätten fie doch nicht die zweite Garnitur, Pferde, Wagen und Jochen, zum Abholen geſchickt ... Da kam ſie aber wirklich: die Poſt. Auf dem Stellberger Berge, wo ſich die Chauſſee in den Wald verlor, wirbelte eine kleine Staubwolke auf, wälzte ſich näher und näher den Hang hinunter. Bald wurden dahinter, in kleinen Abſtänden, noch zwei Wölkchen ſichtbar — die Bei— chaiſen. Der Verkehr von Frankfurt a. O. nach Poſen mußte lebhaft ſein, jetzt im Frühherbſt. Nun unterſchied man Wagen und Pferde. Und als die Hauptpoſt draußen an der Schneidemühle vorüber rollte, ſetzte der Poſtillon ſein Horn an die Lippen. Es klang deutlich, getragen und langſam, herüber. „Drei Lilien, drei Lilien, die pflanzt' ich auf mein Grab, Da tam ein ſtolzer Reiter und brach fie ab...“ Dann hielt aud) [don die Hauptpoft dicht an ber Brüde. Die Junker ftürmten mit Geheul voran; teils, um die lederne Poſttaſche aufzufangen, die der Schwager im funftvollen Bogen vom hohen Bod herabichleuderte; teils, um den erwarteten „Wtostowiter” mit eigenen Augen zu [djauen. Recht enttäufcht waren fie. Denn ber Herr, ber ausjtieg, hatte nichts Bejonderes an fid). In ihren Augen zumal. Gs war ein [d)lanfer junger Mann in grauem Retjeanzug, der lange Rod eng in der Taille, die Pantalons jehr weit. Das brünette Geficht bildhübich, etwas jcharf und ganz glattrajiert. Auf dem braunen Haar trug er einen grauen Ralabrefer, und um feinen hohen Kragen war funftvoll eine bunte Krawatte gejchlungen, in ber ein großer Brillant funfelte. Als er ausgeftiegen war und die Fleine Gruppe — Helene, Dr. Hemming und die beiden unter — jab, ftubte er und zog den Hut. Aber Helene fühlte, wie ihr das Blut ins Gelicht ſchoß, drgerte fid) und machte fehrt. So mochte der ‘Fremde merfen, daß bie junge Dame ihn nicht er: wartete. Und ba war aud) jdjon Jochen, meldete fid) und half ben Koffer aus bem hinteren Berjchlag der Pot herausheben. Es mußte jebr [d)nell gehen, denn ber Kuticher ber erjten Beichaije drängte unb drohte weiterzufahren. „Habt Shr die Pofttafche ?” fragte Hem: ming. „Nun denn — marſch! Großvater wartet.” Und er ging den Jungens, die um ihr Leben gern jid) den Koffer bes Fremden nod) näher angejehen hätten, voraus, um Helene einzuholen. Aber fie hatte fich beeilt, und er wollte nicht auf: fällig halten. Go fam er erjtbid)t vor dem berrfchaftlichen Tor wieder an ihre Ceite, und im gleichen Augenblid überholte [ie aud) bie Radower Equipage. Der „Rufle“ jaB weit guriidgelehnt, in etwas theatra: lifcher Boje, bie Beine vorgejtredt, im Fond und lüftete noch einmal mit einer gewiljen Brandezza feinen Sjederbut. Der Doktor grüpte zurüd, während He- Tene den Naden ftraffte. Sie fagte jogar: „Barum grüßen Sie denn?” „Aber... der Herr ijt dod) Gajt der Racdower Herrjchaften... und id) fann bod) nicht unhöflich fein.” „Ich weiß nicht, wie ber Mann dazu fommt, mid) zu grüßen. Cr ijt mir dod nicht vorgejtellt.” Cie fühlte jelbjt, bap fie ungerecht und unlogijd) war. Man nahm es bod) jonit auf dem Lande nicht fo genau. Es war aber etwas wie das Gefühl in ihr: Du mußt Did) wehren! Ohne daß fie recht wußte, weshalb und wogegen. Sie war jah aus dem Gleichgewicht geworfen. Am ltebften hätte fie fid) mit Herrn Hemming gegantt, nur um eine Ablenkung zu finden. Cie jpibte jd)on bas Mäulchen, um ihm irgendeine Cottije zu jagen. Doch bann bejann fie fid): es lohnte nicht. Cs blieb ! | ! 10 B5S559599969-:5-4 Hanns von 3obeltib: immer einfeitig, bas Streiten mit diefem weichen Menfchen, diefem Ja⸗ und Amens Jager, biejer Qualle, bte auswich, jobalb man feit zugriff. Co fate fie lieber bie Jungens an ben Achfeln, Hans rechts, Thede links, unb jagte mit ihnen den Weg entlang, daß die SBojttajd)e am langen Lederriemen fid) wie eine Sturmfahne um ihre Köpfe ſchwang. Jagte die Berandatreppe hinauf, Durch ben dunklen Flur in diegroße Stube, warf die Taſche auf ben Tijd: „Da habt Ihr jte — ^ Mutter [aß nod immer an ihrem Traum: fenfter, ſchrak aber auf: „Kind, Helene, wie fann man jo laut fein! Go laut und jo wild!” ater ftand am Ofen: „Steck' bie Lampe an, Lene.“ Wie alle Abend, wenn bie Dämmerung Deran|djfid)y. Und wie alle Abend ftand nun [djon die hohe Moderateurlampe mit: ten auf dem Tijd, auf bem runden ab: ge[djabten lec ber braunen Plüſchdecke. Wie alle Abend pumpte Helene bas Of auf, horchte auf bas feije Glud — Glud‘, nahm Glode und Zylinder ab, ftrid) mit ihren baftenden Händen ein ?Biertelbubenb Schwefelhölger vergeblich auf bem fcharf: geritten Dedel bes Porzellanbehälters an, bis endlich eins zündete. Mit einem Male war plötlich in ihr alle Aufregung erlofchen. Glud — Glud madte bas Ol in ber Lampe, und ihr Hang’s wie: ‚Alle Abend — alle Abend — alle Abend... .' Nun leuchtete die Lampe auf, warf ihren milden Lichtkreis gerade über ben runden Tijd, indes das übrige Zimmer in der Dämmerung blieb. Vater holte vom Schreibtiſch den fleinen Schlüffel, ſchloß die Pofttajche auf, wie alle Abend. Und wie alle Abend jammelte fid) um ben Tiſch für das große Ereignis das ganze Haus. Mutter fam von ihrem Xraumplab, Martha fam; ber Hauslehrer war plößlich ba, unb bie Jungens boxten und fnufften fid) [chweigend am Ofen. Wie alle Abend. Vater fapte tief in die Tajche hinein, legte den ffeinen Pad Briefe und Zeitungen jorgjam vor jid) bin, febte umjtdnblid) die Brille auf und begann zu fortieren. „Da, Herr Doftor —" Das war aud berjelbe Ton und biejelbe Bewegung an jedem Abend, ein widerwilliger Ton und ein verächtliches Schnippfen der Finger, bie Dem Hauslehrer feine Zeitung hinüber: Ichnellten. Die Volkszeitung! Jeden Abend aufs neue empörte jid) ber alte Herr dar: über, daß in feinem Haufe dies verfl — Demofratenblatt gehalten wurde. „Da,liebe Martha... von Wilhelm...“ Ein paar Briefe, die fdon duperlid) einen gejchäftlichen Charafter zeigten, ben blauen Firmenjtempel etwa von Mojes Coniger in Ctellberg, ſchob er zur Seite. Dann endlich jebte er fid) und faltete fait feierlid) bie RKreuggeitung auseinander. Und regelmäßig jagte dabei Mutter aus ihrem hochlehnigen Ohrenftuhl heraus: „Hadentin, mir die Familiennadridten. ^ Eigentlich) gab er nur jebr ungern ein Stiid Zeitung ab, ehe er fie felber, langjam und gewillenhaft, von Anfang bis zu Ende ftubiert hatte. Wenn fie feine Beilage brachte, Inurrte er wohl aud) ein langge: gogenes „Neee ... nachher... ." oder er lachte: „Erfährft ſchon noch früh genug, wer 'n Kind gekriegt hat.” Heut gab es eine Beilage: „Da... Elifabeth...“ Und dann wurde es [till im Bannfreis der Lampe, an der Runde des großen Tifches. Der Rittmeifter und Hemming entfal- teten ihre Zeitungen; Martha las, Zeile für Zeile, den Brief ihres Mannes; bie alte Gnddige vertiefte jid) in die Familien- nadridjten; bie Jungens wußten, daß fie bas Maul und die ftreitbaren Hände ftille zu halten hatten, holten ihre Lieblings: id)mófer, Hans einen Band der Beder: (den Weltgefchichte, Thede fein ,Gumal und Lina‘, und [tedten die Nafen hinein. Ganz ftille war's, bis auf das Kniſtern des Papiers. Der Stuhl gwifden Martha unb Mtutter blieb leer — Sjelenens Stuhl. Cie ftidte jonjt um bieje Stunde ober häfelte Frivo— litdten. Heut mochte fie’s nicht. Auf leifen Sohlen fdhlid fie ins dunkle Nebenzimmer, lebte fid) an den geöffneten Flügel und träumte vor fid) hin. Mandhmal glitt ihre Linke über bie Klaviatur, ohne daß fie eine Tafte nieder: brüdte... manchmal zitterte wohl aud ein ganz feijer Klang aus den Saiten, ein Haud nur. Bon links her fam bann und wann ein gedämpftes Tellerflirren. Augujte bedte im Saal ben 9[benbtijd). Und mitten in Y BSoSsseseseeseeg Auf mirlifher Erde. BESSESSesese,g 11 ihre Träumerei hinein dachte Helene: ‚Was es wohl geben wird? Spedbratfartoffeln natürlich und jaure Milch, wie alle 9(benb.' Langjam frod) drüben über den Wiejen der Mond hinauf. Debt legte ich ein Streif blauweißes Licht über bas Fenfter- brett, nun 30g er fchon bis zum “Flügel: ende hin. Einmal jagte Mutter: „Da zeigt Graf Schulenburg von ben Alexandern feine Verlobung an... mit der Witwe feines Bruders... Meta, geborene Freiin von (Sdarbitein. Er lag mal im Manöver hier. Eckardſtein ... Edardftein? Das ijt ganz junger Adel... nicht wahr, Karl?“ „Ratürlich, Elijabeth ... das heißt, vom Alten rig her, glaub’ ich, ober jo... Aber nun laßt mich zufrieden mit Hing und Kunz. Da joll man nod) Sinn dafür haben, bei den Zeiten. Was, Herr Doktor, bewegte Zeiten . . . ſchlechte Zeiten... Schandgzeiten.. .” ‚Was er wohl antworten wird?‘ dachte Helene. ‚a Jagen . . . jelbitverjtändlich. Die Qualle hat grad nod) ben Mut, lid) ihre liberale Zeitung zu halten, weiter langt’s nidjt.' Ridtig... „Jawohl, Herr Nittmeifter, bewegte Zeiten.“ „Sc an dzeiten, fag’ id) Ihnen, Softor. Da haben wir’s: in ber Gdjluplibung bes Wbgeordnetenhaujes der Militäretat ab: gelebnt — das heißt, grad nod) zehn Ab⸗ geordnete haben dafür geftimmt!“ Helene intere|[terte die Politik gar nicht. Langweilte fie geradezu. Rnapp daß fie wußte, wie nun jchon zwei Jahre oder darüber der Streit um die Armee zwifchen Landtag und König fid) hinzog, dak fid) der Konflikt immer fchärfer und fchärfer zujpiste. Mterfwiirdig, wie fid) die Männer über folche Dinge ereifern konnten. Vater nun gar. SUtandjmal bebte feine gute alte Stimme förmlich vor Erregung, wenn er von den verfl — Demokraten jprad), bie alles bejjer willen wollten. Es wurde wieder ganz ftille. Plöglich fragte Vater: „Na, Doktor, was meint denn Ihr Blättchen? Das heißt — eigentlich gelüjtet es mid) nicht nad) der Weisheit.” „Es ijt wohl noch alles unentjchieden, Herr Rittmeifter.” Wie bas Glud Gluck in der Lampe fam esheraus. „Das Dinifterium wird wohl gehen miijjen.“ „So? Meinen Sie? Auf bas Mti- nifterium fommt’s übrigens [pottwenig an. Das heißt: in Preußen muß der König regieren. Punktum.“ Wieder las Vater. Die Zeitung fnijterte und fnijterte. Einmal [prad) Martha mit ihrer fanften Stimme: „Wilhelm fommt am Sonntag.“ (Fs flang fo viel Gliid aus dem Wort und frohe Erwartung. Wher es achtete niemand darauf, nur gerade bap bie Gungens auf: Ichauten. In denen war ja bod) die 9teu- gier: was bringt Papa uns mit? Mit einem Mtale jchlug Vater mit ber flachen Hand auf das Papier. Und feine Stimme bebte wieder. „Da haben wir’s. Hört mal. Hier, ganz verftedt, fteht es: ‚Der bisherige Gejandte am franzöſiſchen Hofe Herr von Bismard:Schönhaufen tjt geitern abend von des Königs Majeſtät zum Ctaatsminijter und interimiftifden Borfitenden des Staatsminijteriums er- nannt worden.‘ Das heißt aljo: Da haben wir den Dann bes fóniglid)en Vertrauens. Bismard:Schönhaufen . . . war der nicht Gefandter in Petersburg, Elifabeth?“ „5a, id) glaube . . . warte einmal... et hat eine Puttfamer zur Frau, Viartlum oder Jo hieß bas Gut. . .” »oo... fo! Was Du nicht immer alles weißt.“ „Ja . . . unb was [agen Sie nun eigent- lich dazu, Doktor?“ Ganz leije jtanb Helene auf. Das mußte fie fehen, was bie Qualle für ein Geſicht machen würde. Uber fie fam nicht auf ihre Rechnung. Der Hauslehrer ſchien aus allen Wolfen gefallen. Er jah aus feiner Zeitung bod, mit bimmelnden Augen: „WBerzeihung, Herr Rittmeijter, td) babe hier gerade eine Nezenlion gelejen.... . über etn paar neue Stüde im Wallnertheater. ‚Berplefft‘ von Herrin von Moſer . . . es jolf fehr amüjant gewejen fein.” „Herr von Mofer?” fagte Mama fofort. Dagwifden. „Das ift ein früherer Offizier. Bei den Gardeſchützen jtand er, den 9teu- datellern. Werjebt nicht alles ſchreibt!“ Vater [aD erjt den Doktor, dann Mutter an, [djüttefte den Kopf und lachte. Ladhte, .. daß die Stube dröhnte. 19 6929339999 Hanns von 3obelti$: „Na, wenn's wahr ijt und Sie haben gar nicht zugehört, Herr Doktor... bann ijs [con "ne furioje Geſchichte. Wozu halten Sie jid) denn jujtament das Blatt? Das heißt: wenn Cie fo wenig Snterelle für bie Politif haben? Kreuzdonner: wetter...” Da ging zum Blüd die Tür zum Gaal. Augujte fam herein, gludjte: „Es tjt an- gerichtet." Ein Duft nach gebratenem Sped umwehte ſie. Natürlich, es gab wie- der Spedbratfartoffeln und [aure Milch... wie an jedem Abend . . . jaure Milch mit Torf, badjte Helene und jab [djon im Geijte bie Schüffel vor fid), mit dem ge- tiebenen Cdywargbrot, bas fie „Torf“ nannten, /chiittelte fid) und hatte ben Herrn von Bismard: Schönhaufen vergejjen jamt ber ganzen Politik. 2. Rapitel. Im Kreije Ctellberg gab es faum ein wirkliches Schloß. Helene Hadentin hatte nicht unrecht: fie waren ja alle arm wie bie Kirchenmäufe, bte Golginer, die Steck: (den, bie Brunowichen; grad daß fie fid) burdjd)lugen auf dem fargen Boden. Graf Gruder, des Rittmeifters Schwager, hätte vielleicht bauen fonnen, [prad) wohl aud) feit Jahrzehnten davon, war aber zu be quem und war ein zuguter Wirt. Fleißig unb [parfam, wie faft alle im Kreije, nur nicht jo der Not gehorchend, mehr der Ge⸗ wohnbheit nad). Wud) bas Radower Herrenhaus war fein Schloß. Immerhin war’s ein ftatt- licher Bau, langgeftrectt, einjtódig, mit ein paar in das hohe Dach eingefügten Man: farden und einem neueren rüdwärtigen Flügel, ben Crnft Sjadentin angebaut hatte, als er bie hannöverſche Erbtochter beimführte. Daß fie nicht niedergerifjen und ganz neu gebaut, hatte oft Verwunderung er: regt. Einmal, als der alte Laftrop, ber Schwiegervater, das Zeitliche gejegnet, war's wohl aud) nahe daran gewejen. Der berühmte Landesbaurat Schinkel war in feinem lebtet Lebensjahr in Radow zu Gajte, unb Grnjt Hadentin jagte wohl bis: weilen: „a, wenn unfer großer Schinkel nicht Darüber hinweggeftorben wäre.“ Aber die Mittel hatten doch wohl nicht gereicht. Gie faßen ja in einer brillanten Aſſiette, die Rackower, hieß es; aber fie führten einen riefigen Train, reiten viel, gingen im Win: ier zu Hofe. Manchmal lachte man im Kreije darüber: Ifaaf Böhm aus Frank: furt oder gar der fleine Syafob Friedländer aus Zielenzig jollten plößlich neben an- deren illuftren Gajten in Radow gejehen worden fein. Nun — augenblidliche Ber: legenheiten fann [chließlich jeder haben. Dan weiß bas ja. Es ging aud) niemand etwas an, zumal die Radower kinderlos waren. Und dann: ein fo liebenswürdiges Haus, fo liebenswürdige Wirte wie fie gab es auf zwanzig Mteilen in ber Runde nid. Wennſchon die , Marquije” bisweilen febr berablajjend jein fonnte. War da jüngft ber 9[mtstat Weeje auf Neu-Bulerow no: bilittert worden, etn Mtann, mit dem ber ganze Adel bes Kreijes jeit Mtenjdenge- denfen als mit einem Standesgenoſſen verkehrt hatte. Was tut bie Marquiſe, als fie zum erjten Male wieder mit ihm zu: jammenfommt? Gie reicht ihm bie Hand zum Ruß: „Ic freue mich unjäglich, Herr von Weefe, Sie nun endlich ganz als einen ber Unjeren begrüßen zu fdnnen.” Du Iteber Himmel, der alte Mann hatte nad: her felber herzlich darüber geladjt. Böſe fein fonnte man ber PMtarquije ja nicht. Cie war fo herzensgut. Und Stil hatte fie bod) auch in ihrer Art. Gaftfrei war bas Radower Haus wie fein anderes im ganzen Rreije, und aud die Art der Bajtfreundfchaft hatte Stil. Hannönerfchen Stil — englijden Stil. Ein paar junge Mädchen, ein paar junge Herren waren meift zu Gajte in Rackow: Hausherr und Hausfrauliebten die Jugend. Die Mädchen logierten im Anbau, die Herren oben in den Manfarden, wo jedes der Heinen Zimmer jeinen originellen Namen hatte: ba gab es ein „Pompeji“, fo genannt nad) ber roten Tapete, ein ,, Hand: fud)", weil das Zimmer jehr jchmal und lang war, eine „Bärenhöhle”, weil hier jahrelang ein Veutnant von Bär während feines Sommerurlaubs gehaujt hatte, und eine ,2Bleifammer", jintemalen biejes Bimmer der lieben Sonne bejonders aus: gelebt war. Unten im Anbau waren bie Namen poetifcher: es gab den „Pfau“, die „Nachtigall“ unb das „Alpenröschen”; es gab jogar eine „Sehnjuchtstammer” als das lebte Zimmer der Reihe. BESSTESEHESESCHEHE SEIT SEEN Auf martiider Erde. BISSSZZZIZZIZZR 13 In der Sehnfuchtstammer wohnte dies- mal Helene Hadentin. Tante Mtarie hatte fie geholt. Unan- gemeldet, auf ihrem Selbſtkutſchierer mit den Ponys, war fie nad) NRohlbed ge fommen. Sjatte fid) bie liebe petite-niéce auf acht Tage ausgebeten: „Du fommit gleich mit mir, Mignonne. Pad’ Deine Giebenjaden. Bergiß auch ein helles Kleidchen nicht. Vielleicht macht es jich, daß wir ein Tänzchen riskieren.” Der alte Stittmeijter hatte ein wenig geffudyt. Mama barmte: „Du bijt recht graujam, Marie, uns bas Kind zu ent führen. Denkſt gar nicht an uns Alte!“ Aber die Marquife Jagte lachend: „Es ijt nur um bas Bewöhnen, liebe Elijabeth. Shr follt Euch daran gewöhnen, dak He- lene Euch früher oder jpäter, beſſer früher als |päter, ganz entführt wird. Geid feine Egoijten. Ihr habt ja Martha, Wilhelm ift jebt Hier — und dann habt Ihr die Enkel. Bönnt anderen aud) etwas.“ „Das heißt —" begann der Rittmeijter brummig. Aber er fam nidjt weiter. Bei der Radowerin fam man nie weiter, wenn fie fid) vorgenommen hatte, zu perfuadieren. Zudem: es war ein Axiom, daß die jungen Mädchen fid) in Radow bewegen lernten, fid) abichliffen, gleidjjam einen Blick in die große Welt taten. Dem wiber[trebten Eltern nur in den [eltenjten Fällen. Die aber, bie es zunächſt anging, ftand am unjchlüfligften. Immer war fie Ieiben- Ichaftlich gern in Radow gewejen. Nun ftand fie und ftanb, fteif und unbeholfen, und drehte an bem Schürzenzipfel wie ein Backfiſch. „Dielen Dank, liebe Tante...aber...“ Die Marquiſe lachte wieder. Ihr gol: biges Laden, bas das Gamingefidt fo jeltjam verjchönen fonnte: „Aber... aber! Ic habe nichts anzuziehen. Nicht wahr? Mignonne, Du haft Deine Jugend, haft Deine blanfen Augen. Mein Herz, was willit Du nod mehr! En avant... en avant... in einer Biertelftunde muß Dein Köfferchen gepadt fein.” Noch einen Mtoment jtanb Helene. Dann flog fie plöglih aus der Tür und bie Treppe hinauf. rau Marie hatte fid) in den großen Lehnſtuhl mit den mächtigen Ohrenwangen gejebt. Das zierliche Figürchen verjdwand fait in dem Ungeheuer, bie Rrinoline mußte fie gewaltjam zujammendrüden, unb babet baufchte jie fid) erit recht unförmlich auf. Gs jah etgentlicd) fomijd) aus. Wher bie Heine Perjönlichfeit beherrfchte bod) das ganze Zimmer. (ie hielt aud) hier Cercle und hatte für jeden eine liebenswürbdige Bemerkung. Der Rittmeifter befam eine Wnerfennung, wie artig feine Hunde feien; ber alten Gnddigen jagte fie ein heiteres Wort, wie Mignonne hübjcher würde von Tag zu Tag und daß fie ganz bie Augen ber Mtama hätte. Martha, die ihr eine Limonade bradjte, erhielt ein Lob für die vortrefflide Mifchung, bie Mtamjell in Rackow nie erzielte, und Wilhelm mußte über bie Fortjchritte feines Bahnprojektes berichten. Dabei wurde er immer Feuer und Flamme. Gein fchönes Geficht Ieud)- tete auf, er zwirbelte den fofetten Spibbart mit ben wohlgepflegten weißen ‘Fingern, unb immer hatte er die bejtimmtejte Zufage von Exzellenz Itenplig, bem Eifenbahn: minifter, hatte bie Konzeſſion [d)on „in ber Taſche“ ... grad dak nod) einige Heine Sedwierigfeiten zu überwinden waren. Er jtóbnte freilich auch immer: „Mein liebes 9tobIbed! Weib und Kind muß id) allein lajjen ... aber was foll mantun?!” Gin flein biſſel malitiös fonnte bie Marquije manchmal dod) fein: „Nun, Wilhelm — Berlin ijt aud) ganz nett,“ meinte fie und ficherte. Doch ba fie Mtartha, die fie be: jonbers gern hatte, nicht weh tun wollte, fügte fie gleich hinzu: „Leicht haft Du’s allerdings nicht in Berlin, ich weiß das, Wilhelm. Es ijt ja jebt ein großes Wett: rennen um die Bahnkonzeſſionen. Graf Redern erzählte uns davon. Wie heißt bod) der Mtann, der die erjte Geige |pielt? Richtig: Strousberg ... ein Jude... natürlih. Der joll ja bei ber Bahn, oben in Preußen, ein großes Vermögen madden. Wilhelm, Wilhelm . . . ich jeb' Dich [djon als Millionär! Nun: a tous seigneurs tous honneurs!“ Dann fam Helene herunter. Hinauf war fie geftürmt, ganz langjam ſchlich fie nun ins Zimmer, und es ffang eigen fleinlaut: „Ich bin fertig, Tante Marie.” — — Etwas Unjicheres, Sprunghaftes lag aud jebt nod) inihrem Wefen. Sie war in den beiden Tagen, die fie in Racow war, ihrer jelbjt nicht froh geworden. ^er A or ^ prc-———————— ÁO 14 ISEESESSEEEEEEEEA Hanns von Zobeltiß: Und es war doch fo fchön hier. Der Oktober meinte es diesmal be|onbers gut. Wenn der Amtmann Schmidthals, ber fett einem Menſchenalter Rackow verwaltete — Graf Gruder legte, fobald auf die Ver: waltung jeitens bes alten „Miſtikers“ bie Rede fam, den Akzent immer auf die er|te Silbe — wenn Schmidthals bei ber Ve- tanba voriiberfam und bie graue Kappe von dem grauen Haar 30g, |dymungelte er jedesmal: „So ahnen Sjerbjt haben wir nod) nie gehabt.“ Die Racdower waren Spätaufiteher. Onfel Ernft erhob fid) er[t gegen zehn Uhr: aus feinem Riefenbett, und Tante Marie wurde überhaupt er|t gegen Mittag jicht: bar. Bis zur Mittagftunde blieben bie Gäſte fid) felber überlafjfen. Dod) aud) fie famen in 9tadom bald ins [elige Faulengen hinein. Helene aber war von Hauje aus an frühes Aufitehen gewöhnt, denn ber alte Rittmeifter verlangte ihre Gegenwart bei feiner Mtorgenjuppe, die unweigerlich aus Brotjchnittchen mit Beipem Waller aufgebgüht bejtand. So war fie aud) hier jdjon gegen fieben Uhr am Frühftüdstijch auf der Veranda. Geftern Hatte fie den SHerrlichkeiten diefes Radower Frühftüdstiiches ganz allein gegenübergeje|]en: der großen fil- bernen Kaffeemaschine, dem filbernen Brot: töfter, ben vielen falten Platten. Allein mit Höhne, bem Leibdiener Onkel Ernits, ber gerdujdjlos jeines Amtes wartete, immer mit einer diskreten Gonnermiene, wie man fie armen Verwandten gegen: über hat. Heut erſchien, zu ihrer Überrajchung, faft gleichzeitig mit ihr der Neuchateller: Leutnant de Merivaux von den Garde Ichügen. In hohen Stiefeln, mit der Jagdjoppe; das frilche Geficht zartrofig, irob bes eben überjtandenen Manövers, ben Eleinen Schnurrbart lujtig aufgedreht. $ujtig war das ganze Kerlchen. Kerlchen — pardon — nein: der fchlanfe junge Herr. Aber Iujtig war er doch, mit feinen leuchtenden blauen Augen und dem gegen alle militärijche Vorſchrift fura geſchorenen Ihwarzen Haar, mit feinen rajchen Be- wegungen und dem leifen Radebreden in der Sprache, von dem man nie recht wußte: war es echt, war es ein wenig gemadt. „Bonjour, gnábiges Fräulein!“ rief er gleich unb [tredte ihr beide Hände ent- gegen. „Ein [o [d)óner Morgen, ein won: niger Morgen. Wie fann man nur fo lange liegen in den Federn, wenn die Sonne fo wunderjchön fcheint und Fräulein von 'adentin auf der Veranda fibt. D was find bas “ter für faule Menſchen.“ Dann faß er aud) fdon. „Mein lieber ’öhne, eine Taffe Mokka. Aber recht tart. Sp... und recht viel Mild. Dante! Mein gnädiges Fräulein, Cie [d)mieren mir ein Brot. Bitte, bitte. Wh... ter befommt man bod) richtiges weißes Brot... . Sem: mel... nicht immer pain bis. 3d) fann es nicht vertragen, dies ſchwarze Brot, ich 'ab ein fo fchwachen Magen.“ Wobei er fid eine Scheibe Cdjinfen auf den Teller legte, bie für zwei ftarfe Männer ausgereicht hätte. „Grand merci, gnä- biges Fräulein. Je vous en fais mes re- merciements! Noch ein Ei, mon cher 'öhne ... bitte jebr . . .” Mtan fonnte ihm nicht böfe fein. Eigent: lich wäre fie lieber allein geblieben wie geftern, für bieje einzig ruhige Stunde in dem gerdujd)pollen Racower Leben. Aber mit den Wölfen mußte man nun einmal heulen. | Er tranf feinen Kaffee in ganz Heinen Schlückchen, gerpfliidte Jein geliebtes pain blanc, ließ feine blauen Augen leuchten, erzählte von Berlin und von feiner Kajerne, ganz draußen, weit draußen, fajt bei Xrep: tow, „wo fid) die Füchſe gute Nacht jagen.” Und dann fragte er plóblid): „Warum 'aben Sie geftern nicht fingen wollen, gnä- biges Fräulein? Wo wir bod) alle jo fehr gebeten 'aben." „Ich war nicht disponiert, Herr von Mterivaux. “ „Ah! Das 'aben Sie gejtern auch ge: jagt. Aber es ijt bod) nidht wahr... .” „Bitte fehr, Herr von Mterivaux!” „Pardon, gnábiges Fräulein. Aber wenn eine Sängerin nicht bisponiett ijt, ’drt man es an ihrer Sprache. Sie find bod) nicht ’eifer. Werden Sie 'eut fingen?“ „Ich glaube faum.” „Ic "abe nicht vergejjen, wie Cie auf Sodolzig, bei Comte Bruder, fangen. Im vorigen Jahr, als wir dort im Quartier Tagen.“ „VerſtehenSie denn etwas vonGefang ?” „Si peu que rien! Leider. Aber id) 939 Soo 332933930399 23 3533 53 S2) ESSSSSSSSSTSITZl Auf märliider Erde. BSSTSSSSSS333I 15 liebe die Muſik über alles — unb bejonbers ’ab’ id) Sie gern fingen "ren." Helene mußte laden. Es fam zu fomijd) heraus, wie er bas fagte. Und dabei madjte er fo eigne Augen. Faſt verliebte Augen. Gut daß man wußte, man brauchte ihn nicht jeriós zu nehmen. „Etwa fo gern, wie Sie nad einem guten Diner eine Zigarre rauchen. Nicht wahr, Herr von Merivaux.“ „Ja! Ungefähr fo. Wh... eine gute Zigarre. Mon cher ’öhne... Sie wiffen gewiß, wo Herr Baron ‘at ftehen feine guten Zigarren. Gie jeben ganz aus, als ob Sie aud) rauchten gern eine gute Zigarre.” Er gab dem Diener einen Heinen freundfchaftlichen laps. „Alſo wie eine febr, jebr gute Zigarre, gnädiges Sraulein. Mais, mon dieu. . . Sie dürfen bas nicht übel nehmen.” „Ich denke gar nicht daran. Ich fühle mid) fogar jebr geehrt.“ Höhne hatte inzwijchen wirflid) eine Kifte Smporten gebradt. Merivaux zün- bete fich umftindlid eine Zigarre an, tat liebevoll ben erjten Zug. „Bei einer guten Zigarre fommen immer gute Gedanken. Bei Ihrem Gefang, gnübiges Fräulein, den?’ ich, fann man aud) nur 'aben gute Gedanfen. Als Sie in Sodolzig das Lied von der Baronin Rothichild gefungen haben — ‚si vous n'avez rien à me dire‘ — ab’ id) müſſen denfen an meine liebe Heimat, an unjere ſchönen Berge, an den blauen Gee... ja... und anmeine gute Maman...” - Er war aufgeltanden. Er blies jd)nell hintereinander ein paar funjtvolle Ringe und [adjte: Der er|te Ring hatte jid) zur Dede erhoben, war langjam gejunfen und lag nun, für einen Nugenblid, gleich einem Kranglein, juft um Helenens weißes Vor: genhäubchen. Merivaux lachte, fah auf jieherab, und jie wurde böje: „Was lachen Sie eigentlich, Herr von Merivaux! Über mich?“ Dafagte er: „Schade... nämlich fie tjt jebt fort. Ja fo, gnädiges Fräulein, Sie willen ja nichts davon. Ich hatte Ihnen eine Aurdole aufgelebt . .. aus Tabals: raud)...unb ba ijt ein Sonnenftrahl dazu gefommen. Wenn Sie wüßten, wie char: mant bas ausgejehen ’at!“ Ein wenig verwirrt war fie bod), ein wenig verlegen. „Was Sie immer für törichtes Zeug reden, Herr von Merivaux!“ „Sch? Aber nein dod)... Sind Sie fertig mit bem Dejeuner, gnábiges Fräu- lein. Wollen wir einwenig in den Garten ?” Sie war ſchon aufgejtanben und nidte. Langjam jd)ritten fie bie fleine Treppe hinunter. Frau Marie war eine Bartenkfünftlerin. Cie hatte eine Wüſtenei vorgefunden und ein feines Paradies gefchaffen. Vor dem Haufe lag ein großes Rofenparterre; kurz⸗ ge|dyorene, mannshohe Tarushaden ſchloſ⸗ jen es feitlid) ab; breite Einjchnitte, bie gewölbten grünen Toren glichen, führten in den eigentlichen Park, ber jid) weit Dingog und allmählih in Wiejen unb Waldpartien überging. Nichtjo ausgedehnt war bas (Pange, wie der Park von Mus: fau, ben der Graf Piidler angelegt hatte, aber einzelne Teile fonnten an Schönheit bod) mit dem Meilterwerf des alten Ge milaſſo wettetfern. Mean war ftolz im ganzen Kreije auf ben Park von Radow, unb. aud) Helene war es. (Cie führte Mterivaux von einem Yusblid zum andern; an dem ?Borfen- häuschen vorüber, in bem tm Hochjommer meijt der Kaffee genommen wurde, zum Ihilfumftandenen Teich; von bortaur Höhe, von ber man die fchönfte Ausficht auf das Dorf Radow hatte und darüber hinweg zu dem Hügelzuge, an bem Roblbe lag. „Da jeben Sie, Herr von Merivaux... ba bin id) zu Haufe... .” Indem fie bas fagte, fühlte fie: es war wirklich Schön. Der Sjerb|tgauber ruhte auf bem £anbjdjajtsbilbe; bie Sonne malte ihre farbigen Reflexe; bas Dörfchen unten mit dem hohen, altersgrauen Kirchturm war wie eingebettet in Grün, Rot und Gold; weite Felder dann, und dahinter der Höhenzug mit den feitgefchlofjenen dunklen Kieferforsten. Aufmerkſam [djaute ber junge Offizier in die Weite. Cine Weile fdwieg er. Aber dann begann er von feiner Heimat gufpredjen, von dem ewig blauen Gee, von ragenden Felſen, von ſchneegekrönten Häup⸗ tern. Er ſprach von den Weinhängen, auf denen jetzt die feurigen Trauben reiften, von der üppigen Vegetation am Geſtade des Neuchateller Sees mit den Wäldern von echten Kaſtanien, von den Magnolien ee eee Oe ES re eee — —— 16 BSSSSSSSesesss| Hanns von gobetib: E3Gcooooococoooog und Mandelbdumen im Garten von Schloß Merivaux. Cr fonnte aljo aud) einmal ernjt |prechen. Sieh einmalan! Ernft und ſchön. Sie mußte es zugeben. Aber es reigte fie. Sie, bie fid) immer in die Weite jehnte, lehnte jid) plößlich Dagegen auf, daß man ihr die Schönheit der Fremde rühmte, wo fie bie Schönheit ber eigenen Heimat ge: lobt wijjen wollte. „Warum jagen Cie mir bas alles?” fragte jie ſcharf dazwilchen. „Weil id) wohl möchte, daß Sie es fennen lernen, gnädiges Fräulein.” „So finden Sie es jdjóner. . . ſchöner als bei uns?“ Er lächelte überlegen. „Das hier ift wie eine Daje. Aber jonjt, mon dieu...nicht fo böfe Augen machen, bitte... ſonſt ijt die Mark Brandenburg ein armes Land.” „Barum find Sie denn hergefommen ?” „D... warum? Wie können Siefragen? Weil wir Royaliften find. Man 'at uns gefnechtet daheim, bie Demagogen 'aben geftegt. Wher wir... wir ‘alten treu zu unjerm Fürjten, zu unjerem König. Wir wollen ibm weiterdienen. Vive le roi!” Sie waren weiter gegangen, den breiten Weg zurüd. Jest blieb Merivaux plöt- lich ftehen. Er griff mit einer feiner hefti- gen Bewegungen in bie Fliederbiijde, Inidte ein paar Zweiglein. „Meinen Vater 'aben fie in prison geworfen, die Revo- lutiondre, als ber Aufſtand fam. Dann 'at uns Preugen in Stich gelafjen... Poli: tif... Bolitif... was weiß id. Aber wir bleiben treu... treu bis zum Tod. Ber: ftehen Sie bas, gnábiges Fräulein?“ Helene nidte. Sie fühlte: bas war jebt nicht mehr ber fletne [ujtige Seutnant, ber gu ihr [prad). Es war ein Mtann, ber einer Überzeugung diente. Sie begriff vielleicht nicht ganz. Wher fie empfand: ein Mann, der feine jchöne Heimat verläßt, die er über alles liebt, um in ber Fremde dem Sjerrjd)er mit Blut und Leben zu dienen, dem bie Vajallentreue gebührte! Alles um der Treue willen! Wieder gingen fie ein Stüd weiter, Ichweigend nun. Da fam ihnen bei ber Wegbiegung Herr Schwarz entgegen. Den ‚Rufen‘ nannte fie ihn immer nod) in Gebanfen. Im langen braunen Rod fam er, auf dem Kopf ein winziges Hütchen, in der Hand einen leichten Stod mit goldener Krüde, um ben hohen Hemdfragen ein geblümtes feidenes Cachenez. Helene ſah ihn, und das Blut ſtieg ihr in die Wangen. Immer war es fo, wenn fie ihm begeg- nete. Immer, fie mochte nod) jo jehr wider: [tteben. | Nun wußte fieja, wererwar. Ruſſiſcher Hofopernjänger war er, und die Radlower batten ihn in Ems fennen gelernt. Bor acht Tagen war er ihr vorgejtellt worden, auf dem Stellberger Serbftjahrmarft, in ber Eleinen bunjtigen Hinterftube ber Apo⸗ thefe, in der bie Gutsbejiber bei einem Glaje Wein fannegieperten. Onfel Bruder war ba gewejen und Bruder rif und Doktor Tiburtius — es hatte zwiſchen Vater und Fri wieder einmal einen politijden Krad) gegeben — unb dann war pliplid der Radower mit feinem Gaft gelommen, mit Herrn Schwarz ... dem rujfijden Hofopernjänger... Damals, als er neben ihr [aB und mit — feiner weichen, heißen Stimme auf [ie ein- ſprach, war ihr das Blut in bie Wangen gejagt. Und immer feitdem... aud) jest... : Und es trobte in ihr auf: id) will nichts von ihm willen, id) will nicht — will nicht! Und fie ftraffte lich, lebte thre hochmütigſte Miene auf. Herr Schwarz ignorierte beides: bie fühle Bleichgültigkeit in dem [d)ónen Mäd- djengelid)t und Abwehr und VBerdruß in ben Zügen des jungen Offigiers. Der hatte ich Schnell eine Gerte aus bem Buſch gebrochen unb fchwippte damit burd) die Luft. Vollſtändig ignorierte Herr Schwarz ben Neuchateller,; grad nur bie notwendigite Höflichkeit lag in fetnem Gruß, er wandte fid) ausjchlieglich an Helene. | „Darf id) mid) nad) Ihrem Befinden er- funbigen? Wher was frage ich! Sd) bin ja nicht mit Blindheit gejchlagen.” „Fragen Cie bod) lieber. Oder foll id) Ihnen fagen: Fräulein von Hadentin at mir grad eben gejagt, daß fie [tod"eijer ijt. Stod’eijer, Monfieur Schwarz —“ Der Sänger ladte. „Als id) vor einer Stunde etwa mein Fenjter öffnete, hörte ich ein paar halblaute Töne, eine Kadenz nur... unter mir mußte man aud) das Fenſter aufgetan haben — nun furz und gut, id) wußte fofort, dak dieje Stimme öESSSOOCCGCOCCOEA Auf märliiher Erde. RRBBRBBRBS&BGGSAASA 17 mur die von Fraulein von Sjadentin fein fonnte. Ich wußte, Deut ijt das gnädige Fräulein nicht mehr indisponiert, heut wird [ie fingen.“ „Sie wird nicht [ingen —“ jagte Helene unb [ebte den Kopf noch gerader auf den 9taden. - Er nahm feinen Stock zwijchen beide Hände vor die Bruft, dab die goldene Krücke unter bas Rinn zu liegen fam, lächelte wieder überlegen und fajt ein wenig iro- nijd): „Ste wird bod) fingen, wenn der Kollege fehr bittet.“ - „Der Kollege? Welcher Kollege, Herr Schwarz?“ „Nur meine Wenigfeit, gnädiges Fräu⸗ lein. Sie müſſen das Wort ſchon mit in Kauf nehmen: wir huldigen ja derſelben Kunſt, ber göttlichen...” Plötzlich brad) et ab. „Iſt das nicht ein wonniger Oftober: morgen? So warm, wie im Hochſommer.“ Merivaux machte eine Bewegung mit . bem Zeigefinger um den Hals: „Aber Sie 'aben bod) bas Gadjeneg um. die Kehle gepummelt.” „Vorſicht ijt zu allen guten Dingen niige. Dieje ‚Rehle‘ hier aber ijt ein gut Ding. - Nicht für mid) nur, jonbern für bie Welt, in ber man ben bel canto zu ſchätzen weiß.“ Sie waren weiter gegangen und [tanben . vot dem Heinen djinejijd)en Pavillon, der ‚die Fernficht nad) ber anderen Seite bot: nicht auf Roblbed, fondern nad) Stellberg bin. Saft das gleiche Bild, nur dag das Dorf im Vordergrunde fehlte Und da fagte Schwarz: „Wie jd)ón bod) diefe Mark Brandenburg ijt. Sch hätte es nie für mög- lich gehalten. Mtan hat mir fo viel erzählt von ihrem öden Sande, bap ich in eine Wüſte zu fommen fürchtete. Aber nun fann id) mich gar nicht jatt jeben an btefen weiten SBliden auf ben geraden ſchlichten Vinien ber Landſchaft. Ich fenne bod) ein großes Stüd Welt, fenne romantijdje, äußerlich reigvollere Gegenden. Sogepadt aber hat’s mid) jelten wie bier. Wie das alles zu: jammenjtimmt: Landjdaft unb Dtenfchen. Alles fo offen, fo einfach, ohne Kompliziert⸗ beit, immer zum Herzen |prechend. Cpre- hend? Nein, Hingend, tönend. Man muß es lieben, beides, Yand und Leute.” Helene ſchwieg, trobbem er zu ihr fprad. Nur zu thr. Sie wollte nidt antworten. Aber hindern fonnte fie bod) nicht, dak fid) die Worte wieder in ihre Seele ſchmeichel⸗ ten: bie Worte und ber Klang Ddiefer Stimme. „Sit bod) ein armjelig Land!” jagte Merivaux dagwijden. Wie aus Trot heraus. „Wie Sie bas nur behaupten fónnen! Gs gibt gewiß Gegenden, die auf bas äußere Auge jtärfer einwirken. Die Mark iprid)t, für mich, zur Geele. Und nun die Menjden! Merkwiirdige Wlenfchen. Schlendere ich geitern abend burd) das Dorf, ganz allein. An einem Zaun [tebt ein alter Bauer, ich fang’ ein Geſpräch an. Wortfarg gibt er Rede und Antwort. Und dann hat er — ich ſprach vom Wetter — fajt genau Hamlets Wort: ‚es gibt mehr Dinge gwijden Himmel und Erde .. .'^ Merivaux [chlug fid) wieder mit der Gerte auf ben Stiefelfchaft, daß es Hatfchte: „Da 'aben Sie dazu gedichtert,. Monfieur Schwarz. Ginfad) ineingedichtert. Bauer bleibt Bauer.“ Der Sänger zog die Achſeln hoch und ſah zu Helene hinüber, als erwartete er eine Parteinahme für ſich. Aber die blieb aus. Ihre Gedanken waren eine andere Straße gezogen. In ihr klangen noch ſeine Worte über das Landſchaftsbild. Zuerſt hatte ſie ſich darüber gefreut, gerade weil ſie im Gegenſatz zu Merivaux' Urteil ſtanden. Nun ſchienen ſie ihr doch phraſenhaft, ein wenig gekünſtelt. Was hatte der Neucha⸗ teller eben gemeint? Hineingedichtert ... Da jagte Schwarz, und jie horchte wieder auf feine weiche, einjchmeichelnde Stimme: „Wir wollen nicht ftreiten. Der Morgen ift wirklich zu Schön dazu... Kommen wir nicht auf diefem Wege zur Sojanerie, gná: biges Fräulein?“ Cie nidte, unb [ie ginger weiter. Erit gu breten, bann blieb Mterivaux ein paar Schritte guriid. Einmal [af fie fid) nad) ibm um; flüchtig, eigentlich nur aus Höflichkeit, als Verwandte des Haufes, bejjen Gaſt aud) er war. Aber er ftand an den Büfchen, hatte die Zweige auseinander gebogen, [pähte vielleicht nad) einem Vogel: nejt. Das mochte ihn mehr intereffieren als alles, was ber Ruſſe erzählte. Der hatte (dne wieder den Tibergang gefunden vom mürfijd)en Bauern zur großen Welt. Aus der Enge in die Weite, jchien es ihr. Gr |prad) von Petersburg, von Paris, von Belhagen & Rlafings Monatshefte. XXIV. Jahrg. 1909/1910. II. Bo. 2 ee es GEBE «ieee es Ge — "EM ee + eee: 4 18 ESSSSFSSFRIHFEHIHI Hanns von Zobeltig: Wien, vom gefelligen Leben, vom Theater. Es war ihr [o fremd, es war ihr fo neu — fajt alles, was er fagte. Man mochte wollen oder nicht: man mußte Iaujdjen. Auch dem, was er über fid) einfließen ließ: von dem unwiderjtehlichen Drang, der ihn, den Sohn eines rheiniichen Bergwerf: bireftors, zur Kunft getrieben hätte; wie er [djon auf bem Gymnafium durch [eine Stimme Wuffehen erregt, weldje Kämpfe er zu durchringen gehabt, wie Dann bas Olid über ihn gefommen wäre. Und nun jet er auf der — — „Auf der Höhe... befriedigt.. Gs flang fo weich, es fang jo ſchmerz⸗ lich: nimmer befriedigt.. Ein Beftändnis war es. Gs ſchlug eine Gaite in ihrer eigenen Seele an. Sie mußte fragen: „Nimmer befriedigt? Sie? Und warum?” Ganz zögernd nur, er fam das lebte Wort. „ISa...warum? Wer fann bas eigent lich Jagen? Da ilt der heiße Wunfch, immer Retferes, immer Vollfommeneres zu leijten, das große Streben, das den Künitler bis zum lebten Atemzuge nicht verlaflen darf. Und daneben jtebt bie unendliche leere. ..." Cs zwangfie, ihn anzufehen. Faſt ſchien es, als glängten feine Augen feucht. Ä . Sie fchüttelte zaghaft den Kopf. „Die Leere?“ „So ii es, mein gnädiges Fräulein. Streben unb :Beifallsiohn ..... : wunder: bar jdjón find fie, begaubernd, be- rau|djenb. Wher ber Raufch verfliegt, der Bauber erlijcht. Cs bleibt nur der graue Alltag, in ben feine Sonne hineinleuchtet. Manchmal glaubt man [reilid), einen freundlichen Sonnenjtrahl fefthalten ‚zu fönnen...aber...” Er brach ab. Schweigend gingen fie noch. ein paar Schritte weiter, blieben dann ftehen. He: lene war's, als [todte ihr der Atem. Da fragte er: „Werden Sie heut fingen...“ 5 Cie neigte ben Kopf, ohne ein Wort. Wher es war bod) eine Bejahung. - «Und dann war mit einem Male Meri: vaux neben ihnen und nod) ein. anderer, den et unterwegs aufgelejen haben mußte. Merivaux hatte wieder ein fröhliches .. und bod) ni nimmer Laden, das ihr geradezu weh tat in diefent Augenblid. „Alfo, SDtonjteur, aljo "ier 'ab' ich einen ganz Sachverſtändigen. Alfo, Monſieur Smit’als, aljo was ‘alten Gite von bem märlifchen Bauer?” Worauf der ftämmige Alte aud) [adjenb fagte: „Unje Bauern? Berflurhtigte Safar: menter jind’s, Herr Veutnant.” a8 8B 88 Helene war unter ben Fröhlichen jebr ſtill gewejen. Man war bet Tifch immer fröhlich in Radow. Die Tafelftunde hatte hier ihre befondere Weihe. Onfel Ernft war ein Schlemmer. Er nannte jid) einen Gourmet, aber er war beides: Gourmet und (our: mand; er ab moglidjt erlefen und aß — wie ein Cdjeunenbrejd)er. Wenn er am eigenen Tijd vor feinem berühmten ovalen Ausſchnitt präfidierte, in ben fein Bäuchel: den gerad hineinpaßte, gldngte jein Geficht vor Behagen und Wonne. „Nun, Marie: den, was gibt's denn heut?” fragte er dann nod) vor der Suppe, obwohl er das Menü [d)on vorher mit Mtonjieur 3Bom- bourdan, bem Chef, eingehend erwogen hatte. Und Tante Marie, bie felber af wie ein Piepmaß, . aber nod) eine weit feinere Zunge hatte als ber Radower, lächelte gnábig. „Du wirft [don zufrieden fein.” Dann jab Onfel rnit regelmäßig unter feinem Monofel „um die Ede”, mujterte der Reihe nad) jeine Bäfte und freutp-fich, wenn er aud) bei ihnen einiges Berftändnis erhoffen fonnte. Heut mochte bas angehen. Die Rohl⸗ becker waren heraufgekommen. Die Rohl: beder Damen — mit denen war zwar in bezug auf kulinariſche Genüjje nicht viel anzufangen; ber alte Rittmeijter würdigte eigentlid) nur eine Delikatejje, im Jumi den Matjeshering, von bem er [id) regel- mäßig einmal im Jahr ein fleines Tonn- den aus Hamburg fommen ließ. Aber Wilhelm Hadentin hatte fid) in Berlin neuerdings zu einem ffeinen Schleder aus: gebildet, ber eine Doljteini|dje Aujter von einer Native mit gejchlofjenen Augen gu unter[d)eiben wußte. Der Iujtige Dlerinaux fannte fid) aud) aus; franzöfifches Blut! Neulich Hatte er davon gefproden, baf man SHammelkoteletten eigentlich, nur in einer Pfanne brasgy.,jollte, bie mit einer Zwiebel ‚ganz, ganz leicht ausge|trid)en poeoeseeoebsecsg Auf martifeher Erde. wäre —, grad nur ein 'auch. Nicht übel. Und Alfred Schwarz war geradezu ein Mann nad) Onkel Ernfts Herzen. Das Bürfchlein hatte ſchon in Ems eine Zunge bewiejen, bie der Nachbarſchaft feiner be: rübmten Stimmbänder nichts nachgab. Eine Bordeauxzunge, die Lage und Jahr: gang geradezu erjtaunlich zu beurteilen wußte, im Handumdrehen, und bie aud) beim Champagner nicht verjagte. Man war wie immer febr fröhlich am Rackower Tijd. Nicht laut indeffen. Selbit bie Deiterjten Scherzworte flogen im ge- dämpften Ton herüber und hinüber. Gerad daß die fleine mollig runde Grete Wal: degg, bie Tochter vom Stodfden Oberſt⸗ leutnant, manchmal aufficherte, wenn ihr Tifchherr, ber rote Fri Sjadentin, ein bifjel gu ſchäkern verfuchte. Helene war unter ben Fröhlichen febr ſtill. Merivaux hatte fie geführt und gab ſich e umſonſt redlichſte Mühe, ein Lächeln auf dem heut jo eigen ernſten Geſicht herauf: zuloden. Auf ihrer anderen Geite jaß ihr Bruder Wilhelm. Der wußte, [o geſprächig er war, auch nichts mit ihr anzufangen. Cie jaß mit gejenften Augen und berührte die Speifen faum. Nur ein Glas roten Champagners — Spezialität bes Rackower Kellers, Marke Ruinart & Co. in Reims — trant fie hajftig leer. Shr gegenüber hatte, awijdjen Martha Sjadentin und Tante Marie, der Rufle feinen Plak. Manchmal, auf den Bruch: teil einer Sefunde, jab Helene zu tm Kin: über. Wie unter einem Zwang. Go leb: haft er jid) unterhielt: jedesmal trafen fid) ihre Blicde. Und immer fenfte Helene, er: Ichroden, die Augen wieder auf ben Teller. Der Kaffee wurde im Damaſt-Salon genommen. Nicht um den großen runden Tisch, wie in9tobIbed und inden anderen (Gutsbáujern; wo der Nachmittagstaffee mit ‚Stippe‘ eine bejondere Rolle [pielte. Frau Marie wußte in ihrem roten Salon bie Güjte unaufdringlich in einzelne Grup: pen zu gliedern, Altersklaffen und Inter: eſſenſphären gejdjidt zuſammenzuſchieben. Ihr Salon hatte Stil. Un den damaſt⸗ befpannten MWänden ein paar gute Bilder, ein Aquarell von Hildebrand‘ mit "aller Farbenpracht der · Tropen; ein trefflides Porträt von Franz Krüger, das Onkel ESSSSGSGG88 19 Ernſt noch in ſeiner Jugend Maienblüte, als ſchlanken Jüngling darſtellte; ein großer Stich nach Guido Reni. Zwiſchen den Möbeln, wo es irgend anging, Blattpflan⸗ zen und blühende Blumen, die der Bärt- ner täglich erneuern mußte, und als be: Jondere Spezialität neben dem Ramin eine große Boliere, Hinter deren vergoldeten Ctüben ein Dugend winzig Heiner Tropen- vögel das furge Leben verträumte. Das kurze Leben: denn bieje bunten Kinder einer jiidlidjeren Sonne ftarben dahin wie bie liegen, trot der liebevollen Pflege, und der Berliner Händler mußte alle paar Woden Nachichub ſenden. War Tante Mtarie aber bejonbers in Stimmung, fo öffnete jie bte Tür der Voliere, lockte die Tierchen heraus, bis fie frei im Salon um: | Derflatterten. Es gab bann immer lautes Jubeln. Nur dem alten Rittmeifter war’s ein Greuel. Er huldigte Frau Marie mit einem Reſpekt, in bem fic) djevalerestes Weſen und derbes Landjunfertum mijdten. Wher ihre Behandlung ber Tropenfremd- linge nannte er, dem jonjt jede Humani: tätsdufelei weltenfern lag, Tierquälerei. Unter dem Stich nad) Guido Reni jtanb der Bechiteinflügel in gldjernen Unterfiigen auf bem bunfelroten Teppid). Helene und diemollig runde Grete Wal: deggwaren von der Hausfrau an dem Tijd: den bejchäftigt worden, auf dem die filberne Kaffeemafchine mit all ihrem Zubehör prunfte. Das war in Radow immer bas Amt der jungen Mädchen: fie hatten ben Mofta zu bereiten, Herrn Höhne zu afli: ftieren, den älteren Damen perjönlich bas Meißener Schälchen mit einem artigen Snids zu überreichen. Tante Marie [af dem gern zu, durch bie fcharfen Gläſer ihrer langjtieligen Xorgnette, und mand): mal gab’s nachher eine Kleine Inftruftions- ftunde: ‚Cherie, jo faßt man aber eine Taffe nicht an‘... ,Mignonne, vor einer Greiſin fónntejt Du Dich wirklich ein wenig tiefer beugen‘...,Mein liebes Kind, man madt bei folder Gelegenheit fein air moussade . liebenswürdig lächeln mußt Du. She eigenes fleines Bamingeficht hen. ja meiſt auch ſolch ein liebenswürdiges, tomplifantes Lächeln. Auch jetzt, wo fie, nachdem der Kaffee genommen war, einen" Blick der Aufforderung zu Herrn Schwarz hinüberſandte. Der ſtand an der Tür zur 2* 20 ESSSS9S59S5952-2]49 Hanns von Zobeltis: Bibliothek, ber einzige Baft in rad und weißer Batiftbinde, mit ein paar Orden im Rnopflod, bas Tähchen nod) in der Hand. Ziemlic) vereinfamt. Wher er zeigte es nicht, daß er fich vereinfamt fühlte. Seine Blicde waren all die Seit im Zimmer umbergemanbert, um immer wieder auf Sjelenens roftbraunem Haar, das in Dun- dert winzigen Löckchen ſich gegen den glat- ten Scheitel fträubte, haften zu bleiben. (fr verftand den Blick ber Hausherrin Jofort. Vielleicht hatte er darauf gewartet. Ganz leicht verbeugte er fid), jebte bie Schale beijeite, ging auf den Flügel zu, öffnete bie Klaviatur. Höhne eilte dienft- eifrig herbei, [dob den Stuhl zuredit. Helene hatte jid) mit Molly und Bruder Fritz ins Sdmollwinfeldjen neben der Boliere geflüchtet. Gang tief zurüdgelehnt laß fie, hatte die Hände im Schoß ver- ſchränkt. Und um ihre roten Lippen ſpielte ein etwas ſpöttiſcher Zug. Sie fand, daß der Ruſſe keine gute Figur machte. Es war immer wie eine Poſe: ſein Stehen an der Tür, ſein gleitendes Schreiten, die Art, wie er jetzt am Flügel Platz nahm, einen Moment nachzuſinnen ſchien. Eine kleine Schadenfreude war in ihr und doch auch eine große Erwartung. Sie hatte ihn ja noch nicht gehört. Doch nun klangen die Töne auf. Schwarz ſchlug ein paar Akkorde an, bann lebte er ein. Gr fang die große Arie aus Zar und Bimmermann: „Einjt [pielt' id) mit Zepter und Krone und Stern...” Es wurde jtill im Raum. Der |pöttelnde Zug erlojd) in Helenens Geſicht. Es jpannte fid). Sie richtete jid) auf, und dann beugte fid) ihr ſchlanker Körper mehr und mehr nad) vorn. Und die Hände hoben fid) aus dem Schoß, pref: ten fid) gegen die Bruft, eng verjchlungen. . @roger Gott... war das denn möglich? (Sab esdas? Gold) eine Stimme! Golden Wohlklang, [olde Kraft... und foldhe Kunft! Eine Himmelsgabe, köſtlich und wunderbar, gemeijtert in edelfter Schule! Ein Vortrag, ber aus tiefjtem Empfinden fam, ber zu dem Herzen fprad, daß [te jubeln mußte. Nein, nicht jubeln: ftumm laujden, ftumm genießen, in Demut ge: nteßen! : Gleidy Perlen auf Goldſchnur gereiht, fo war es. Ton auf Ton. Klar, rein... erbaben . . . groß... herrlich! Sie dachte nur: dererftewahrhafte Künft: ler, ven Du hörſt. Welch eine Gnade... Der lebte Ton verflang. Der Beifall brad) los. Cie hörte ihn faum. (ie fal) nicht, wie Bater klatſchte, wie jelbit die jtille Mtartha die Hände riihrte. Sab nidjt, wie Ernit Sjadentin fein Bäuchlein trommelte; nicht, wie ber Gardefdiike, ber neben Wilhelm hinter dem Stuhl der Mutter ftand, erjt die Hände hob, um fie dann gleich ſinken au fajfen. Gab aud) nicht, wie Tante Marie quer durch den Salon jdjwebte, trippelnb, rafchelnd und lächelnd, am Flügel fteben blieb, bem Sänger zuflüjterte. Tief in Träumen befangen faß Helene. In Träumen, die vor ihr die Pforten einer neuen Welt weit, weit auftaten.. Dann hordhte fie bod) auf, eiſchreckt zu⸗ erſt. Von neuem hob es an. Sie fühlte fo: gleich, daß eine andere Hand den Flügel meijterte. Als fie den Blid hob, jab fie, dak Tante Marie vor dem Inftrument jap, daß ber Ruſſe neben ihr ftand. Die „Lebte 9toje" ſang er. $8ebte 910je ... 0 wie einjam magft du hier verblühn ... Deine freundlichen Schweftern find ja Iángit, ja lángit dahin... Gs war anders als vorhin, vielleicht war es nod) fchöner. Seine Ctimme Hang gleich kräftig, aber weicher, einjchmeicheln: ‘per. Wie ein ewiges €oden war es, ein jüpes Bitten, Flehen, Werben... Wieder faß fie weit vornübergebeugt, die Hände gegen ble hochatmende Brujt gepreßt. Und nun die Augen auf ihn ge: richtet. Sie Jah nur fein Profil, die Scharf gejchnittenen Linien des fchönen Belichts. Bleich einer Silhouette hob es fid) ab von dem Hintergrund der roten Damaſttapete, hell beleuchtet von den vielen Kerzen bes Kronleuchters. Die feine Geftalt von Tante Marie war nur wie ein helles Fleckchen vor dem Flügel. Über ihr Köpfchen blidte er hinweg auf bie Jtotenblütter. Zwei⸗, dreimal griff jeine Hand nad) vorn, um jie zu wenden. Dann plößlich, ganz aulebt, wandte er den Kopf. Sein Blid ftreifte durch ben SSS 363 3] | SSSSSssSsSssssssesessssy Auf martijder Erde. RBBBBREASSSSSGA 21 Raum, wiefuchend; blieb auf Helene haften. Ein Lächeln fam zu ihr hinüber: war's recht fo? Ein fiegesgewilles Lächeln: nicht wahr...es ift [don gewefen! Mod) eine glänzende Perlenfette von Tönen, jieghaft wie jenes Lächeln, mühelos quellend wie im Triumph des großen Könnens. Und er [djwieg. Wieder ber ftarfe Beifall. Ganz leicht neigte er den Kopf zum Danf. Bater, Wilhelm waren jchon neben ihm, [chüttel- ten ibm die Hand, Onkel Ernft hob fich aus jetnem Sorgenftuhl Tante Marie hatte fid) umgewendet, lachte zu ihm in die Höhe. Aber plößlich löſte er td) aus der Plau⸗ dergruppe. Mit vajd)en Schritten ging er quer burd) das Zimmer, blieb vor Helene jtehen und bat, ehe jte noch recht zur Be- finnung fommen fonnte: „Seht werben Sie fingen, gnädiges Fraulein!” Bat — und es war bod) fajt wie ein Befehl. Cie |d)raf gujammen, aber fie jtanb auf. Schüttelte den Kopf, hob die Hände zur Abwehr. So jtarf war fie erjd)roden, daß fie nicht Sprechen fonnte. Nicht ein- mal das Eine. „Jetzt — nimmermehr.‘ „Darfich Sie gum Flügel führen?” hörte jie feine Stimme. Und zugleich neben [id) ein leijes, etwas jpöttijches Kichern ber molligen rundlichen Molly. Es Hang ihr aud) wie: Jetzt fingen... wie follte Sene das risfieren.‘ Wher es peitjchte ihren Troß auf. Sie legte mit einem plöglichen Entſchluß ihre Hand in feinen Arm, ging ein paar Schritte, blieb Dann wieder fteben: „Ich fann jebt nicht fingen... , nad) Ihnen!“ „Bnädiges Fräulein... Sie ftanden mitten im —— gerade unter dem Kronleuchter und nun nicht mehr allein. Tante Marie war herangetreten: „Aber, Mignonne!“ Vater fam und er: klärte im Rittmeiſterton: „Zier' Dich nicht. Das iſt ridicül. Das heißt: ſing, ſo gut Du kannſt. Mehr verlangt keiner.“ ‚Ic kann nicht —‘ wollte fie nod) ein: mal jagen. Uber fie fühlte jid) unmiber- ftehlich weitergezogen, jtand ſchon am Flügel und wußte gar nicht, wie jie dort hingefommen war. „Bas werben Sie uns fingen ?^ fragte Schwarz. Und zum dritten Dale wollte jie entgegnen: ‚Gar nicht fingen will id‘, und hatte doch ſchon die Hand nad) bem Notenſchränkchen ausgejtredt. Er griff gleichzeitig zu. Die Blätter rafchelten. Auf einen Augenblid berührte feine Stirn fajt ihre Wange. Wieder jchraf fie gu- Jammen, jchüttelte ben Kopf. Wortlos... ‚Warum quälen mid) alle!‘ [rie es in ihr. Ich fann ja 20 gar — Kann ja nicht ingen ... bier nidt... heut nicht . A tenbelelobm liegt Shnen gewiß, gnä⸗ Diges ordulein 2" Er hatte ein Blatt herausgejucht, wies es ihr bin. Und in heller Verzweiflung neigte fie den Kopf. „Soll id) begleiten?" Endlich fand fie bie Sprache wieder: „Kein — nein! Ich begleite mid) immer jelber..."' Der Gedanke, hinter ihm zu jteher, ihm folgen zu müljen, war ihr un: erträglich. Dann war plóblid) Bruder Wilhelm neben ihr. Ste mochte ihm leid tun. Er ratinte ihr ein paar liebe Worte zu — Und nun faß fie, Hatte die Hände auf den Lajten, jah auf bas Notenblatt und meinte, feinen Singer rühren, feinen Ton herausbringen zu fönnen. Die Stimme itidte ihr ja im Halfe, die Kehle war fo troden, war wie zugefchnürt. Weinen hätte jie mögen. Aber mit einem Male, ganz jab, war bas alles anders. Mit einem Mtale fam es wie eine große Befreiung über fie. Uner: klärlich, wie bas geſchah. Ganz plóblid) hatte jie das Empfinden: ‚Du mußt fingen! Du wirft es gut machen, wirft ihm bewei⸗ jen, daß Du feine elende Stümperin bijt. Dak aud) Dir Gott die Babe verlieh...‘ 9tod) jab fie wie durd einen Tränen: Ichleier die Noten. Aber gleich darauf ward es helle vor ihr. Das leije, unfichere Beben ber Ginger, verjchwand. Ste fühlte, wie die Stimme frei wurde... ganz frei — Und [o jang fie: Wie ift Natur fo hold, fo gut! Das Goetheſche Lied hatte er für Jie ge: wählt. Mährend fie fang, wurde fie froh. Das war ja fajt immer fo; aber heut dod) anders als [onjt; eine wahre Luft hinausgujubeln, he in ihr. Auf der Welle blinken Taujend jdjmebenbe Sterne, Weide Nebel trinken Rings bie türmenbe GFerne.. ee A Lu —————————————————— ee — »^ e MN as 22 PRSSSSsssssed Hanns von Zobeltis: IBEGGGOGGGGGGGGOGOS (fs war wie ein Rauſch. Cin holder, bejeligenber, traumhafter Rauſch. Cie fühlte, daß es ihr glüdte, daß fie gut fang, bejjer als je. Aber fie gab, was fie gab, völlig unbewußt. Die Töne quollen inihr empor, ohne daß fte juchte. Und nun war allesaus. Mit dem febten Ton entſchwanden ihr Wille und Kraft, bie Begeifterung erlojd), bie Spannung ber Geele ließ nad). Müd unb matt wie ein Bögeldhen, bas aus Wollenhöhen qu Boden ge[d)mettert wurde, Dodte fie vor bem Sn: firument, bie Hände waren von ben Taften gejunfen und lagen im Schoß. Sie hörte nur unbeutfid) den Beifall, badjte nur: Wdh...es war ja bod) nichts, Du fannit ja gar nichts; unb wenn fie flatiden... was verftehen fie!‘ Ein Schluchzen ftieg auf in ihr. Sie biß bie Zähne aufeinander, preßte die Lippen zufammen; tief hexab glitt ihr - Kopf, und bie Stirne [d)merate. Mehr follte fie fingen. Die Stimmen ſchwirrten durcheinander. Mtanbat, machte Borfchläge: eines ber Taubertiden Kinder: lieder, bas Rothjdildliedden: Si vous n'avez rien à me dire... Nein! Nein! Nein! Dann ftand fie jah auf. Mit einem plöb- lichen Entfchluß: Syebt willft Du bas lebte willen...jein Urteil...und wenn es bein Todesurteil wäre...‘ Cie wandte [id) furzum. Gr [tanb nicht in ber Gruppe der Berwandten am Inftru- mente. Gr war zurücfgetreten, lehnte wie vorhin, ehe er gejungen, an der Tür zur Bibliothef. Sie jah ihn und jab, daß feine Augen zu ihr herüberleuchteten. Und nun fam er, fabte ihre beiden Hände, unbefüm: mert um alle, die um fie waren, und ſprach: „Sie werden eine große Sängerin werden! Eine von den ganz Großen, vor denen fid) Könige und Fürften. neigen. Ich preife mid) gliidlid), daß id) als Erjter Ihnen bas jagen darf.” 8. Rapitel. Kantor Flehr [hob mit gefenttem Haupt [angjam über bie Dorfaue. Man fonnte es ihm anjehen, daß er Sorgen hatte, die ganze Hude voll, unb das, troßdem Rar: toffelferien waren und die liebe Jugend thm daher den Schädel nicht heiß madjte. Sorgen hatte Kantor Flehr zwar eigent- lid) immer. (Yin Dorffidulmeijterlein im Königreid) Preußen und feine Sorgen: bas gab’s einfach nicht. Recht machen fonnte man es aud) niemand: dem Herrn Patron nicht; bem Paſtor nicht, obwohl beide nod) nicht bie Schlimmiten waren, im Gegenteil. Den Bauern und Kätnern, dem lumpig: [tet Tagelöhner erjt recht nicht. Und deren Chegefponjten nun [chon gar nicht. Denn im Grunde genommen: den Weibern wär's am liebjten gewefen, wenn jie ihre Rangen gar nicht in bie Schule zu [djiden brauchten, oder wenn er den Nürnberger Trichter be- fäße,um Bub und Mädchen in einem win: gigen Biertelftündchen alles einzutrichtern, was fie fürs Leben brauchten. “Damit bes fagte Rangen ben bejagten Eltern in Geld unb Wirtfchaft helfen könnten, von früh bis fpdt. Bon der Bildung hielt bas Bolt verflucht wenig. Wher man felber hatte doch nun mal fein Pflichtgefühl und feine Ideale. Hatte man, und fonnte, durfte man nicht preisgeben. Sorgen Hatte Kantor Flehr immer, und fie batten ihm wohl auch bie taujenb Rungeln und Fältchen in bas alte Geſicht gegraben. Wher an dieje alltäglichen Sor⸗ gen gewöhnte man [id) allgemad, wie man [id daran gewöhnt hatte, daß Duetichfartoffeln mit einem Broden Sped gar fein [o übles (Yjjen waren, oder daran, daß Goethe und Schiller nur an Sonntag: nachmittagen vom Kleinen Bücherbord ges nommen werden fonnten; aud) Daran, daß bas alte Klavier von Jahr zu Jahr dün- ner im Ton wurde. "Es mußte [djon einiges Bejondere zu- fammenfommen, wenn Kantor Flehr ben Kopf fo tief auf die Bruft trug, wie Beute, den fchmalen langen Oberkörper fo vorn- übergeneigt hielt. Co war es aber aud). Der Tag ver: diente drei Kreuze im Kalender. Grjt hatte man vom alten $jedjtein wieder einmal eine fleine Vorlefung ent: gegennehmen miijjen über den Geijt ber „Regulative”. — GSelbitverjtändlich, bas wußte man ja, fam die Salbaderei dem guten Sjedjtetn felber nicht recht aus bem Herzen ; war ein viel zu aufgeflärter Mann dazu, um vom Geift biejer Regulative überhaupt aus Überzeugung fpredjen zu fonnen, biejer Einſchnürungs⸗ und Ber: dummungsparagraphen. Aber ein Keil driidt ba eben den andern. Und bas war poososeeeeeEEEO uf märlijher Erde. ſchließlich dem Paftor bod) wohl aus dem Herzen gefommen, daß er fagte: „Über: haupt, Kantor, Sie find mir zu liberal!” ... bm... was follte man darauf er: widern, wenn der Alte fo feinen gichtge- frümmten Zeigefinger hob? Zu liberal! Du mein Gottdjen! Mtan hatte bod) eben feine Ideale. Und wer die nicht, inner: lid) mindeftens, hochzuhalten wußte in bieler Beit, wo die Reaktion wieder mal umging, als ob fie bie lebten paar Gaul: den untergraben wollte, auf bie fid) nod) bie Yreiheit der Staatsbürger ftüßen fonnte . . . ja, wer ich feine bißchen Ideale nicht zu wahren wußte, ber ging eben mo: ralifd) vor bte Hunde. Nunja... undeine Stunde darauf war der Schulze gefommen, ChrijtianLehmpubl. Hatte wieder mal fold) ein Schreiben vom Herrn Landrat, Hochwohlgeboren. Wenn man nur die Handichrift des hochmögenden allmäcdhtigen Sretsjefretdrs fab, fonnte einem bie Galle überlaufen: es rod) ordent: lid) nad) Bureaufratie daraus. „Es wird darauf au[merfjam gemadt .. .” fing es immer an. „Wonach zu richten“ oder „Es wird mit Beitimmtheit ermartet . . .“ ſchloß es. Diesmal aud). Und dagwifden gab’s Donner und Blitz gegen die, „auf Untergrabung der Königlichen Autorität "abgielenben Bejtrebungen”; gegen bie „Ichlechten, ftaatsfeindlichen Zeitungen”, bie den „Beilt ber Wuflehnung zu ver: ' breiten judjten"; gab's eine Lobrede auf das Kreisblatt! Das Käfeblatt! Daftand nun Chriftian Vehmpubhl und wußte Tid) nicht Rat. Was jollte man ihm raten? Gegen den Herrn Landrat? Der Wind und Wetter machen und die Sonne deinen la}jen fonnte über Berechte und Ungerechte. Zumal, wo man dod genau wußte, daß die Bauern weder eine vernünftige Zei— “tung nod) das Kreisblatt lafen. Was lafen fie denn überhaupt! 9ta ja . . ſchließlich war’s denn wieder auf aller Weisheit Schluß Derausgefommen: „Da werd if wohl bie Krakulle rumidjiden nun, hatte der Schulze beichloffen. Schön . (on: aljo morgen ging das berühmte ge: bogene Holzſtück von Haus zu Haus, und ' daran flatterte bas Schreiben bes Land: rats wie: ein Fähnchen. Wher der Bauer wandte es Dod} nach nurredjts und drehte es nad) links; es [as feiner, oder wenn es einer las, — er's nicht. Und das war noch bas bejte . Sa... und barn war der Herr Dr. Hemming aus dem Schloß herübergelom- men. Der Mtann wußte ja eminent viel, alleswas wahr ijt. Aber ein unausitehlicher Menſch blieb er mit feinem hochmütig ber: ablajjenben: „Herr Kollege.” Smmerflang bas wie [chneidende Ironie. Und immer hatte er gleich bie Politif beim MWidel. Immer in feiner Derausforbernben Art. „Es rührt fid) endlich, Herr Kollege. Haben Cie das neue|te Flugblatt vom Deutjchen Nationalverein gelefen? Und unfer Land: tag! Da ift doc) Wille und Kraft. Walded und Twelten und die anderen. Der An: fturm bes Militarismus wird am fe[ten Willen des Volfes zerjchellen, ijt eigent- lich [chon zerjchellt, unb aud) dtencue Größe, diefer Herr von Bismard, wird daran nichts ändern. Sagen Gie felber, Herr Kollege, ſoll unfre Nation verbluten unter ber Laft bieles unproduftiven Heeres, bas fein Volfsheer mehr ijt, fondern nur nod) ein dynaſtiſches Werkzeug? Glauben Sie mir, Herr Kollege, bie Überzeugung wächſt in immer weitere Kreije hinein, daß es auf diefem Wege nicht mehr weiter gehen Tann. Celbjt in die Kreife bes Syunfertums. Tragen Ste mal bei Herrn Fritz von Sjaden: tin an, wie der über die gegenwärtige Situation benft — “ Eine Biertelftunde war bas fo weiter: gegangen. Eigentlich gang interefjant. Wenn nur nicht ber Hodmut in dem Dr. Hemming gelejjen hätte. Sprach er denn mit ihm? Gr [prad) allein. Ja, und Dann fam's zum Schluß: „Übs tigens läßt der Rittmeijter jagen, Herr Kollege, daß er mit Ihnen zu reden hätte. Cie möchten bod) gegen Mittag mal im Schloß vorjprechen.” Naja... und das war vielleicht das Ärgerlichſte. Denn der alte Rittmeilter war zwar ein lieber Mann, aber gut Kirjchen ejfen war unter Umjtänden mit ihm nidjt. Im Grunbe war und blieb er bod) immer der Tuner, der feine Überzeugung neben der eigenen dulden fonnte. König von Rohlbeck! Du mein Gottdjen! Ein atm: leliges Königreich. Nur dak man bod) darin leben mußte, daß man es unmöglid) mit dem alten Herrn verderben durfte. Mit ibm nicht, mit der Herrfchaft überhaupt 24 BSSSSessoessses Hanns von 3obeltib: BESSSSesessessessd nicht. Cs gab bod) zu viele Fäden, die man nicht zerreißen fonnte. Was der Herr Stittmeijter nur wollte? Natürlich betraf’s aud) wieder die Politik. Man hörte das ja ordentlich im voraus: „Das heißt, Kantor, id) muB Jagen . . .“ Ta, Kantor Flehr hatte heute feine dret- fach gefiebten Sorgen. Das graue Haupt janf immer tiefer auf bie Bruft herab, je näher er ben fchwarzen Stämmen mit den Kanonenfugeln darauf fam, bie den Eingang zum Schloßgarten flanfterten. Aber dicht vor bem drduenden Tor hatte er noch eine Begegnung. Bon der anderen Seite fam der Broßbauer Metſchke, Adolf Metſchke, und bielt ihn felt. War jonit ein ordentlicher Mtann, hatte außerdem eine prächtige Stimme, bie den ganzen Kirchen: chor zufammenhielt. Aber wen er einmal feitbtelt, ber fam nicht fo leicht Ios. „Jut, dat if Ihnen treffe, Herr Kantohr. St wollte zunderfch mit Ihnen reden. Ss das denn bie Wahrheit, dak fie bie Col: Daten abjdjaffrt wolln?" „Aber Metſchke — “ „eltern ijt Sie ba nämlich 'n Schlofjer aus Ziebinge im Krug gewejen. Der hat’s verzählt. Bor janz jewip. Nu muß Se mein Willem zur Stellung. Sähen Ge, Herr Rantohr, da macht if bod) jerne willen, ob’s wirklich feine Richtigkeit haben tut?” Flehr jchüttelte den Kopf. „Man ſpricht ja jo allerlei. Aber abjdjajfen, daran ijt nicht zu benfen. Mein’ ich.” „Herr Kantor, 's [oll bod) ſchon in die Blätter ſtehn.“ „Da wird viel gefchrieben, Metſchke.“ Im allgemeinen beſchränkte der brave Flehr ſein Bildungsbemühen pflichtgemäß auf die Jugend; bei den Alten war, das hatte die Erfahrung ihn gelehrt, doch Hopfen und Malz verloren. Wher manchmal wan- delte ihn das Bedürfnis an, auch ihnen gegenüber auffldrend zu wirfen. So fuhr et fort: „Sch fagte Ihnen ja ſchon, Metſchke, an bie Whjdaffung der Armee dent nie: mand im Ernjt. Wher es wird von Freun⸗ ben bes Volles erwogen, ob man mit weniger Soldaten ausfommen fann oder ob man die Soldaten nicht nur ganz furge Beit bet der Fahne zu behalten braucht.“ Metſchke fann nad). ,'s wäre wolljanz Icheen fo,” meinte er, „wenn der Willem [teber nid) fo lang aus be Wirtſchaft müßte.” Paufe. „Aber, Herr Kantohr, bas jeebt od) nich mit fohne furge Zeit. IE bin bod) jelwit bets Rommif jewejen, Franger, Herr Kantohr. Un fo aus'm Pauern, was nod) jrün und nag hinter de Ohren is, "n or: dentlichen Suldaten machen, das is nid) jo haſte nich, fannite nid). Da ts der lang: [ame Schritt und da is’ Syemebr, un bie Inftruxon un fo...“ Gs fchien, ber brave Metſchke Hatte [tarfe Luft, feine militärifchen Erinnerungen noch lang auszufpinnen. Doch der Kantor wurde ungeduldig. Er zog bie große fil: berne Zwiebel aus der Tajche. „Lieber Metichte, id) muB zum Herrn Ritt- meijter ...“ ,Oo... zum ollen gnä’gen Herrn. Den jullt? man mal fragen. Der weiß Bejcheid. De hat bie Frangojen aus’m Lande mit rausgejchmifjen, un ’s eijerne Kreuz hätt’ er..." Damit gaberendlich den Eingang frei. „Scheen Dank od, Herr Kantohr... i£ meen, et jeibt nid) . . ." Langlam ging Flehr weiter, ben geraden breiten Weg entlang, derzurBerandatreppe führte. Zuerjt mit einem Lächeln im rung: ligen Geficht unb mit einem Kopfjchütteln über diefen Bauern, über die Bauern über: haupt: Die wurden innerlid) bod) nicht frei, Die flebten, flebten wiean ihrer Scholle, jo an allem, was alt bergebradt war. Und wer weiß: wenn ber Schlofjer aus Biebinge etwa wieder im Krug jeine neuen Meisheiten zum bejten gab, ob ibm dann nicht Adolf Metſchke als alter Franzer das Fell tüchtig vergerbte. Womit vielleicht nicht mal ein Unglüd geſchah. Allmählich erjtarb bas Ladeln zwiſchen den Falten, aus denen das zweimalwöchent: lich angeſetzte Rafiermeffer die grauen Stop= peln nie ordentlich herausbefam. — Was eigentlich ber alte Rittmeijter nur- wollte? Es war fo gar nicht feine Art, jemand zu fid) zu bejcheiden. Hochmütig war er wahrhaftig nidt. Cr ging in bie ärmite Hütte, und im Rantorhauje hatte er oft genug, faſt freundnadbarlid, vorge: fprodjen. Was er nur wollte? Und da fak ja aud) fchon bie alte Gnä- bige an ihrem iyenjter, mit ihrem ver: idjleierten Blid, und nidte auf feinen Gruß ganz eigen — jd)on von weitem. rg COP U U SS EEE Cs lee — -— --— Tr U— —S—— atio i — — UK ui pog; uupiuioG uoa anorg 19q (pou suGvulnjyy-arguuny ‘usgoyuyo 090000080000000000000000000000000099000000000000049090000000000000000900000000000000009000000000000000 $990900200029900000606000060600000600000600029602000406000008000000060000060900000600000600800060005800000000000900€0060000000000000€9 ET Hoe irre er — m e he TE — 9 (oe ope u WE OST). = ey NR went... e oe AMT. te! — — P — — " Lo a a, 0 480» 0 490» 0 400» 0 «00» 0 489» 0 «90» 0 400» O 499 0D 0D OED 0 > O «GU» O «0» O «90» O > > O «GU» Et O «QD» O «R0 O0 «GO» O «RD» O «M0 «M»9«80»09 «99» 0 «35» eene da» oap» © E> 9 «B» 6 GED OBE $a» 5 > e «c» 9 dii» 9 > 9 «HD» © € «Mi» 6 «NU» O «Up» > agp» o «BB» 6 ii» 6 «NR 6 «qi» C EE o «NI» O «GU» 9 D» 0 «pu» 7777 NE Erforjdung ber fübpolaren oder iN s ber antarftijden Gegenden iumje: | 3 res Erdballs hat viel {pater etn: es gelebt, als die ber arktijchen,*) DET unb zwar aus leicht begreiflichen Gründen. Breit und up entwidelt jid) auf ber Jtorbbalbfugel bie Maffe bes Lan: des, ber Ausläufer ber großen Kontinente und ihrer vorgelagerten Injeln fommen dem Nordpol fajt ringsum auf 70 bis 80° nördl. Breite nahe; den Südpol dagegen umgibt cin injelarmes, gewaltiges Meer, bas Ken milchfte der Erde, in bem nur die äußeriten, haben Enden der’ Feftlander fid) den höheren Breiten nähern. Und aud felbit Diele bleiben den polaren Regionen ungleid ferner, als im Norden. Die am weiteften gegen den Südpol vorgefdjobene Südſpitze übamerifas reicht bod) nur bis zum 56. Breitengrad, bie Auftraliens in Tasmanien bis zum 44. und bie UWfrifas gar nur bis um 35.° ſüdl. Breite. Duden ijt. die ſüd— ie SHalbfugel tm Jahresdurchſchnitt wefent: lid) falter als bie nördliche, und bie ſüdpo⸗ laren Gegenden find deshalb gr bi ime: ter vereijt als bie nördlichen. Während auf der Nordhemijphäre in der Gegend bes 60. Parallels nod RE TET: europäifche Hauptitädte liegen, wie Chriltiania, Gtod- olm, Gt. Petersburg, find auf ber Südhalb- gel im Gebiet des gleichen Breitengrades die wenigen Infelgruppen, die fid) dort aus bem die Erde umflutenden, falten, mit trei: benben Eisjchollen erfüllten, nebelumbrauten Meere erheben, tief vereift, und Gletidjer- jirdme bringen von ihren unwirtlichen Höhen bis in das Meer aan Alle die großen Rulturvilfer, bie fid) um bie Entidleterung bes Untliges der Erde bemüht haben, mob: nen ja auf der nördlichen Halbfugel, bie meilten von ihnen jogar bem Nordpol aient: lid) nahe. Go fommt es, daß die aia albfugel, felbjt deren wärmere Gegend, berhaupt erit jehr ſpät in ben Belichtskreis ber geograpbild)en Forſchung getreten ijt. ene merfwiirdige Entdedungsfahrt phöni« ziſcher EIE, ie nad) Herodots Bericht im Auftrag des Pharao Necho um 500 v. Chr. Afrika vom Noten SUteer aus fiidwarts ums poet und nad) drei Jahren durch die eerenge von Gibraltar wieder nad) Agyp⸗ ten zurüdtehrten, wurde bald bezweifelt, dann vergejjen; *Btolemaios, ber die Ge: amtheit bes topographifchen Willens bes [tertums auf feiner Höhe um 150 n. Chr. ujammenfaßt, tennt die Umſchiffbarkeit Afri⸗ as nicht, fondern behandelt ben Indifchen *) Bgl. Dr. Georg Wegener: Der Kampf um den Nordpol. Belhagen & Klafings Monatshefte November 1909. Der Kampf um den Südpol. Bon Dr. Georg Wegener. 2 0 > 6 0 «80» 0 > Ozean als ein Binnenmeer. Und viele Jahr: hunderte nachher nod) galt jogar das Dogma, Daf die Siidhalbfugel überhaupt den Menſchen nt jet, weil bie Glutgone bes Aqua⸗ tors nicht überjchritten werden könne. Erft als die großen ae der Por: tugtejen, bie 1498 zur Umfjegelung Wfritas führten, biele Mär zeritreut batter, ridtete id bas Intereffe aud) auf die Südhalb⸗ fugel ber Erde. Eigentümlicherweije war es aber wieder: um eine neue Mär, bie dann bie Wien: iden dazu geführt hat, in die höheren jüdlichen Breiten vorzudringen, bie an fid jo gar feinen lodenden Anreiz dazu boten; eine Art Fata morgana, deren Bild die Seite genojjen blendete und beraujchte und fie im: mer tiefer ins Unbefannte hinauslodte, um fid ſchließlich ins Nichts zu verflüchtigen, oder bod) wenig|tens in etwas ganz anderes u verwandeln, als man gehofft und gejudht hate Dies Phantom war das große uns efannte Giidland, bie Terra australis in- eognita, bie Ptolomatos annimmt und auf feiner Karte von Afrita im Giiden des Syn: bijdjen Dzeans hinüber bis zum dijtliden Alien führt. Wn bas Vorhandenjein diejes großen Hiblidjen GFeftlandes wurde im Be: ginn bes Entdedungszeitalters mit all bem unerjchütterlichen Autoritätsglauben feftge- halten, ben man dem damals wiedereritehen- den Altertum und feinen großen Gelehrten wie Ariftoteles, Plinius, Ptolematos ent- gegenbradte. Schien bodj jchon — ein naives Gleichgewichtsbedürfnis bas Vor: edel eines ba Güdlandes zu er: ordern: da auf ber Rordhalbfugel db jo gewaltige &ontinentaImajjen breit entfalte- ten, |o mußte irgendwo im Güden ein Ge: gengewidt dafür vorhanden fein. Und fo il wurgelte dies Dogma in ben Gemiitern, daß es jtd) immer wieder an anderer Stelle einniftete, wenn bas negative Ergebnis einer LL EON es irgendwo vertrieben atte. Co hatte bie erwähnte Umſchiffung Afritas burd) bie Portugiejen die Theorie bes Pto⸗ lemaios von einem im Süden geſchloſſenen Indiſchen Ozean als irrig nachgemielen, allein bie bedeutenditen Gelehrten ber Dama: liget Zeit gaben bas ptolemáijd)e Südland deswegen nicht auf, jonbern fie verjchoben es nur anderswohin; jie fonjtruterten große ringförmige Kontinente im Süden Afrikas und bes neuentdedten Wmerifa oder erfüll: ten die unbefannten Gegenden bes Pagifi: ſchen unb des öftlichen Snbijdjen Ozeans mit ihnen. Go nod) im Jahre 1570 der berühmte Odelius, auf deffen Karte das Südland in der Gegend jüblid) von Java bis nahe an den Siquator reicht. Und eben weil man es in fo ESSSSssssssy Dr. Georg Wegener: Der Kampf um den Südpol. BSSVeess 35 warme Rlimate hinaufführte, jo ſchmückte es die willige — der Zeitgenoſſen mit den üppigſten Reizen der Vegetation und Tier: welt, mit den glänzendften, leicht zu gewin: nenden Schäßen des Bodens und vermutete dort reihe und feltfame Kulturvölker im Stil von Indien, Mexiko und Peru. Aben⸗ teuerfinn, Beutegier, Groberungslult und Miffionswut erwirften dann aujammen ben Drang, biele verheißenden Geftade aufzus finden. Wenn irgendwo im Güdmeer irgend» ein Geefabrer eine neue Snjelgruppe auf: fand, dann hielt entweder er felbjt oder bte Belehrtenwelt daheim fie für einen Nord: vorjprung des großen Giidlands; pomphafte Beligergreifungen wurden in Szene gelebt, und bie Gelehrten am grünen 1d d? en in großen Bogenlinien hypothetiſche Riijten von Snjel zu Snjel und fonftruierten immer von neuem die gewaltige Terra australis, Endlich beſchloß, im legten Drittel bes XVIII. — die engliſche Regie— rung, der Mr auf den Grund zu fommen, und fie beauftragte den großen Geefahrer James Cool, endgültig bie Lage bes Süd— lands fejtaujtellen, indem er rings um Die Erde joweit nad) Süden vordrange, wie es möglich fein würde. (oot führte dies in ben Sahren 1772 bis 1775 aus und eröffnet ba: mit bie wiljenichaftliche Siidpolerforjdung. Eigentümlicherweife jteht jomit am Beginn des Kampfes um den Güdpol der gleiche Name, wie heut am Ausgang des Kampfes um den Nordpol! Coot umjegelte nun den ganzen Globus gwijden 55. unb 60.? füdlicher Breite, über: ſchritt an drei Stellen ben Polarfrets und drang einmal jogar bis 71° 10' nad) Süden vor. Das Ergebnis feiner Forjehungen war dies, baB bas große Giidland, jo, wie man es gedacht hatte, überhaupt nicht em Rings um die Erde fand er nur einen [türmi- iden Ozean, mit wenigen Injeln darin. Wenn es am Giidpol nod) Land gab, fo war dies nur in den i ſten Breiten móglidj, unb bann entiprad) es ben alten Phantafien von ber üppigen Terra australis in feiner Weife mehr; es glich feinem 9[merifa ober Indien, jon- bern den hocharktiichen Gebieten ber nord: licen Halblugel und hatte für bie Menfch- Bett feinerlet praftijden Wert. (oot ging in feiner Enttäuſchung jogar jo weit, dak er — was bei einem fo erfolgreichen Entdeder wundernimmt — behauptete, bie Eisverhält: niffe im hohen Süden feien derart [dwierig, daß niemals ein Reijender weiter würde vordringen können. Gs läßt fid) begreifen, daß nad) einem jolhen Ergebnis bas Intereſſe an den hohen ie zunächit einmal für lange Zeit erlofch. Erjt im XIX. Jahrhundert, jenem gewal: tigen Beitalter ber Technil, der Naturüber- windung und einer neuen Expanfion ber Menjchheit, begann eine zweite Periode ber Erforichung der Antarktis. Auch fie wurde zunächſt noch wieder von materiellen Be: weggründen eingeleitet. Im zweiten Yon zehnt bes Jahrhunderts famen einige kühne nordijde Fangtifder auf den Gedanken, ba bie Pelgrobben und bie Walfiſche in den Gewäjlern des hohen Nordens anfingen pärlicher zu werden, neue Jagdgriinde im Giidpolargebiet aufzufuchen. Der gute Er« ioa, den einige von ihnen batten, lodte zur adjabmung, und bald jdwarmten Mengen von Schiffen am jüdlichen Gisranbe. Ber- idjebene Ddiefer Expeditionen waren von tüchtigen unb verftánbnispollen Kapitänen eleitet, bie mit großer Kühnheit vordrangen. terbet wurde eine ganze Weihe neuer, tiefvereifter Landmafjen gefunden, immer aber nur wiederum ln Snjeln und —— wie bie Neu-Südſhetlands⸗ Snjeln, das Kemp-Land, bie Biscoes, bie Balleny:Infeln u.a., bie pe bie Namen ber glüdlihen Cntdeder erbielten. Wm voeitelien Drang der Walfijdfabrer Wed: bell im Süden ber Süd-Orkney-Inſeln, fiid- öftlich von Rap Hoorn, vor, in einem merfs würdig eisfreien !Dieere, nämlich bis 74° 15’. Dies Meer war nad) Süden noch weiter unbegrenzt unb ſchien eine ausgezeichnete Gaffe in den höchſten Süden hinauf dargus bieten; andere Umftände aber, insbejonbere der Cforbut bei ber Mannidhaft, zwangen Weddell hier zur Umkehr. Das nad) ibm benannte Weddell⸗Meer ijt noch heute eine bejonders intereffante Stelle der Antarktis, die die Entdeder immer wieder anzieht, wenn aud) fdon ber nächſte Nachfolger Wed: bells, Dumont dD’Urville, an berlelben Stelle ſchweres Padeis er — ein Beweis, daß bie Eisverhältnifje des Südens genau fo Iaunenbaft und unberedenbar find, wie bte des Nordens. Leider fonnte bei Dielen ga rten Der Fang) cdhiff-Rapitane, die an bie Inftruftionen ihrer Auftraggeber m ebunden waren, die willenichaftlihe Beobadjtung mur eine Nebenrolle fpielen und mußte oft an der vielver/predendjten Stelle abgebrochen wer: den, wenn bie Grgebnijje bes Gangs dort unzureichend waren. Das rate ee einer jyftematijden willenjchaftlichen Erforfhung ber Antarktis ijt erft ber Anregung eines deutjchen Gelehrten u verbanfen, des großen Wtathematiters Friedrich Gauß. Nahdem James C. Rog 1830 im Norden Nordamerifas ben magne: tilden Nordpol entbedt Hatte, b. D. den Puntt, wohin bie Nordipige ber Kompaß—⸗ nadel weilt unb bie nicht identijd tft mit bem geographijden Nordpol, dem nördlichen 9rdjjenbreDungspunft der Crdfugel, vers fuchte nämlich Bauß, aus dem bisher vor: liegenden, lüdenhaften Material von Rom: pabbeobadtungen auf der Giidbalbfugel theoretifch aud) bie Lage bes magnetiichen Cübpols zu berednen. Er beitimmte thn im Süden von 9[ujtralien, tief tm Unbefann: ten, Ene bes Polarfreijes, und wies nun mit UPS bt auf bie Wichtigkeit hin, bie bie uffindung bteles Punktes für bie gefamte g* i ! i d — — nn ee 4 86 BSSesesd| Dr. Georg Wegener: Der Kampf um den Giidpol. Schiffahrt auf der füdlichen Hemilphäre 5a: ben müjje. Diefer Appell veranlaßte bas Vordringen von nicht weniger als drei glan- zend ausgeriijteten mele ME pes bitionen in das Güdpolargebiet, einer ame: rikaniſchen unter Willes, einer frangdfijden unter Dumont dD’Urville und einer englijden unter James ©. RoR. Diele drei Reifen, die von 1838 bis 1843 dauerten, fónnen wir als bie Haflifche Epoche der Siidpolarfor- [dung bezeichnen; js gab uns bie erjte Runde tößerer Landmaſſen im höchſten Süden, fie Huf uns bas eigentliche Fundament unjerer ejamten Kenntnis von ber Natur bieler etiamen, fremdartigen und geheimnisvollen elt des ferniten Giidens. Charles Wilfes entbedte vor allem im Güden Auftraliens, ungefähr unter bem Po- larfreis, eine ganze Kette tief vereifter Land: . ftüde, durch Eismauern verfnüpft, bie er als ein einziges Land unter dem Namen Willes: Land — und für den Rand eines großen an anjab. Wurden auch ver: idjiebene dieſer Beobachtungen mu als Täuſchungen Durch ebelbanflagerungen ftgeftellt, wie fie in den polaren Gebie- en jo außerordentlich leicht zu Srrungen Anlab geben, jo find dod) andere Teile un: zweifelhaft Land; einige berjelben Gegenden wurden aud) von der Expedition Dumont d’Urville an derjelben Stelle feftgelegt und um Teil jogar betreten. Eine andere grö: Bere: $anbma|je fand die Expedition d'Ur⸗ ville im Süden von Cübamerifa, bas tief vergletjderte Louis Philippe: Land. Weit» aus den größten und überrajchenditen Er: folg aber Batts die A Expedition unter James ©. Rog, einem Manne — glänzendem Seemann und Phyſiker zugleich —, den aud) die Geſchichte der Nordpolerforſchung als einen ihrer größten verzeichnet. Er drang mit zwei bejonders für das Eis gebauten Schiffen ,Grebus^" und „Terror“ im Süden Neujeelands vor, in einer nod) ganz unbelannten Gegend. Wm Neujahrs: tage 1841 erreichte er, gerade unter dem ee Polarfreis, ben Padeisrand, der isher immer als die Grenze aller Schiffahrt gegolten hatte. Rog bejaß die Kühnheit, fie nicht dafür zu halten und in bas Eis hin: einzudringen, in der Hoffnung, vielleicht nur ' einen Eisgürtel vor ftd) zu haben und weiter im Eüden eisfreies Wajjer zu finden. Das Eis erwies fid) nicht fo Dicht gefügt, als es von weiten erjdienen; bie Schiffe vertrugen die Eisitöße gut, und nad) einem fchweren adttagigen Kampf mit Eis, Nebel und Schneeſturm erreihte man tatſächlich ben Giidrand ber Eismafje: ein eisfreies Meer dehnte fid) vor ben 9tetjenben aus, das heute nod) das „NRoß:Meer“ heißt und in bem man nun weiter jüdwärts vordrang. Schon am folgenden Tage wurde zur Redten eine neue Küſte gefichtet, freilich jo mit Eis ver: barrifadiert, daß ein Landen nicht möglich war. In gewaltigen Formen begleitete fie ein tief verjchneites und vereiftes Gebirge, BSsssesd bas bis über 3000 m emporftieg. Ein ge: waltiger Anblid, augenfdeinlid) ber Rand einer großen una bie nun nad) ber damaligen jungen Königin Viktoria: Land genannt wurde. Die Whwerdung ber Magnet: nabel in Diejen Gegenden bewies, bap im Sjintergrunbe bieler Gebirge, etwa 800 Kilo: meter — ber magnetiſche Süd— pol gelegen ſei, alſo nahe der Stelle, die Gauß ihm angewieſen hatte. Die Expedition folgte der Küſte weiter ſüdlich. Diele wuchs immer majeſtätiſcher empor, und ihre grandioje Szenerie übertraf an Großartigkeit alles, was der doch ſo viel⸗ ra Rok bisher an arftijden Bildern ge 2n atte. m 27. Januar wandte fid) ber Eisrand vor der Riijte nad) Südoften, unb bier [tiegen zwei mächtige Berge von |pißen Regelformen empor, deren Geltalt (don auf Bullane fchließen ließ. Der aa von ihnen, ein er: babener Berg von fait 3800 m Höhe, aljo ca. 500 m höher als der Atna, jtieB, obwohl er ganz in Schnee und Eis gehüllt war, an feiner Spite Raud unb Aſche in die Luft; er war nod) tätig: ein außerordentlicher Gin: brud, bier inmitten ber ungebeuren weißen Schneeeiniamteit diefer lebendige Glutherd bes unterirdijden Feuers! Er erhielt den Namen „Erebus“, fein niedrigerer inaktiver 9tadjbarberg den Namen „Terror“. Diele beiden impojanten Landmarfen, von denen wir heute willen, daß fie auf einer bem Viktoria: Land vorgelagerten, doch bird) Eis mit ihm verbundenen Injel ruben, find für Rog und für mehr als ein halbes Jahr: hundert nad tbm die áuperiten Grengpfeiler der menjdliden Kenntnis gegen den Süd— pol geblieben. Roß gelang es nicht, bier nod) weiter jüdwärts vorzudringen; eine andere Cntbedung — ihn daran, die nicht minder überraſchend und ſeltſam war. chon von fern hatte man am Fuß des Erebus und Terror eine dünne weiße Linie eſehen. Sie wuchs beim Näherkommen 9e empor und erwies fid) als eine di ſchloſſene, ſenkrechte Mauer von glattem Eis, oben horizontal abgejdnitten und 50 bis 100 m body, jo daß lie bie Maſten der Schiffe überragte und es nicht móglid) war, zu teen, was hinter diejem rätlelvollen Gebilde lag. Cie bildete für die Schiffe eine abjolute Schranke; hindurchſegeln zu wollen, fagt RoR, wäre gerade jo gut möglich gewejen, wie durch bie Kreidellippen von Dover i fahren. Die Expedition folgte bem Cisrande nad) Often mehrere Wochen lang, auf Hun- berte von Rilometern, ohne dak ein Durch: laß gefunden wurde. Gelegentlicd) ernied- rigte fid) einmal der jonberbare Eiswall fo weit, baB man vom Majtforbe einen Blid darüber hinweg werfen fonnte; und man Ichaute hier Jjüdwärts hinaus in eine grenzen: lofe Ebene von |piegelndem Silber. of fehrte bann, vor dem Südwinter fliidjtend, wieder um und verjuchte im folgenden Giid- [omnter, weiter im Ojten unter 170? w. &., * E x $ 3 E] & = Ss 3 | us —_ dichsher Pun yf — D 5o | 4 - N p n. 4 P. 4 e NE üdlichste BRAK ⸗ oq /gp 88°23 südl Br ,162*ós Linge aX / Q | 88 Sy SUDPOL aa + g Rartenjtizze von Shadletons Südpolarfahrten. = — —r h — —— — EID du LUDUM n on. «- IP PRI — — — a = nn y 38 BS393S9:99- nod) einmal einen Vorftoß, bei bem er, ftd) burd) jchweres Padeis hindurcharbeitend, eine Breite von 78? 11' erreichte, für lange : den bódjiten 9teforb gegen ben Südpol. Wud diesmal ftieß er auf biejelbe große, glatte, majjive (isbarriere, bte ein Weitervors: dringen der Schiffe ausichloß. Mir wiffen heute, baf biejes Barrier: Eis der nn einer ungeheuren cben: ächigen Eistafel ijt, bte vielleicht Deutjch- and an Bröße nabefommt, anjcheinend eine Bucht des Giidfontinents ausfüllt und ent: weder ganz oder teilweife auf bem Waller Ihwimmt und die Bewegungen der Ebbe und Glut mitmadt. Das find Bereijungs- erjcheinungen von einer Grogartigfeit, gegen bie alles, was wir im norbpolaren Gebiet fennen, weit zurüdbleibt. Daß biele Riejen- flächen ——— auf bas Meer hin: austreibenden Eijes aud) anderswo exijtieren, fönnen wir aus ber typilchen Form ber ant: atftijden Eisberge jchliegen. Während die nordpolaren Eisberge bie ganz unregelmäßig eftalteten Abbrüche von einzelnen Gletſcher⸗ amet find, bie ins Meer münden und bes: halb völlig regelloje Formen haben, ijt bie Grundform der fiidpolaren Eisberge immer die großer, ſchwimmender Zafelberge, oft mächtiger Tafelinjeln mit horizontaler Ober: fläche und vertifalen Wänden; fie find aljo augen|deinlid) Abbrüche [older "großen Cis: adden, wie fie RoR den Weiterweg ver: rerrten. Es ye jehr merfwiirdig, daß bie bebe. tenden Erfolge der drei großen Expeditionen von 1838 bis 1843 nicht bie Wirkung eines verftärkten Interejles am Gübpolgebtet ge: habt haben. Im Gegenteil, ein Menfchens alter hindurch ruht fie völlig und fest dann nur febr langjam wieder etn. Ein Haupt: grund für eine 9Ibfebr vom Giidpolgebiet liegt wohl in der berühmten Granflin-Rata: ftropbe, bie fid) unmittelbar an RoR’ Riid- febr von der Antarktis anfnüpfte. Diejelben beiden Schiffe „Erebus“ und „Terror“ was ren es, bie im Jahre 1845 unter Befehl von Sir John Franklin zur Gude ber Nordweit: pajfage ausliefen und nicht wiederlehrten, und Die leidenichaftlide und großartige ERU EE bie nun bas ganze folgende ahrzehnt erfüllte, feffelte bas polare Inter: Alena Welt ausjchließlich auf bas arktiſche ebiet. Erft 1873 madte das englildjie Schiff »Shallenger” auf feiner großen Tiefle-Expe: dition gelegentlich wieder einmal einen fur: zen Vorſtoß über den Polarkreis, und im A M erreihte ber bhamburgifde apitin Dallmann einige neue Injeln im Giiden Cübamerifas, die er Raijer Wilhelms» Land nannte. In den neunziger Jahren bes vorigen Jahrhunderts beginnt die lebte große Epoche der Siopo!»Grioriung Ihre Anfänge bildeten, gerade |o wie für bie willenjchaft: lide Epode um das Jahr , neue Fahrten von Fangſchiffen, die die fiidpolaren Dr. Georg Wegener: BESSSsessssssessi Jagdgriinde auffudten und babet, wieder in gelegentlicher Art, einige wertvolle neue Entdedungen madten. Bejonders zu. nennen darunter ijt ber deutſche Dampfer „Salon“ unter Führung bes normegifden Rapitins Larſen, der 1893,94 im Güden von Süd— amerifa das Kartenbild des dort aus dem Unbelannten auftauchenden Landes wejent- lid) berichtigte und interejjante Verſteine⸗ rungsfunde mitbradte. Noch bebeutjamer wurde bie Reife des norwegijden Dampf: walers „Antarctic“ 1895/96, ber in ber jeıt 9toB nicht wieder bejuchten Gegend des Vik: torta: Landes vordrang. An Bord dDiefes Schiffes hatte jid) ein junger begeilterter norwegiicher Gelehrter, Carjten Borchgres vinf, als einfacher Mtatroje verdungen, der alle Arbeiten eines joldjen willig ausführte, nur um die GelegenDett zu befommen, die Gegenden der 9[ntarftis zu bejuchen. Es elang dem Schiffe ebenjo wie Rog, ben DBadersgürtel zu durchbrechen unb bas Bits toriasland wieder zu finden. Borchgrevint tonnte es jogar, am Rap Adare, betreten unb fo als erjter Menſch den Fuß auf das Vittoria: Land fegen. Er bradte aud) die eriten Spuren einer antarftijden Vegetation mit in Geltalt eines Lebermoofes. Leider fehrte ber Kapitän wegen Mangel an Jagd: beute [don bei 74° f. Br. wieder um, obs wohl bie Gelegenheit zu wertnollen weiteren Forichungen gegeben war. Deutlich hatte der Verlauf folder Fahrten die Notwendigkeit rein wiljenichaftlicher, an materielle Interefjen nicht gebunbener Expe- ditionen in bas Güdpolargebiet erwiejen, unb bie Zeit für biele war aud) wirklich ges fommen. uch bier ijt ein deutjcher Gelebr: ter zu nennen, der ihr wejentlichiter Anreger gewelen ijt, Georg Jteumaner, der befannte Direktor der deutiden Seewarte. Seit langen Jahren idon war er unermiidlid) werbend tätig dafür, daß die nähere wiljenjchaft: liche Surd)foridjung ber Antarktis die größte Aufgabe ber geographijden Welt fet, ins: bejondere auf bem Gebiete ber Dieteorologie und des Erdmagnetismus. Geine Schriften und Borträge Baben das Intereſſe dafür immer febhajter geld)ürt, bis jchließlich drei große willenichaftlidye Rongrejje feine An—⸗ regungen aufgriffen unb aufs lebbaftejte mit dem ganzen Schwergewicht ihrer Autorität unterjtüßten: der deutſche Geographentag von 1895 in Bremen, der Internationale Geographen: Kongreß desjelben Jahres in London und endlid) der glänzende Inter: nationale Geographen-RongregB von 1899 zu Berlin unter dem Vorſitz ‘Ferdinand von Ridthofens. Insbejondere ber leftere ftellte der Welt bie Wichtigkeit, ja Notwendigteit ber Aufhellamg biejes bei weitem größten nod) unbefannt gebliebenen Gebiets der Erde vor Augen und rief ein in größtem Gtil entworfenes internationales Zufammenwirs ‚ten verjchiedener Nationen zu biejem Ziele hervor, das nun in den erften Jahren des XX. Jahrhunderts verwirklicht wurde. ——— -- — — e» — — — « -—— aa en — M N 00 am 0 SP 0 SP 0 Po SP 4b OP eae ae Stilleben. Gemälde von Fri Opwald. 9489 090» 020» 0S 0 30» 9 «x — hee | ! ! LET d Hee 42: dee SD 0 pi Re — ep EB ED «me 6 D Ru OI 0 «MU D cube OIE 6 d De D «GE» 8 ag 0 e 0 cQ Pe OB D ape o dE. Ec pe— co me — — — — —⸗ J SE 7 URP IS | ESS ab ab^ 257 28 257 ai? a^ ah ah aa jeltenes Glück für einen Schriftfteller, ber das Bild eines Künjtlers formt, wie ber Künftler Das Relief in feitgefügte Ginnen|pradje zwingt — einmal mehr als vierzig Bilder biejes jungen Mün- chener Mtalers beieinander gejeben; bin von Bild zu Bild wie von Erlebnis zum Erleben fortgefchritten: Stilleben, Land: daft und Porträt — immer jab id) nur den einen jungen Meiſter, bem dieje Zeilen gelten, jab den Dichter, den Mtaler, den Mtenjden. Bei jedem fam id) wie ein hungriger Gaft am üppigen Tijd auf meine Rechnung, und jeltjamerwetje, als id) fünf Woden [páter den Künjtler in einer Iujti: gen Nacht — fo luftig ijf man nur in Münden — menjchlich fennen lernte, habe ich Den Winter wiedergefunden, die Waldes- einjamfeit mit bem zitternden Licht, bas balbgeddmpft burd) hohe Stämme bricht, die Barriere draußen an der Grenze bes Lebens, den Frühling in der Campagna, ee Fe ae ee ae ag m et Fe Den Glanz der hellen, Bildhaft und Verdadmmern Der Volmond Buhldirnel Wer wideriteht Cie ſchwelt und zudt — Sd) haſſe biele Nächte! Frib Döring. OD SF PU SE. VP U Os. as AO U OE — FO WP PAP, IN Q 2)419581974-9-129-900-629)4-10 769-979-4494 9-100470] a Neen en ee Smet ot rm ee Nr of AR RAS SE AS Belbagen & Klafings Monatshefte, XXIV. Jahrg. 1909/1910, IT. 28b, "d adt Eiferſucht. ich wie Tod und Pe crag are Nächte, " S Den lauen Duft, ber feinen | — in ip ipfel im Bom Wafjer tönt Bejang und S Gejdmiidte Boote gtehn mit jungem Wollte, chwimmt in einer Cilbermolte, ^ Die Nacht ijt füB, und ewig fern ber Tag! Ladhmende Verführerin! 3 em briinftigen Berloden? Y Es brennt bas Herz, ber Mund wird heiß und troden, S uy bünft Erhebung unb Verluſt Gewinn! v n Blanz und Schweigen wächſt geheime Glut, 4 O foldje Nacht gibt aud) ber 3agbeit Mut! A Und den?’ ich dann, daß Ihr in Celigteit A Gud) liebt, Euch küßt und jest Gud) Dann raft durds Hirn mir effer Bilder 1 Und unterm Tiſche frampft fid) meine Rot brennt bie Flamme meiner Eiferjucht, Seit Ihr Gud) liebt, ball eglänzten Raum. Fritz Döring: Eiferfudt. Bessssesssess 49 den Sommer „an ber Wmper” mit den alibernb-gleipenben Sonnenreflexen, bie Stilleben jefbjt und den Herbft mit feinen Regenwolfen. Da mußte id) mir als ehr- licher Menſch geitehen, daß ich bier einem wirklichen Riinjtler begegnet bin, von dem zu erzählen nod) viele Seiten lohnte, deffen Kunſt zu allerlebt nur der Wusdruc feines Innenlebens ijt! Wir bie Schauenden in: bes — bie feine Philofophen find und fein wollen — grüßen bas Leben, wo es uns in fünftlerifcher Abgeflärtheit, in malerifchen Werten fo rein unb reif begegnet. Wir geben gern von unjerem Eigenen dazu, von heimlichem Erleben und der Freude vollen Nachempfindens, aber tro& aller Schwärmerei Darren wir zugleich neu: gierig der Entwidlung, die ein Junger in frühen Jahren verjpridt. Wir deuteten an — weiter zu gehen wäre banal; wir fuchten und fanden viel — möchte die Ernte nad Jahrzehnten noch reicher fein. N ——— a iubeat ae — AS 53; a Dann re m E EEE TEE ET TE afen läßt! A verfteintem Traum uderjchlag, — roe ucht, echte. + <> ' as » Ä OQ 99.99.95, 99,.q v ~ dh m V 9 P. » Aus Heinrid) Laubes Wiener Theaterzeit. Erinnerungen von Memor (Wien). N | Rom Schreibtifd und aus dem Atelier. n einem fonnigen Gommernad: 4 mittage, bem erjten Sonntage im X Wugujt des Jahres 1884, bewegte : i ein wohl jtatt[idjer, aber nicht "DB allzu zahlreicher Xeichenzug, hinaus u dem ,?Burgtbeater[riebDofe". Denn als Pocher fonnte wohl der hinter bem Güd« babnbofviabuft im Vorort Matleinsdorf ges legene evangelijche Friedhof begetd)net werden, wo eine ganze Reihe der Brößen des alten Burgtheaters rubte, die alle aus dem pro: teftantischen Deutichland an bas Hofichautpiel bes tatholijden Ofterreich gefommen waren. Co mandem von i — der proteſtan⸗ tiſche Direktor unb Neuſchöpfer bes verjüng- ten Vurgtheaters, der von der Theologie in die Literatur und aufs Theater geſprungene Heinrich Laube die Grabrede gehalten und mit ſeiner allererſten hatte er ſich ſogar die allererſte amtliche „Naſe“ zugezogen. Er war noch nicht lange im Amte, als ihm einer der alten Lieblinge des Hauſes ſtarb, der raſch auch der ſeinige geworden war: Wil⸗ m eborener v. Pannewitz, ein trefflicher arjteller gemiitlid) polternder Väter vom Militar und Zivil. Laube geleitete die Leiche und hielt, an bie heimatliche Sitte gewohnt, dem Berblidenen eine Nachrede, bet ber fein Auge troden blieb. Aber die außer acht ge: laffene Wiener Gitte, richtiger, bie [trenge Sagung, rádjte fid). Die Friedhöfe waren nämlich damals nod) nicht gejchieden, und — wurden auf dem gemeinſamen riedhof begraben, wo aber der katholiſche ultus das N übte. Danad) war eine Grabrede aus Raienmunde abjolut verboten, und auf die Anzeige der kirchlichen Behörde bei der Statthalterei erhielt Laube von feinem Chef, dem SOberjtfámmerer Gra: fen Landoronsti, eine |djarfe amtliche Rüge. Und nun galt es, ihm eine Grabrede zu hal: ten — aber feine Burgtheaterzunge war da, bteje legte Pflicht gegen den Mann zu üben, der, wenn er auch Jeither ein „emeritierter Privat: Dtreftor” geworden war, Darum bod) nicht aufgehört hatte, Heinrich Laube zu fein; das heißt, derjenige, der, wie Schreypogel einjtens in der erſten Hälfte bes Sahrbunderts, Jo für deſſen zweite Hälfte die Hofbühne mit dem Beilte ber Zeit zu füllen und thr den Rang ber erften beut|den Biihne zu ver: dienen gearbeitet hatte. Und vor allem, die neue Generation ber Burgjchaulpieler war ja u ihn geworden. Aber ber meilter: lide Theatermann hatte den unbegreiflichen Verftoß begangen, jeinen Tod jult in die en zu verlegen. Go war es denn eigentli nur ein geringes Häuflein Betreuer, bas ben Sarg in bie Grube hinab: DESEE - fetal ES PESCE CER (E ECCE CE CE CR CE CER CRI CRI CIE jenten jab. Das — war nur durch Kathi Schratt, die dem Toten vom nn ber Treue tine Ne hatte, durch einen Gpilo: dilten unb einen Darfteller von Bedientenrollen vertreten — von einer offiziellen Vertretung war [djon gar feine Rede. Das Stadttheater, Zaubes zweites Wiener Theaterwerf, tonnte niemand entjenden, es war niedergebrannt — und der Kobold der Satire, ber bas Grab umſchwirrte, ficherte es durch bie Seitungss Pee in bie Welt hinaus, Daß ber arti: tiiche Leiter des Berliner SHofichauipiels, Dberregijfeur Die, ber fid) zufällig in Wien befand und ber vor Jahren flüchtig dem Burgtheater angehört hatte, nad) Theater: verlegenbeitsbraud „einjpringen“ mujte, im Namen ber Schaufpielerihaft dem Neube⸗ leber der Wiener Burgtheaterkunft ein Abs Ichiedswort bes Dantes ins Grab nachzurufen. Eine der wunderlidjten Ruriofitäten, bie jid) der Zufall ba leiltete, & 8. BR a Body ja bte ganze Erſcheinung Laubes in Wien und im Burgtheater, und daß er da überhaupt möglich war, eine ber merkwürdigſten Kurioſitäten der Zeit— geſchichte, an die ſich mancherlei weiter⸗ reichende CHO HIR Inüpfen ließen. Ein intereffantes Gtreiflicht glitt Daraus auf innerite Naturbeichaffenheiten öfterreichifchen Mejens, das bis in die höchften Kreiſe hinauf: leuchtete. Denn nicht bie von ihm durchge un fünjtlerifche Negenerierung war das edeutjamite jeines Platznehmens auf dies jem Poften, in diefem Staatswejen, jondern bie politijche Arbeit — nicht im eng partei» technijchen Sinne gemeint —, die er da tun fonnte, tun durfte. Die geijtige Auffrifchung bes Repertoirs nämlich, deffen Durdhfegung mit dem Gedanfenleben einer modernen Melt, bie Hereinleitung aller Ideenſtrö— mungen ber Zeit in den Gpielplan bes Burgtheaters, welches das „Iheater bes Rais fers" war, bes Kaijers von Ölterreih. Das aber wäre troß aller perjdnlidjen Energie und alles furchtlojen Draufgängertums des Theaterdireftors nicht möglid) gewefen, wenn nidt in ben Menjchen um ihn herum, und D. ben maBgebenben Perjonen, in ihrem aturell und der ganzen Atmojphäre des „Syltems“ etwas gewejen wäre, was Ddiefe Arbeit begünjtigte und was alle (che Gegenkräfte paralyfierte. Und diejes Etwas war und Ht nod) immer bie Leichtbeweglich— lei und bie fongiliante Anſchmiegſamkeit des Wiener Beiftes, in dem, bei aller Lokal⸗ begrenztheit, bod) ein gut Stüd Kosmo: politismus ftedt unb dem jeder [tarre Dogma: tismus fremd ijt. Bis in die höchſten Sphären ESSSSesesey Memor: Aus Heinrid Laubes Wiener Theaterzeit. Beeess 51 hinauf gilt bas. Es tft ſchon bemerkt wors den, etn wie [tarfes Rontingent der PBroteftans tismus zur Künſtlerſchaft bes Burgtheaters ftellen fonnte, ein Beweis aljo, dak gerade auf diefem jo exponierten künitlerifchen Gebiete eine Toleranz in der Blaubensfrage waltete, bie auf anderen Gebieten damals nicht ge: übt gu werden pflegte. Die Gefdhidte ber polittjdjen Verwaltung, in der Zeit Wetter: nidjs, wie in ber Periode unmittelbar per, 1848, weift viel bes SRenegatentums auf, berühmte Ronvertiten waren da tätig — in ber Gejdidte bes Burgtheaters ift fein eins iger folder Fall zu verzeichnen gewejen. nd bas tit ein fulturell jo djaratterijtildjes Moment, daß es wohl bet einem Gejamt: urteil fiber bas Beiltesleben bieles —— ins Auge gefaßt werden muß. Nun aber war ſogar an die Spitze des Burgtheaters in der Perſon Laubes ein Proteſtant geſtellt worden mit ziemlich unumſchränkten Voll⸗ machten, wozu ihm der damalige Generals Ana ae ber faijerlidje Generaladjutant raf Grünner, mitgeholfen hatte. Sym Zeichen, einer befeblerifden Autorität, eines Rom: mando: und Dilziplinzwanges hatten ftd) die zwei tanner getroffen, der Repräjentant des militärijchen Wutotratismus und der einjtige Stürmer des „jungen Deutjchlands“”, ber, wie immer er jpäter nach der politijden Partei⸗ ſchablone zu rangieren jein mochte, in jeinem ganzen äußerlichen und innerlichen Gehaben ein artes Demofratentum verkörperte. Zwei entgegengelebte Weltanfchauungen aljo, bie ba aufeinanderftießen unb — fich verjtändig» ten. Die Erflärung dafür batierte wohl von der ei Aufführung ber „Karlsſchüler“ im Burgtheater tm April 1848 her, jenem Abende, als der „Mann aus der Fremde“, ber Autor bes Gtüdes, bie Hausordnung bes Hor. theaters gegen bas anjtürmende Publifum wahren mte. weil bie zuftändige Autoris tät verjagte. Man ar ben Darijteller des Friedrih Schiller, Karl Fichtner, durchaus „hervorrufen“ wollen, was bas Hausgejeß nicht erlaubte. Niemand aber von ben Siret: tionsorganen getraute fid) vor die Rampe eg den Tumultuierenden die Stirn zu teten. Da rollte ber Vorhang e unb eine tleine, gedrungene, fehnige Gejtalt mit felt: lamer Gefidtsformung, einer Art bärtigem Ralmüdengelicht, aber einem Paar wunder: bar leuchtenden und zwingenden Augen bare in, trat vor unb feßte mit einer laut knar⸗ renden, gebieterijdjen Stimme, auf die jofort gehört wurde, den Leuten in kurzen Worten auseinander, daß es ein Unmögliches fet, was fie begehrten; eine bejtehende Ordnung tónne nicht fs mir nichts, bir nichts umgeftoßen werden. Die aber verbiete es ben Hofichaus Rast einem Hervorruf Folge zu leilten. prady’s und trat zurüd, ber Vorhang rollte nieder, unb feine Hand rührte fid) mehr im Haufe. Der „Fremde“ hatte gezeigt, wie man jo eine , Bewegung” unterfriegt. Das hatte offenbar auch nad oben hin imponiert, man hatte ihn im Auge behalten, und fie waren gerne den ihnen auch von anderer Geite ges gebenen ‘yingerzeigen gefolgt, bie auf €aube als ben Beeigneten wiejen, bas in ben Sumpf peratene Theater wieder auf feiten Boden zu ringen. Go war er Direktor geworden. So hatte er jeine Bolmadten durdgejebt, bie thm bie Möglichleit gaben, auch den Geiftess gehalt des Repertoirs total gu revolutionieren, Das heißt gu mobernijieren. Hierfür fand er in mandjem ‘Falle bei ben Höchſtoberen mane ee gegen die Verantwortlicdteits:: dngfte jeines unmittelbaren Chefs, des Grafen Landoronski, defjen Horizont burd) bas ibm zugejchriebene Wort über Die Hafiihen Dramen marfiert wurde, bie er als „die Stüde mit den nadeten Beinen“ bezeichnete, bie ja [o wie jo „nix machten“. In weld) lebterem Punkte er fic) übrigens halb und halb mit Laube jelbjt zufammenfand, wenigitens injoweit es die neuere Dichtung im Halliihen Gewande betraf. Da mußten es ion ſtark überzeugende Sachen jein, wie Otto Ludwigs , Vtatfabder”, an denen Laube mit beharrlichem Eifer fefthielt, oder Namen von bejonderem Gewicht, wenn er jich zu jo einem neuen „Stüd mit nadeten Beinen“ entichließen jollte. Mußte er aber mandmal bennod, ohne rechte Liebe, und zeigte fid) nicht die entidjtebenite Teilnahme des PBublifums in ber Bejuchsziffer des Haujes, jo war es meiltens mit den üblichen drei bis vier Ehrenaufführungen abgetan. Auf bas miB- liebigite Stüd wurde aber von ihm bie gleidje perjóníid)ite Sorgfalt der Einftus Dierung gewandt, wie dul bas ibm wertelte. Denn Ehrlichkeit und Loyalität waren bie. Brundzüge feines Weljens. Hatte er einmal ein Stüd angenommen, oder einen Schaus me engagiert, jo waren es für ihn eigene ngelegenbetten geworden, bie er mit dem vollen Einjat feiner felbjt vertrat, aud) gegen bie Oberbehörde. Hod) oben fand er, wie elagt, zumeift genetgtes Behör. Obne bod, non in bem Außeren feiner Perjonlicfert und in feiner ganzen Haltung, aud) nur bie mindefte Eignung zum Bomann zu haben, war er mehr persona grata bei ben Fürftlichleiten, als nad) ibm ber ge: wilfermaßen in Hofluft großgewordene Dingelftedt. Lebterem traute man nie recht, weil hinter jeinem jcheinbaren Höflingtum immer der frondierende Gpötter lauerte, während für Laube feiner hoch genug war, daß er nicht gegen ihn mit bem herausges poltert wäre, was ihm am Herzen lag. Das ließ man gelten, 8] BB Ein folder Fall, wo er nicht mit leife- treterijcher, jonbern mit fura angebundener, aber bod) genug ſchlauer Diplomatif an bie höhere Snjtang mit Erfolg appellierte, et: gab (id) unter bejonders [chwterigen Um: jtanden in der zweiten Hälfte der fünf er Sahre bei Gelegenheit der Sjubelfeier der Bründung des Maria-Thereſienordens. Eine eſtvorſtellung jollte loads werden, zu der rtedrid) Halm, der Dichter der „Brijeldis“, * 4 Ey wx — ——M— — —— ab v 09 ^. . - -—--—— Tu a ad -- - — — — - bes „Sohn der Wildnis“ und einigermaßen woblbejtallter — der als ſpäterer Generalintenbant ?Baron Münch den Weg: ang Laubes vom Burgtheater verurjadjen jore, bas Feſtſpiel — hatte, auf as ein paſſendes Stück, ein militäriſches alſo, mußte. Aber welches? Die wei klaſſiſchen Militärſtücke „Minna von arnbelm” unb „Der Prinz von Homburg“ waren als für bie Gelegenheit „zu preußilch“ ausgejchlo en, bas lebtere aud) wegen ber „apeigbeit des Helden” den hohen Wtilitärs als „antimilitärijch“ anftößig. Go blieb nur „Wallenfteins Lager”, bas aber wegen des Raz puginers ſchon Jeit lange bem Repertoir fremd geworden war. Unjer Kapuziner aber bot unter ben obwaltenden Berhältniffen — die Rontordatszeit batte eben erft begonnen — nur nod) fdwerere Bedenten. Kardinal Rauſcher, der Wiener Mtetropolit, bei dem vertraulich angefragt wurde, meinte wohl, bas Gtüd könne bod) aud) ohne die geijtlid)e igur gegeben werden, bie ja nur eine epis odilhe Szene habe — das erfdjien aber enn bod) lelbjt dem gewiß febr kompromiß⸗ füchtigen "RD. DOberftlämmerer nicht gut tunlid), und fo wurde bie Trage bis zur Generalprobe Wr elajjen. Dieſer follte nämlich ber Werhbilchof Leonhard als vom Kardinal Delegierter Zenjor, beiwohnen, und Laube befam bie Weijung, den Dariteller bes Kapuziners, Fri Bedmann, dahin zu inftruieren, daß er bie Rolle móglidjft Jeriós, ohne jedwede Schnurren unb zum Laden provozierende Betonungen —— Eine harte omer für den Romifer, dem es bet older Behandlung der Rolle leicht palfteren fonnte, vor bem Publifum dDurchzufallen und von ber Kritik ,verrijjen" zu werden. Mochte es bie Unluft darüber jein ober eine tate fächliche ——— mit Laube unter ges eimem —— urz, Beckmann ſprach ei der entſcheidungsſchweren Probe ſeinen Part ſo gre leierte ihn bermaBen ge: prm. ig berab, daß ber ?Bildjof ers lärte, fo wie ber ,Ufteur” bie Rolle ge: fpielt babe, fet burdjaus nichts Anſtößiges daran, er habe feine Aufgabe jehr „würdig“ elójt. So ging man denn getrojt an Die alavorjtellung. Aber an dem großen Abend nun, ba tam’s freilich anders: da war Bed: mann nicht zu halten, da bonnerte ber Kapuziner drauf los, daß ein fortbrau- fender Lacdhdonner bes Haujes darauf ant: wortete. Laube jab ben Grafen Lando- ronsti in oa Loge mit finjter gefurdter Stirne dafigen unb u am nddjten Tage die Exzellenz äußerft augetnóp[t. Aber es elang Laube, das Prdvenire zu Ipielen. Gr trafwährend des nadmittagigen Cpagier: ganges tm Prater, wie es häufig gejchah, aud) diesmal den thm wohlgeneigten Erz: berzog Franz Karl, den Bater bes Raifers, der ihn gewöhnlid, anzujprechen pflegte, um fid) mit thm über das Burgtheater zu unter: eo 0 od es aud) jebt, und bas e[prád) wandte ſich natürlich fofort auf i Memor: BEESSSSSSSSS3S3S33333 den GFeftabend. „Nicht wahr, faiferlide Ho⸗ heit“ — meinte Laube im Tone arglojefter Uns verfänglichteit — „der Bedmann hat feine Gade ausgezeichnet gemadt, gerade, weil er fo gar nicht übertrieb, das hat die Wir: fung nur nod) vergrößert.” Zuftimmend erwiderte der Erzherzog: „Sa, ja, Gie aben recht, id) unb meine Gophie, wir aben uns halbtot gelacht, und auch dem aifer, meinem Gobne, find faft die Tränen vor Laden in bie Augen gefommen.” Seinen Borteil rajd) erfaffend, yrug Laube weiter: „Darf id) bas bem Bedmann jagen und ihm bas Lob Eurer a eb Hoheit mit: teilen?“ — „Sa, gewiß, tun Gie’s nur, er verdient’s, er und die Nettich haben geftern den Apfel abgejdojfen!” war die Antwort bes Graberaogs. it Diefer Grmüdjtigung eilte Laube an dem Abend noch zum O $us fämmerer unb von ba ins Theater, bie frobe Botjchaft zu bringen, daß ls bas drohende (emitter tm eitel Connenjdjein gewandelt hätte. GFreilid) mußte „MWallenfteins Lager“ trogdem bis zur Sdillerwodje von 1859 warten, um feinen Blak im Repertoir bes Burgtheaters dauernd einzunehmen. 8 8 Ein anderes Mal hätte er beinah direkt am Kragen gefaßt werden können. Da war das Un⸗ eheuerliche geſchehen, das kaum Auszuden⸗ ende, daß unter dem Regime des Konkordats egen dieſes Konkordat im Burgtheater eine aute Demonſtration des Publikums ſtatt⸗ finden konnte, deren Impuls von dem auf der Bühne Geſprochenen ausging; das aber, was da geſprochen worden war, das hatte kein andrer, als der Direktor des Theaters ſelbſt geſchrieben, er hatte es dem Schau⸗ ſpieler in den Mund gelegt, ſo a die eigentliche Berantwortlidhteit für bie fatale Demonitration nur Hn treffen fonnte. Das war nämlih, als Laube fein Trauerfpiel „Montrofe” auf die au brachte, bas Drama des treuen Partijans der Stuarts, des Roz mantifers ber Legitimitdt, der feine Treue mit dem Ropfe büßte. Montrofe verteidigt aber in dem Stüde bie Souveränität jetnes Königs auch gegen die Herrjdaftsanipriide der anal enden Beiltlichkeit, und er hält bieler einen GStrafiermon, der ebenjogut auf bie öſterreichiſchen Ronfordatsmanner gedeutet werden konnte. Das Burgtheas terpublitum deutete ihn aud) fo, und ein febr erlaud)ter Herr joll am folgenden Tage geäußert haben: „Jet weiß man bod) wenig: itens ein biBdjen, wie bie Wiener über bas Ronfordat benfen.^ Als unvermeidlich wurde hierauf irgendeine Maßregelung des Dis reltors erwartet; bod) nicht einmal von einer gelinben Rüge erfuhr man etwas, das gefährliche Stüd wurde fogar einigemal wies derholt und verjd)manb mehr aus Mangel an nad)baltiger Teilnahme bes Publitums, als auf ein nachträgliches Gebeig der Zenfurs telle der Hoftheater. Die fid) allerdings nur elbit hätte besavotieren müflen, denn fie hatte ja alle bie bebentlidjen Gage durchge: — en — — — — — — —— ——— ESSSSSSSZIZI Aus Heinrid) Laubes Wiener Theaterzeit. BESSSss4s 53 laffen, offenbar weil fie den richtigen Bezug jo wenig herausgefühlt hatte, wie fie im Vormärz Fühlung a gehabt hatte, daß Bauernfelds Luftipiel „Großjährig“ eine ftarle Gatire auf Metternich und fein Syftem erhielt. Und fo hatte Wien das Gaudium genoffen, den gefürdhteten Staats: fangler und fein Polizeiſpitzeltum usd ber Bin bes een onbentere verhöhnt u on Ein leijer Borflang ber naben- en dr3revolution — burdjaitterte damals Wien — dank ber leichtnehmerijchen Befäl- ligteit der Hoftheaterzenfur. Dabet war man bod) fo Klug, von einem nadjträglichem Ber: bote abgujehen, weil bas ein ?Befenntnis emelen wäre, dab man jid) getroffen fühlte. nd wer weiß, ob nicht der und jener große Herr fid) jogar vergnügt bie Hände rieb, daß dem ud „oben“ nidyt durchweg geliebten Fürſten Metternich ber Schabernad gefpielt worden war. 8g 8g B] Syene jharmante Geneigtbeit, aud) Ernftes unb I nidjt allzu ernit zu nehmen, wodurd in der öſterreichiſchen Welt mitunter die Härten eines Regierungsiyitems gemildert wurden, fonnte von Laube aud) in geringeren Angelegenheiten, wo es gerade nicht um Grundjablihes ging, jonbern vielleicht nur einen feiner Schauspieler betraf, ausgenüßt unb für feine Ablichten gebraucht werden. Das führte manchmal zu allerlei Ergößlichem. So, als —5 — Baumeiſter einmal dicht vor der Entlaſſung ſtand. Der war befannt: lid in den jungen Sahren zuweilen ein all- gu luftiger Bruder und durch vielfachen NIE ereits übel bet bem „Exgellenzherrn“ an: Sen und Laube batt thn [don ers ermabnt. Nun gejdabh es bet einer ufführung der „Makkabäer“, daB ber flotte Bernhard bis gegen die Theaterjtunde in in muntrer Gejellihaft gemittagmahlt atte, mehr bes Tranfes als der Gpeife eflijjen, und in äußerſt angebeiterter Stim: mung ins Theater fam. Er hatte nur eine Szene, aber eine ziemlich bedeutende gu ptelen, und da ließ er fich’s einfallen, den bilden Bürgersmann, ben er zu mimen atte, in ber Eprache fo „national“ wie möglich aufzufaſſen, das heißt, die Rolle zu „maujcheln“ — wohl zu lebhafter Vergnüglichkeit eines Teiles bes Publifums, weniger aber zur Er: öhung ber tragijden Wirkungen bes Ctüdes. ufältg war Laube, ber jonft wenig Bors ellungen auszulaſſen pflegte, nicht im Haufe, aber der Graf war da und entjandte auf der Stelle von feiner Loge aus einen mit Bleiftift gefdriebenen „Strafzettel“ in bie Wohnung Laubes, worin er feiner Entrüftung über bas Borgefallene Ausdrud und die Weifung gab, den gen am nüdjten Tag At ihm vorguladen. Baumeilter jchlief bes Diorgens nod) feine ungebührliche Setter: feit aus, als er Durch bie fchleunige Berufung um Direftor gewedt wurde. Diejer empfing ibn, wie ſich's erwarten ließ, und ftellte ibm bas Schlimmite in Auslicht; er miijfe unverweilt zur Exzellenz, bas Geſchick über i ergeben lajjen. Er, Yaube jelbjt, werde ofort nad)fommen, zu verjuchen, ob jtd) nod) etwas bejjern laſſe. Bellommen trat ber Delinquent in bie Kanzlei bes Ober: fámmereramtes, wo ihn ber Qebilfe bes Hofwürdenträgerss und eigentlidje Be triebsleiter, Hofrat Raymond, ein Typus © des bald — bald urgemütlichen Wiener Hofbureaukratismus, zu ſeiner erfreuten Aberraſchung d gerabe ab: Ihredend empfing: „Hab’ jdjon g'bórt — na, bös is der Braf g’nug, wütend, geben’s ihm nur fa’ Antwort, laffen’s ihn nur reden, wenn er a nod) fo jchreit und jdjiimprt — dann hört er ſchon von felber auf. Uns, mir und meiner Frau, wars a unbändige Heh’, wir waren a im Theater drin und ab’n uns budlig g'ladjt bei der Szene.” as war immerhin don eine aufmunternde SMuftration zu der „Übereinjtimmung der behördlichen Anjchauungen”, und einiger: maßen berubhigter überjchritt Baumeifter bie Schwelle bes Ichredlichen Grafen. Aber nur, um wenige Minuten darauf fdon wie ein begojjener Pudel herauszulommen. Gar nicht zum Worte hatte ihn Exzellenz fom: men laffen, jondern ihn mit einer Flut von eaten iter empfangen, bie fid) in den Schlußruf ergoß: ,Hinaus — Gie Jind ents lafjen!“ Da ftand er nun draußen — und da [tanb aud) [don Laube, den fláglidben Bericht entgegengunehmen. „Ich Dab's Shnen ja gelagt, wie es fommen wird — aber warten Cte ein bißchen, ich will’s bod) nod) riskieren, ob fid) was tun läßt.“ (ine y e Stunde bangen Wartens, dann fam aube wieder heraus. ,Danfer Ste bem lieben Himmel, bas Virgfte ijt abgetvenbet, die Cntlajjung ijt guriidgenommen, aber zwei Monatsgagen Strafabgug, dagegen ijt nichts zu tun.” Und er ging. Als aber Baumeifter ibm folgen wollte, öffnete fid) bie Türe des Nebenzimmers, und Hofrat Raymond wintte "à nochmals zu fid) hinein: „Weiß jchon, weiß fchon, ight Monat Ub: gug, bas wird Ihnen halt |djmer werden, is eh’ ſchon fo viel auf Ihre Gage vorge: mertt. iffen’s was, werden wir Ihnen alt 500 Gulden Vorſchuß geben, und bie älfte davon wird glei’ auf bie Straf’ abs og'n, bie andere Hälfte fónnen's a ra 0, ba haben’s bte nn an die Kaffe.” Und anjtatt der gefürchteten Entlafjung trug Baumeilter bie Anweiſung auf 250 Gulden bar mit fid) fort. Das war |o ein Exem: pel von ber Ronjequeng im Negierungs: ſyſtem, denn nad) der Mtethode ging's mand) mal aud) im großen. Man fam oft am Schluffe zu ganz entgegengelebtem Refuls tate — und jo semlig) jedes Departement a. feinen „Hofrat Raymond“, ber bas ejorgte. Mit dem „Iheaterhofrat“ Hatte aud Laube n gu tun und au pattieren, als mit dem Cxzellengherrn felbit, und er fam auch bejjer mit ibm aus, weil bod) mehr E i 1 1 q i i aw WW ws Gu NC. ~ oA — — — = — — —— — [110.2 0 20:0. von dem gefunden Inftinfte des Wiener iin Ar in dem Herrn [tedte und er dadurch leichter aur richtigen Einfiht zu bringen war. Zu allerlei Rompromijfen und Konzeſſionen hieß So bequemen, die gus weilen wunderlicher Natur genug und über bte Maßen djaratterijtijd) für bie Verhältniſſe waren, unter denen die „neue Ära“ zu idjaffen hatte. (Zo, als es ſich darum handelte, Schillers „Räuber“ endlich bod) im Burgtheater durch⸗ guile en, was eine der eriten Kühnbheiten aubes war. Denn bis dahin, bis zum Sabre 1850, hatte bas „ZTeufelsjtüd” nicht auf die Bretter der Hofbühne ftommen dürfen. Nun endlich wurde denn dod a bie bringlidjen WBorjtelungen Laubes ebórt, baB es eine vor ber E ulturwelt fompromittierende Lüde Des Burgtheaterrepertoirs fet, das erfte Ctüd bes geliebteften Dichters deutſcher Nation ausgeichloffen zu halten. Go betam Laube Ihliekli bie Bewilligung — aber unter welder Bedingung? Dab bie ,, Rauber“ nie an einem Gonntage gegeben werden dürften. Und warum? Nicht etwa, weil das Gonntagspublifum dod mehr von jenen Bevdlferungs|didten enthalte, auf eren leicht entzündliche Gemüter bas ges Kane tüd Ichlimmere Wirkungen üben önne — fondern weil am Gonntag bie Söhne des Herrn Hofrats aus dem Er: pruden oft den Eltern nad aan amen und am Abend gewöhnlich ins Burg: theater geführt wurden, bie Knabenjeelen aber vor bem Böſen gewahrt bleiben mußten. Im Kompromißwege gelang Laube aud) das nicht minder Überrajchende, unter den gleichen Zeitumjtänden Wugiers „Fils de Giboyer“ — „Der Pelikan“ war ber deutjche Titel — troß der in flarjter Deutlichkeit ausjtrömen: den antiflerifalen Tendenz aufs Burgtheater bringen und als Zugftüd belajjen zu fonnen. Er gewann den Hofrat, dejjen Vorentſchei⸗ bung ber Graf meijt einzuholen pflegte, Dadurch, daß er ihm plaufibel madjte, bird) eine Umänderung des Herben Austlanges des Driginals in einen „guten Ausgang“ werde auch bas Tendenziöfe des Ctüdes weggeiche oder wenigitens paralyfiert. Go wurde der ,Spelifan^ gegeben und wurde ortgeipielt, troßdem auf der Rirdenfangel agegen gepredigt wurde. Man ma heute über die Wingigteit folder Herumbal: gereien und Spintifierungen lächeln — da— mals batten fie den Ernft und die Bedeutung wirklicher Rampfe und wirklicher Siege. Manchmal freilich wurde der felbftherrliche Ginn Laubes der Kongejfionsmaderet und ber Nüdjichtsnehmerei müde, fo farg er im Brunde damit verfuhr; und da fonnte es pajfieren, daß er gerade bei ber unjchid- lichten Gelegenheit feinen Kopf le den „Starrſchädel“ — nicht ohne innere Beziehung hat er feinem jungen Helden in dem Roman „Der beut|dje Krieg“ den gleidjffingenben 9tanten gegeben. Ein folder Vorfall ereignete (id) bei einem Beluche des Königs von Breußen, b:s nachmaligen erjten deutfchen Raifers. Der König hatte ben Wunſch geäußert, die Wolter in einer ihrer neuelten Rollen p jehen, und ba ber hohe Galt nur für — Pa in Wien verblieb, befam Laube die Weilung, am folgenden Tage gleich das erade im Schwunge befindliche franzöſiſche haufpiel „Die eine weint, bie andere lacht“ anzujegen. Da beging er nun bie Unbegreif: lichkeit, guriidgumelden, bas Nepertoir wäre De in anderer Weile feitgejegt und eine bänderung unmóglid. Das war einfach eine Ungegogenbeit, und nur dient bene lid) war es, dak lid) bas Hofamt bird) bie Weigerung des Direktors nicht behindern faffen fonnte, aus eigener Kompetenz bie nötige Bejtimmung zu treffen. Am nádjten Morgen wurde Laube burd) den Theaters ettel überrafcht, ber bte von ihm verweigerte orftelung anfünbigte. Das wieder war eine offene Desavouierung der Autorität des Direktors, worauf nad allgültigen ‚Begriffen nur mit ber Demilfion geantwortet werden fonnte. Ein paar Tage hieß es denn aud wirklich in Wien, daß Laube feine Entlajjung begehrt hatte — aber bie Sache verlief ohne jedwedes äußere Folgezeichen. Laube mochte wohl ehrlich genug gegen fich lelbjt gewejen fein, tee en, daß er im Unredt war, und er fühlte fid) gu felt an jeine „Miljion“ ge: flammert, um wegen jo eines neben ählicjen Zwilchenfalles, ber nur ihn perjönlich, nicht das Theater traf, davon zu lalfen. 88 8 Ja, von einer „inneren Miſſion“ mußte eiprochen werden, wenn man das Richtige eines Wefens treffen wollte. Der Name des „Theatermijfionärs“, der ihm wegen feines wahrhaftigen Theaterfanatismus gegeben wurde, ijt bis heute durch feine darafte: riſtiſchere Bezeichnung erlebt worden. Das Theater war thm fafttid) eine en ites die er mit dem leidenjchaftlich zähen Eifer eines $Befebrers betrieb. Mit der Pietat, mit der überzeugungsvollen ch ash einer „Bemeinde” Dingen auch bie Geinen, das heißt feine Schaufpieler, bie unter ibm emporgewadjen, an ihm. Aber aud) den Älteren flößte bas 9telpeft ein, für eine längere Weile wenigitens. Man fprad von dem „Alten“, vidt wie in her Familie von Water und Großvater, nicht wie im Regiment vom Öberiten, jondern eben mit ber m irchtigen Zutraulichkeit von „Bläubigen“. enm er bet den €ejeproben für einen pili verhinderten Hauptdarjteller eine erjte Rolle las mit einer merfwiirdig plajtijden Buss drudsgewalt des Bortrags, bie mande Movitat bet einer ſolchen Lejeprobe wirfungsvoller erijcheinen ließ, als fie jid) bann bet der Aufführung erwies; wenn er at der Probe Betonung und Gejte und Zufammenipiel den Leuten jo vormadte, dag bie Szene aus dem wirren Dunfel in das helle EA rüdte, dann Hordte und ſchaute alles, a wären’s Licht und Laut einer Offenbarung. Dabei wars aber durchaus fein finfterer, ^ —-———— o— — ESeeseeeoseesa Aus feinrid) Laubes Wiener Theaterzeit. ESSSSIS4 55 — das Lachen ſcheuchender Kultus — in heller Fröhlichkeit, mit unbehindertem Ulk, beabſichtigem oder zufälligem, wurde da des Dienſtes gewaltet, und der „Alte“ elbſt gab manchmal das Signal dazu, auch ald bewußt, bald unbewußt. Immer aber, ohne den Reſpekt zu verletzen, denn alle, die Tollſten ſelbſt, hatten es inne, wie weit man gehen durfte. Gleich wieder Vaumeiſter, zum Beilpiel. Bei ber Steu|genierung des „Prinzen von Homburg” hatte er einen der Dffiziere des Kurfürften zu fpielen, bte auf dem Schlachtfeld Bericht an geben haben. Er fommt aber fo gründlich unvorbereitet zur Probe, daß er, um ni ann ſtecken u bleiben, was bei Laube das Argſte war, in — egen die Kuliſſe gewendeten Stellung allen erdenklichen Kauderwelſch —— mit einer Überſtürzung, wie e der haſtenden Aufregung der Szene wohl entiprechen fonnte. Ringsum entiteht ein an verhaltenes Gefidjer. „Was gibt's?" dinarrt Laube der Gruppe zu. „Bitte, Herr Direktor, Baumeijter... .“ beginnt eine verlegene Erklärung, bie aber von Laube {dary unterbrochen wird: „Was jol’s? Herr Baumeilter hat jeine Sache jebr gut gemadt, fehr gui!" Der „Alte“ batte wirklich nur eine fünftlerijd) planvolle fiberpurgelung des Wortes bis aur Unverftdndlidfeit wahr: unehmen geglaubt. Ein andermal wieder batte ber námlidje Inhaber bes Ulkprivilegs, bas in |páteren Jahren auf Hugo Thimig fiberging, bei ber Probe ber Birchpfeifferjchen Komödie ,9toje unb Nöschen” an einem Abſchluß den Sat zu bringen: „Reden ijt Silber, Schweigen ijt Bold“ — er aber, des Textes unficher, nad) pilinttlider Ge: flogenheit „verheddert“ i und ber Caf autet nun: „Reden ijt Schweigen, Silber tft Gold!” Laube hordt auf und poltert eraus: „Was ijt bas für ein llnjinn?" aumeijter, erjchroden, will fih ents Ihuldigen, Laube aber winkt thm mit ber Hand, zu jchweigen, finnt einen Moment und gibt bann die Order: „Ste fónnen bas auch bei der ann [o jagen, vielleicht wirft’s.“ Gein Obr mit der ficheren Theaters witterung hatte aus dem Unlinn bie Wirkung hberausgehört. Allerdings [chrillten €aube im Laufe ber Jahre auch ſchwere Mißklänge da ae Es geihah ihm, was jo mandem Begründer widerfahren ijt, der fein Werf auf Tee Grundlage geltefít hat, daß er felbjt bar- fiber entbehrlich wurde. Dann bat man bie Muße gewonnen, fid) mit den Fehlern des fchöpferiihen Mannes zu beichäftigen, die wi gm ber enden Schaffenszeit geduldet oder ganz überjehen wurden. Dann laubt man, jid) gegen ben Drud jeiner Pihrenden Autorität auflehnen zu können, weil bas Gefühl ber, eben burd) ihn, ein: gejtökten Gelbjtändigfeit in den Adern endig geworden ijt. Laubes Wert im Burg: theater war in den fiebgehn Jahren feiner Direktionsführung wirtlid getan — und „der Mohr“, der „gehen fann", ijt eine der unfterbs lichſten und allgegenwärtigiten Figuren ber großen und Heinen Menſchenkomödie. Erwar immer „unbequemer” geworden, und man jebte ibm einen Generalintendanten als Oberfon- trolleur auf ben 9taden, weil man wußte, = er das nicht ertragen und freiwilli eben werde. Die Nachricht, Daß aube au einer Entlafjung beftehe, war höchſten Ortes nicht als willfommen begrüßt worden; man hatte hier bie vom Ober|ttdmmereramt por; geiägtagene Grridjtung eines fpegiellen Hof: heateramtes afgeptiert und als eine innere Gade ber Hofverwaltung re ber lig Die Hoftheaterdirettoren — Jelbjtveritánbli fügen würden. Und nun, ba, feitens bes einen Direftors wenigitens, bas Gegenteil efdjab, konnte man nicht mehr zurüd; man onnte das bereits eingerichtete Amt nicht nach wenigen Tagen jdjon wieder faffteren. An bielem Naturgejeße, fo zu jagen, eines jeden Verwaltungsorganismus mußte bas befte Wollen aud) hi sie a Perfönlichkeiten rn Erzherzog Franz Karl, ber Laube etne freundliche Gejinnung ungehindert bes wahrt hatte, der, wie er ibm ausdrüdlid) jagte, id) gar nicht vorftellen fonnte, was man im urgtheater ohne Laube anfangen werde, erflärte fid) erbötig, mit allen betreffenden en zu |predjen, um bas ?Berbleiben aubes zu ermöglichen. Diefer nahm das gnübige Wnerbieten dankbar an, jagte aber bem Erzherzog voraus, daß es nichts helfen werde. Und der Vater des KRaifers mußte ridtig am nächſten Tage icon eingeftehen, daß es tatjád)lid) nichts geholfen habe. Die Mutter des Kaijers, rahergogin Sophie, ers flirte bem ſcheidenden Direftor in der 9tbidjiebsaubiena, auch je fönnte fid) nod) immer nicht benfen, bap Laube nicht mehr Burgtheaterdireftor fein follte. Der Mons ard) jelbft ftimmte ihm ausdriidlid) darin gu, daß ein Direftor allerdings bas Roms mando in den Händen halten miüjje, und meinte nur lächelnd: „Nun, (Cie haben ded tommanbiert.^ Das waren ja aud in dieſen allerlegten Jahren die Klagen ber Schauſpieler gewejen, ber alten eben natürlich voran, auch jolder, bie ben Direftionsantritt Zaubes mit Jubel begrüßt, ja einiges dazu getan hatten, ihm die Wege zu bahnen. Das Zufallsipiel ber Lebens» und Todes» Ihidjale fügte es, daß nur wenige Tage, nachdem Laube begraben worden, unweit von feiner Rubheltatte abermals ein Grab für eine Burgtheaterberühmtheit aufgeworfen wurde — für Amalie Haiginger. Ihr Haus war bas erite Rünftlerheim ber Burgtheatere leute gemejen, bas Laube bei feinem allers eriten Befud) in Wien als Baft aufnahm, und fie und ihre Tochter Louiſe Neumann o ihre einflußreiche Geltung in den offreijen zur Empfehlung des fremden Mannes eingejeßt. Und aud fie hatten dann das Klagewort über bas „ſcharfe Kommando” mit ebenjo fdarfem Akzente weitergegeben und Hatten eine führende DE — 4 — Pme BA rt qe —- me: 2 ee UF um " a: 2 D — PRIME * — — — — — —— cL ee — — ^ imm dam 9 MEME eee COP 56 ESSSsSsssy Memor: Aus Heinrich Laubes Wiener Theaterzeit. RRRBGSSS Stimme in dem Klagechor gehabt — der datas nicht lange, nachdem die Entfernung aubes gelungen war, ein gang andres Klagelied hören ließ. Die Schaufpieler m eben wie bie Menſchen — unb bie enjden wie bie Cdjaulpieler. 8] Der Abgang vom Burgtheater marfierte eine ſcharfgezogene Gcheidelinie in der Theaterarbeit Laubes fürs Theater; nicht äußerlich nur, auch innerlich. Nicht daß aus bem SjortDeaterbireftor, ber fid) nur um den &unjtbeitanb feiner Bühne zu fiümmern batte, ein Privatdireftor wurde, für den es aud) Geldjorgen gab, nicht bas bildete den Hauptunterjchied ber beiden Lebensphafen — in jenem Grundzuge feines Wefens, der in dem Chrentitel vom Theatermiſſionär“ einen Ausdrud gefunden hatte, trat eine auf ällige Nuancenänderung ein. Aus dem Millionär wurde ein Geltierer. War er im Burg: theater getvijjermaBen Haupt einer herrichen: den Theaterfirdhe gewefen und hatte in gelicher er Autorität feines Amtes walten önnen, jo nahm er an der Cpibe bes für ihn und durch on ins Leben gerufenen Stadttheaters die ftrettbare Unduldjam: leit eines lämpfenden Geftenfiibrers an, ber um die Herrichaft, aber damit zugleich um die Exifteng feiner neugejammelten Schar ringt unb der die Parole der Intranfigenz ausgibt: „Wer nicht für mid) tit, ift gegen mid.” Aus ber Charafterverjchiedenheit des Gejellidjartsbilbes merkte man das, wenn man jest zur gewohnten nadjymittügigen Emp: fangsitunde, an der er feitgehalten hatte, mn jeinen Salon trat unb die jebige Tafel: runde mit jener einjtigen verglid) in bem alten Sauje im engen — vom „Stoß im Himmel“, wo die Wiener Burg: theaterwelt ihren Mittelpunkt gefunden hatte. Und das war bod) in einigem Ginne bie Wiener Kulturwelt gewefen, fo daß, wer die ro diejer wirklich theater=hiftoris iden Ntachmittage gejchrieben hätte, damit ein Stüd Wiener Kulturgefchichte Ieijten fonnte. Eine war aud) jebt ba in bem neuen Gejelljdaftsraume, wie fie damals ihm eine Nächitlebende und 9tádj[tit&enbe gewejen war: bas war jene Gattin, Frau Iduna, deren Auge mit oft befümmertem Blide nad) bem Gatten hinüberfchaute, wenn er in een Angriffen auf bie Begnerjchaften in en SjojftDeaterfangleten, in den Rrititerftuben polemijch heftig wurde. Er war reigbar empfindlich gegen Widerjprudy geworden, und bie edelgeiftige, ibm auf den Geelen- rund fchauende — litt darunter, weil ie erkannte, daß auch er im verborgenen nneriten litt und ſich nur über Den Unterſchied von einft und jebt binwegtdujden wollte. Gewih, er hatte ben Zauber feines Namens und feiner Sahne wirfen er in einer Art, bie an WMallenfteins Werbetrommel erinnern mochte, als er im Nu bie neue ER A um fid) [ammelte und aus bem gujammengewiirfelten Haufen ein organijdes Ganges jchuf. Gewif — der Grundgedanke dieſer Schöpfung eines Stadttheaters, eines ückſichten gefeſſelten Theaters des oftheater gegenüber, war Jahr⸗ an keine Bürgertums dem ein re richtiger — bas, zwei ehnte |páter auf gleicher Grundlage ent: frandene „Deutihe Volkstheater” erwies es in Wien, wie es in Berlin das „Deutliche Theater” mit feinen verjchiedenen Nachfolger: Ihaften tagtäglich erwiejen. Aber zur bó: jcjten Zeit war das Stadttheater geldjajfen worden, graujam war der furdtbare Börjen= frad) von 1873 in den jungen Bau hineinge: | ſahren und Laube mußte bitter erkennen, aß ihm das unerſchütterliche, alle Gefahr eines Wankens ausſchließende, Fundament des Hoftheaters fehlte. Und ihn beſonders ſchreckte die Geldſorge; denn er war unbewan⸗ dert in Geldſachen, wie man's nur in der Burſchenzeit ſein kann — der „alte Burſche“ war ja immer noch in ihm ſtecken geblieben, und man glaubte ihn immer am Ziegenhainer iprenger gu leben. Aber nicht die ftudentijde orglofigtcit tm Beldausgeben jaB ihm im Blute, Jondern im Gegenteil, die mit bem Pfennig rechnende Sparjamfeit bes armen Studenten. Das zeigte lid) aud) in jeiner Hausführung, die nicht a ae edacht werden konnte. Das zeigte jid), wehmütig fomij bet jeinem le&ten Abſchied von Karlsbad — adjtunboiergig Sommer hinter: einander war er ba gewejen und hätte in zwei Jahren Gprudeljubilar fein fónnen — als er, ein Cterbenber fdon, bie Kur abbredjet und mad) Wien zurüdgebradht werden mußte; da nee ihn, den wohlha⸗ benden Dann, bie Gorge, daß er in jeinem Zuftande dod nicht mit anderen et bli im Rupee beilammen S ebenjowenig aber bie Rojten für einen jeparaten Calon: wagen opfern finnte. Die Bahnverwaltung D Ü aus ber Not, indem fie rejpeftvoll ein um Geparatfupee zur api pu jtellte. Und jo war er aud) im Theaters wefen allezeit etn großer Sparer gewejen. Über allzugroße Leichtigfeit im Erwirken von Gageaufbefferungen und Vorſchüſſen hatten jeine erflártejten Giinjtlinge nicht viel pu erzählen, und als der ihm liebſten einer, er AÄAtzkünſtler der Charalterlomit, Karl Meixner, ihn erneut um eine derartige Vers ünftigung anging, befam er bie |partanijche ntwort: „Das fann ich nicht, lieber Meixner, weil man weiß, wie gut Freund wir mit: einander find.” Worauf der verbiffene Kos mifer meinte: „So muß t Don warten, bis ein Feind pon mir hr Nachfolger wird.” Gerade |o wenig aber hatte ſich die oftbeaterfajje je über Berjdywendung im usitattungswelen zu beffagen, denn bier fam zu ber privaten Gparjamfeit Laubes auch feine prinzipielle Abweiſung fzenifchen Prunkes, der ibm die Alleinherrichaft bes „Wortes“ beeinträchtigte, auf bie er eim: ejhworen war. So madte er es denn aud) tm Stadttheater, wo es mehr als einmal vorfam, Dak er ftd) weigerte, für ein modernes EEISSZSZIISISTZIZTFA J. Lauff: Die tote Stadt. BESSSSSSSS334 57 Salonftüd, auf bas vielleiht große Hoff: nungen gelebt waren, bie erforderlichen neuen Möpbeljtüde anidjajffen zu laffen. Es fam vor, daß ber über folde „Schmutze⸗ reiten“ geärgerte, viel leichtgläubigere Prajis bent bes Verwaltungsamtes, Baron Friedrich Schey, ber ihm aber doch nicht bireft ent- egenhandeln wollte, ben Ausweg traf, aus feiner Wohnung die eigenen Möbel ins Thea» ter transportieren und fie ,leibweile" auf der Bühne prangen ließ. a bie „Beldleute”, bie bas Theater „finanziert“ hatten, waren es nicht, die bem Direftor mit ihren Klagen das Leben jauer madten, als die Bejchäfte ſchlecht zu geben anfingen. Der Baron Schey namentlidy, ein Gelb: Bun mit ben Allüren ber Renaiſſance⸗ äcene, Datte einen heillofen Rejpeft vor Laube, von dem er fid) abfangeln eB, als ftände er in Abhängigleit von ihm, jo daß er manchmal wie ein ausgeldjoltener Junge zu rau Laube ins Haus fam und mit wahrem Balgenhumor ihr meldete: „Heute war Ihr Gemabl wieder recht hart mit mir.” Und da war ein anderer Geldmann, Baron Meyer, ein aum Progentum neigender Baujpelulant, der „Häuſer-Meyer“ genannt, ein großer, ftarfleibiger, breitjchultriger Herr, der Pe rainpite förmlich aujammen, wenn ihn -ftaube ſcharf anließ. Es war bas berljelbe Theaterverwaltungsrat, bem bie damals viel erzählte Wnekdote galt, er habe bei ber Aufführung der indifden „Sakuntala“, als am Schluſſe ftürmifche Hervorrufe ber Schau: fpieler ertönten und er auf dem Theaterzettel den Autornamen „Galidaja“ las, unges — gefragt: „Aber warum fommt denn der Galibaja nit?” Alſo aud) diefer Ge- wichtige zitterte vor Laube. Wie gejagt, bie Drum gib mir Deine Hand... Da tönen die Kirchengloden, Als wenn fie auf weichen Soden 3ögen durchs Stille Land. Durd) Brügge geht allnadtens Ein Nönndyen mit liebem Geficht, In Hülle und Stirngebänden Und hält mit weißen Händen Ein mattes Kerzenlicht. Die tote Stadt. Ins Flandernland wollen wir fahren, Da dunklen ein die Fenfter, Ins Flandernland wollen wir fahren, Im Flandernland i Da deden die Sterbelinnen Das traurige Sehnen und Sinnen Und alle Liebe zu. Joſeph 2auff. Beldleute waren es nicht, denen es zuerft bange wurde; ihm jelbjt ging es gegen das Bewiljen, es verdarb ihm die Luft an der Gade, ins Ausfichtslofe hinein zu arbeiten unb bie braven Leute ihr Geld aujdjieBen zu leben. Darum inß er, das Theater anderer Leitung zu überlaſſen, die, nicht mit ſo künſtleriſcher Verantwortlichkeit beladen wie er, im Repertoir den Zug der „leichten Reizungen“, nad) feinem Ausdrucke, frei atte. Aber das Haus ſchien wirklich nur ür ihn gebaut worden zu ſein — als er es verlaſſen hatte, brannte es nieder. | Dod von feiner Warte aus, im oberiten Ctodiperfe eines —— blieb der Blick des von Jahr zu Jahr kränker werdenden Theatermiſſionärs auf bie Brand» ftätte gerichtet. Nicht tn fühllos trauerndem alt aber — nein, um bas etwa mögliche teberer[teben aus bem Schutte zu erichauen. Zufällig jaB der Schreiber diejer Erinnerungen erade bei ihm, als die Nachricht von bem ranbe bes Stadttheaters fam. Ins page Mark hinein erjditterte er, wie man ihn nur beim Tode des einzigen Sohnes und ber als guten SHausgeilt verehrten Frau geleBen. „Un biejem Tiſche ba —" flagte er „babe id) mit bem Architeften Fellner die Baupläne des Theaters [tubiert und an diefem Tiſche erfabr' ich jebt jeine Bers nidjung.^ In ber nadjten Stunde aber fprad) er von einem Bauplat jenjeits bes Ringes, wohin das neue Theater gebaut werden müßte. Und in den lebten Karls: bader Tagen unterhielt er 2 mit feinen allergetreujten Alexander Strafofd nur von dem, fanatijd in Sicht bebaltenen, neuem Theater, von neuen Stüden und neuen Schau« Iptelern. — —— — Kein Laut vernimmt das Ohr; Die Muſſelingardinen, Die eben noch roſig umſchienen, Sind jetzt wie Trauerflor. Am Himmel iſt leiſe Bewegung, Die Sterne ſind erwacht Und fallen mit heimlichem Koſen Als weiße Kirchhofsroſen Nieder in ſtiller Nacht. Ruh'; «> > Ie > XXX Se ee UK. UE UO. OC. 0L 2C 2C. 2 A <> ÁÀ U UJ l i ( U 4 I i I ' cc ee 00 Die Fahnentragerin. Novelle. Von Marthe Renate Filcher. ejeda trat aus bem Rranfenhaus. Cie hatte ihre ſchmächtige fleine Geftalt gegen die Kälte ver: y wahrt mit ſchwarzem, furgen, berben Mtantel und früftigem Schuhwerf. Als Schuß des Kopfes trug fie einen Ian: gen, wollenen, jchwarzen Spitzenſhawl doppelt herumgebunden. Haar und Augen waren braun, das Geſicht jamal. Cie war vierzig Jahre alt. Das fab ihr aber feiner an, trobbem ihre Haut jonnengebráunt war. Denn [ie hatte von ber Kindheit her einen Iodern, Iojen Zug um Mund und Augen behalten, der all: gemein auf eine Lebensauffalfung bes leich- ten Herzens zurüdgeführt wurde, zu ber fie eigentlich feine Veranlaſſung Hatte. Sie war nämlich mit ihrer Ehe recht Schlecht gefahren und Hatte ihren Mtann, der ein Trinfer gewejen, gerade verloren, als es den Anjchein hatte, als ob er jid) befjeren Sitten zuwenden wolle. Ein wenig fpäter war dann der bóje operative Eingriff in ihre Bruft gefommen. Elaſtiſchen Schrittes hatte fie ihren Einzug in das Krankenhaus gehalten, mit unge: beugtem Kopfe; [djwere, faum verheilte Narben auf ihrem Körper, war fie daraus wieder hervorgegangen. An allen ihren Taten war bod) ein we: nig ausgujegen. Nur an einer nicht, bie eine Gottestat war, an ihrem Verhalten ihrem Stieffohn gegenüber. Kein Aber fonnte fid) hier einmijchen. Höchitens daß er vielleicht, ber arme Menſch, bie feine, webleidige, mütterliche Tröftung ein wenig hatte entbehren müjjen bei feinem trauri: gen Leiden bes Verwachſenſeins. Ta, fieh! fieh! da hatten bte Gerechten bod) das verfappte Wher gefunden. Aber fie hüteten fich, es mit ihren Zungen breit zu reden, denn der Herwart Töpfer wäre ber Erjte gemejen, bie Trojtmduler zur Nuhe zu weiſen. Refeda war nun fchon eine Bierteljtunde unterwegs. In ihren Händen trug fie ein grünes Ledertdjdden, das ihr Stridgeug enthielt. Cie merkte nicht auf ihren Weg. Alls fie dann endlid) in bie Stadt fam, ging fie fehl. Wdhtete aber auch bejjen nicht jon- derlich, jonbern fand fid) in|tinftip wieder zurecht und langte richtig auf dem Bahn: bof an. Beim Löfen ihrer Fahrkarte zitterte bie Hand, die den Preis erlegte. Und als fie im Abteil fag und alter Gewohnheit ge- mäß ihr Stridgeug Derporgog, um die Zeit nicht ungenubt babingeben zu laſſen, flogen die Nadeln untereinander, und die Maſchen fielen. Der Raum war inhalt: lich wie ein großer Saal. Wn feinen bei- den Längsjeiten liefen Banke hin. Bon der Dede Dingen in zwei Reihen furge, leberbegogene Stränge herab, beftimmt, den Stehenden als Anhalt zu dienen. Bon der Bank gegenüber erhob fid) jest eine Frau, feßte fich neben bie 3Rejeba, bte ihre Majchen ruben ließ unb fragte: „Is was poffiert ?“ ,Jtee—e— !” mit einer Dehnung, bie ihre Unbefümmertheit ausdrüden [ollte. — — — BSSSSSSSsey Marthe Renate Filer: Die Fahnenträgerin. BSSSSSE 59 „Deine Hände flogen doch fo, vorhin,“ jagte die Fragerin. Im Seidjtiinnston gab Refeda zur Ant: wort: „Das ijt wegen der Kälte. Kude Dod...” und fie wies auf die Fenjter, bte zugefroren waren. „Bo warfdt denn Su?" - „Ah, id) war im Krantenhaufe. Die eleftrifche Bahn fährt ja hin. Die fährt einen bis ans Tor, wenn man’s fonjt ha: ben will. Aber ben Grojden fann man erhalte.” „Is wieder was?” fragte die Frau. Refeda lachte und fagte mit forglojer Stimme: „Sie wollen wieder mal [d)neibe." Die andere ftarrte entjebt und ein biß- den teilnahmvoll. Darüber lachte Nejeda nod mehr und fuhr fort: „Ich bin ben ganzen Weg getrappt hin und zurüd. Das ijt Doch jedesmal gut enne halbe Stunde.” Und fie hob ihr Stridizeug, mit Händen, die nicht mehr zitterten, las ihre Mafchen auf und fing zu ftriden an. Cie jtridte [ehr raſch und auf eine leichte, nette Weife, die zugleich etwas Drolliges hatte. Das Leichte lag im Abheben unb Verjchlingen der Mafchen, die wie von jelbjt herzurutſchten und auf die arbeitende Nadel hüpften, und bas Drollige lag in der Handhabung des Fadens, den fie nicht etwa einfach gleiten ließ. Sie widelte ihn vielmehr in der ungefähren Lange des Nadelverbrauds um den Finger herum, aljo in viermaliger Windung etwa, und jtridte thn fo herab. Nun war der Faden: finger bald lang geredt, bald biicte er dicht an die arbeitenden Nadeln heran. Bon welder Stellung aus Refeda dann bie zu- ftändige Schlinge abrutfchen Tief. Bet jedem Nadelbeginn erneuerte fid) aber bie Widlung. Ihre Nachbarin fragte: „Für wen follen denn die ?^ „Für SHerwarten.” Sie ‚zeigte am Ctrumpf, er war ſchwarz, wieviel fie auf ber Hinfahrt gejtricft habe. „Du Iadjjt immer." „Ja, wenn id) fort matre, fajje td) meine Sorgen im Rleiderjchrant.” „Aber in fo enner Situation...” „Sie wollen oo ihren Spaß ho’e.“ Sie meinte die Ärzte im Krankenhaus mit dem Dperieren. Und fie meinte, daß auch barum jie feine *Beranfajjung habe, den Kopf hängen au lafjen. Ta, das war wieder der fürchterliche Zeichtfinnszug, der alle ihre Taten ent: ftellte. Und der zugleich etwas jo Stach: liges hatte, daß er allen Hohn von ihr ferne hielt. Den zum Beilpiel, daß der Unfegen, der fie betraf, die Strafe ihrer Untreue jet. Cie hatte nämlich ihrem erjten Schatz, einem brapen Mtenjden, bie Treue nicht gehalten. (Ys war thm fo nahe gegangen, daß er ledig geblieben war. Aber da fie ihre Unglüdsfälle nicht als foldje empfand, fonnten fie aud) andern fchwerlich als Strafe gelten. Auf diefe Weife [tanb fie außerhalb bes Mitleids, aber auch außer: halb bes Frohlockens ba. Der Zug fuhr durch die gebirgige, thii- ringifche Landſchaft hin, an ben [chnee: beftdubten Bergen vorüber, ohne denen im Magen das mindelte von ben befannten Formen zu zeigen. Dafür [pielte fid) ein Deitres Leben innerhalb der vier Holz: wände ab. Der Wagen war jebt jtarf bejebt. Auf ben langen $jolabünfen war fein Platz mehr frei, und auch der große Wtittelraum wies faum eine Lücke auf. Da [tanben fie oder fagen aud) auf ihren Körben, und ein großer Stebe|trom, aus den verjchiedeniten Quellen ge|peijt, erfüllte den Raum. Ein ganz jonnenftrahliger 9Utenjd) war unter ben Fahrgäjten, ein blonder Arbeits: mann. Verbindlich, gelenkig, mit befrei- ten, großen, beinahe eleganten Gejten, ba: - bei heiter und glüdlich — fo unterhielt er jeine Nachbarn. „Er is e bigden im Dampf,” fagte te: feba woblgefillig. „Die Welt gefällt thm.“ „Ja, er ts betrunfen," antwortete ihre Nachbarin kurz. „Er titt aber feinen was. Er fieht aus wie bie ‘Freude felbjt. Das muß bod) ein eignes Gefühl fein . . ." Freundlich Jah fie dem Menjchen zu, erhielt ihre Stridma: Ichinerie babet aber im Gange. „Meiner, wenn ber was im Kopfe hatte, der war ganz anderfch, ber griff balbe zum Meiler. Dann mußten wir aber flüchten. — Ic) muß lachen, wenn ich dran denfe. Die Kinder verftadten jid) gleich ins Bette. — Das war auch fo, wie er uns malaufhän- 60 Marthe Renate Fifer: ESSSSSSSSZ3S3Z3I gen wollte. Da waren wir aber in Sorge.“ Und jie umwidelte wieder den Finger. Die Lampen brannten nun [djon, ber Bugratterte feines Weges, die zugefrorenen Scheiben ver|perrten ben Ausblid, und die lechs oder acht oder zehn Unterhaltungen ſchmolzen in cin großes, unrubiges Beräufch zulammen — in welchem die Stimme bes Angetrunfenen bie Oberjtimme bildete, ge: Ichmeidig, tändelnd, von [ad)ter Zärtlich: feit durchſetzt und aller Erdenjorge und une nr Rgeſeda verpackte “he Stridgeug in bos Täſchchen. Als ber Zug wieder hielt, ftieg fie aus. Und dann trat fie daheim in ihre Wohn⸗ ftube ein, wo zugleich der Schneidertijch ihres Stiefjohnes ftand. In der Rammer nebenan hatte ein breiter Kleiderftänder, ber Anabengarderobe trug, Plak gefunden und ein Regal mit Zutaten. zur Schneiderei in Schachteln und Heinen Pafeten. „Das is enne Kälte.” Cie legte ab. Auf dem Schneidertiich fab ihr Stieffohn. Ne- ben thm jtand bas ältefte Schweftercdhen von zehn Jahren, dem er das Rechnen nadjabh. Eine Sechsjährige quälte fid) mit dem S'ejebudje. „Ich will ige aufpafjen,” fagte Rejeda, aber fie lachte verjtedt aus Schelmerei. Denn das Mädchen friegte einen roten Kopf vor Unbehagen, und ber Stieffohn blingelte der Mutter zu und berubigte zu: gleich das Kind: „Ich lab mich nicht ab- - jeßen.” Rejeda ging in ihre Schlaflammer und 309 ji) um. Darauf verjorgte fie bas Vieh und madte bas Abendeffen. Und bann ſaßen fie und jpeilten. Der junge Mann faß auf einem Stuhl, der burd) ein Kiffen in der Sibfläche erhöht worden war. Sein Oberkörper war febr fura, feine Schultern liefen als eine jtarfe Wulft querüber. Gein Jünglingsgeficht war ein wenig bleich, aber in feinen For: men unverfümmert. Während des Effens fagte Refeda: „Sie werden’s 3ujdide, Deinen Kram. Gie hatten’s nicht zur Hand.” Und ber Stef: john nidte, ja, es fet recht. Cie ging nod) auf ein Weilchen zur Ida, ihrer ehemaligen Schullameradin, einer behäbigen Grau mit einem Furd)t: gelidjt. (Xs war ihr ebenfalls im Leben nicht gut ergangen; fie hatte aber im ($e: genjat zur Reſeda das Bedürfnis, fid) aus: zufprechen. Das trug ihr viele gute An: weilungen und Ratjchläge ein, ohne dak es thr Tröftung bradte. Refeda fagte: „Was haft Du bloß ba: von, von’s Klagen? Die treten alle auf Dir umber, es ginge Dir nad) Verdienft. Das gefiele mir doch nicht, wenn id) Du wäre. Nu halt Du vor zwei Jahren den btelen Fall getan und bijt lahm davon ge: 88 blieben, nu haben fie bas ausgerechnet, bas ſollſt Du verjchuldet haben. Denen wollte id) aufs Maul trete. Ich bin hinte zufammen mit Herders Emma’n gefahren. Die jagte, wie mer vom Bahnhof ham ges trappt find: ‚Ich weiß nicht, meine Schwie- gertochter hat fein Glüde, bei bar jterbt fein einzigites Rind, die muß fie alle groß: ziehe —‘ Co e Weib! Vor der würde id) mich nicht verneigen, und Du bór|t immer auf ihre Poft.” Die Furchtfrau jagte darauf: „Ich bin freilich bemütig."^ Und ihre Nadenbiegung wurde nod) ein wenig |djiefer und dngit- licher. Refedas Bejichtszüge hatten alle den Hang nad) oben zum Lachgeficht unb zur Cpibtinnigfeit, Sdas dagegen verrieten den Trieb zur wehleidigen Breite. Mit: unter aber ließen fie fic) aud) auf die trojt- loje Länge ein, mit hingendem Unterfiefer. 9Releba jab das Jammergeſicht und lachte dazu. „Ic war heute auf Jena.“ Da wurden die Züge ber Furchtfrau lang. Reſeda fahte es als Frage auf und ant: wortete ihr. „Der Profeljor war nicht zur Stelle, der war, wie es |cheint, ver: reift. Uber feinen Vertrauensdoftor, den habe ich gelptodjen." „Wer ijt denn das?” bradjte Ida heraus. „Den Namen weh id) nicht,” gab Re: jeba zurüd. „Aber wenn groß’ Schlachten ijt, da Hilft einer bem andern. Kurz und gut," jagte fie better, „jie wollen wieder ſchneiden.“ „Und Du lachſt . . ." „Soll ich epper fletſche? Sie würden bloß frohlocke, die andern. E bißchen Friſt habe ich aber noch.“ Ida machte das breite Geſicht mit ge— falteten Händen. Nun ſah ſie ganz er— ESSSoSSoessesesssa Die Fabnentragerin. geben aus und zugleich wie eine etnbring: liche 3Bittitellerin. Und ebrlidj! So ehr: lich! Nad) einem ganz ſchwachen, vielver: zagten Herzen, bas oft getreten wurde. jab Nach einer, bie voll Sorgen und Angſte ftedt und voll aller Sorten Sümmernijje. Refeda fagte jacht: „Diesmal überlebe id)'s nicht.“ | „Nejeda ! !^ Das fam wie ein Schrei. »*ja ," fagte Rejeda, „das hilft nichts, meine gute Ida, biesmal rafft’s mid) weg.“ Sie hatte wieder ihr ſchwarzes Stridzeug vor, und die Mafchen führten wieder ihren niedlichen Tanz bes Sjerangleitens und Überhüpfens aus. „Sch habe meine Mterfmale,” fagte Re- feda. „Wie ich zuerjcht da war, habe ich’s erfunbigt. Da war ene Frau, die hatte die Krankheit auch. Wher bei ber war fie ſchon vorgefchritten, fo wie das ie bei mir aud) ijf. Die hat mir alles erzählt. Zu der hatten fie oo gejproden, daß fie nod e bißchen laure wollten. Freilich wollten fie ihr Leben nicht unnötig fürgen. Nu war fie aber dose und jagte, es ginge nicht länger.” Ida unterbrach überzeugt: „Die ijt aber gefund geworden.” | „Die ift geftorben, bie Frau.” „Sch weh bas aber ganz genau.” „Die ftarb!” fiel Refeda ein, und thr Ton lang. „Deiterwegen braucht bas bod) . . .” „Nee — e Zwang liegt nicht vor, bap mir bas aud) fo geht... das ftimmt." Cie lachte jebt. Und bann fagte fie: „Er liegt aber bod) vor — von meinen Zu: jtande aus. —“ Sie zeigte ihr Stridzeug. „Kucke bo:e — meine tyerje ts fertg. Wenn ma feine Zeit wahrnimmt, da ffadt's." Cie hatte ihr Geficht aufgerichtet. Ihre Kopfhaltung Hatte etwas Mutiges nad) einer Fahnenträgerin, ober nad) einer, bie Ausſchau hält, ob der Bote fommt, ber gute Runde herzutragen fol. Die Rummerfrau dagegen jaB da zus jammengejunfen mit fliegenden Tränen. Um fie aufgubeitern, begann Rejeda närrijches Zeug zu reden, bas mit ber Zeit bie Regenwolfen vertrieb und die Sonne zum Scheinen brachte. Das ganz fleine Sönnlein im Gemüt der Furcht: und Cor: genfrau. Und das |djidte nun jeine paar BSesessssssssd4 61 fadendünnen Strahlen über die Ergebungs: falten in ihrem Angelicht, jo daß das Ge: ficht Hübfch wurde und beinahe heiter aus: ab. Refeda fagte: „Ich friege meinen Strumpf Dinte nod) fertig," wicelte gu- jammen und ging. Daheim trieb jie bann die Mädchen zu Bett und jagte den Sdner: ber von feinem Schneidertiſch. „Du folítejt Dein Leben e bißchen merre genießen,” jagte fie ihm. „Wo ijt denn binte die Spinnftube ?" „Bas fol ich da?” fragte er zurüd. „Du ſollſt Dich e bißchen Iuftig made.” „Sch bleibe lieber daheim.“ „Das fann id) nicht gut heiße.” So Re: jeba. „Du willjt bod) mal heiraten.” Der junge Schneider antwortete: „Ich weiß nicht, ob id) bas werre wollen. So balde gewiß nicht.“ „Ach Bott!“ machte Refeda, „da werden fte mich aber [djelten, ich bin ber Stein bes Anftoßes, und ich halte Dich zurück.“ „sc därf's aber nicht hören, daß fie auf Dich [djelten, Mutter.“ Cie hörte fid) gern von thm Mutter nennen, denn [ie war ftolz auf fein anftän- biges Verhalten. Cigentlich liebte fie ihn auch mehr, als die beiden Mädchen, die fie felbjt geboren hatte. Cs war joviel Urjad dazu vorhanden, ihn gern zu haben, feine ganze Gewiſſenhaftigkeit nötigte dazu. Er hatte fid) an den Tiſch gelebt, wieder auf den Stuhl mit ber erhöhten Sik fldde. Die Leifte gwijden den Tiſchfüßen gab bie geeignete Fußbank her. Reſeda hatte den Tiſch [o bauen laffen. Wber fie hatte fid) in der erften Beit felbjt auf ben Platz ge: lebt, als habe fie bas Stüfchen um eigner Bequemlichkeit willen anbringen laſſen. Bald war fie jedoch weiter zugerüdt, und der Sohn hatte ben Vorteil von der Neu: einrichtung gezogen. Das band ihn an ſie, jolche Fürſorgen des Herzens, mit denen bie Zunge nichts zu Schaffen hatte. Sie jebte jtd) jebt auch nieder, legte das Stridzeug auf den Tijd und Jagte: ,,Hinte jo er nod) fertg. Dann haft Du drei Paar in Vorrat, bie noch nicht in Ge- braud) gekriegt find. Drei Paar jtride id) aber nod) dazu.” Er wußte nicht, wobinaus [ie wollte. „Danach wird’s wohl los giebe," jagte fie. 02 BSSSSesseeseesa” Marthe Renate Fiider: Beeessesesssesca „Was benn ?" „Ach, ich babe bod) meinen Bejuch ge: madt. Sie wollen mal wieder e bipd)en idjneibe. Sie hätten mid) bod) am Iteb- jtet gleich bo behalten. Zuletzt haben fie aber nachgegeben, fchön, ich [oll abfahren.” Er hatte fic) eine Zigarre angezündet. Die drehte er jebt zwilchen ben Fingern. „Das friege id) nu fo anbet zu hören, daß Du dagewefen bijt.” Refeda antwortete: „Ich fann bod) fennen Vortrag davon made. Das jábt (jagt) ma am beften gang fura." Sie hatte ihre Gtriderei wieder im Gang. Die Hände hielten gang felt, die Nadeln zitter: ten nicht. „Ich muß Beute nod) lachen, wenn id) dran benfe, wie fie mid) das erjdjtemal haben vorgefriegt. Ich habe bod) gebiebt (gebebt). Ich fonnte faum zutrappe. Ach, und id) habe um mid) gebaut. Und dann war die Belinnung wag, und als id) auf: wadjte, lag ich wieder in meinem Bette. Da war der ganze Kommerſch vorüber.” Sie hatte wieder bas Belicht erhoben, als marjchiere fie und trage die Fahne. Und ber Ausdrud dtefes Belichts war heiter mit gehobenen Wangen. Aber unter der Hei: terfeit lag etwas Leeres oder Zugemadhtes. Auf dem Tijd ftand ein Widbecher von weißem Porzellan. Da hinein ftellte der junge Dann feine Zigarre, [ie folle ver: löfchen. Rejeda beobachtete ihn: fein Ge: licht war fabl. Nun zitterten ihre Hände bod). Da hatten bie Mafchen ihren Tanz bes Gleitens und Hüpfens verlernt, und der Finger fonnte nicht mehr fein Dienerchen machen. » Uta muß das hinnehme, wie es fommt,” jagte fie und ließ bie Hände in den Schoß niederlinfen. „Ma muß fid) wirklich drein ergeben. SHeule nicht!” (ie fagte matt: „Ich fol Did) nu belüge mit guter Hoff: nung — gelle Du? Das hat bod) aber tenn’ Zwad. Wenn id) weggiche, ba fomme ich nicht wieder. Das müfjen wir auf uns nehmen. Es tut mir bloß leed — daß id) Dir — —" Er [ab fie fragend an. „5a, bie zwei Mädchen muß id) Dir bod) aufhudle, Herwart.“ Er konnte vor Herzichmerzen nicht Wnt: wort geben. „Du wirft fie nicht verlohffen,” fagte Refeda, „darin fenne id) Dich. Aber Du mußt e bißchen aufmerfen. Die Klenne, bie neigt dazu zur Eitelkeit, bas därfit Du nicht fórbre. Da mußt Du alles lieber e bißchen dämpfen. Die Große, bie is leicht blöde, bie fann man e bikchen flattteren. Du mußt ihre Mtutter fein. Du mußt oo mal zum Stode greifen. Das hilft nichts.” Ste ſchwieg. Nun würgte der junge Mtann heraus: „Halt denn Du mid) gefdlagen 2” Ihre Augen wurden ftier und groß. „Du haft mir bloß Freede gemadht. Das dauerte gar nicht lange, da funn’ (fonnte) ich mid) mit Dir berate.” Uber feine Erinnerungen zogen herauf, wie fein fie ihm Mutter gewejen war, wie gut jie thn verjtanden hatte, wie vieles fie hatte hingehen lajjen, ungeftraft und un: gerügt. Und wie ihre Rüge, wenn [ie ein- mal gefommen, immer heiter gewejen war, ohne Kränfung und Demütigung. Und wieviel Gutes fie ihm angetan hatte, prattijd) Gutes. Da fam nun aud) bie Tifchleifte mit zur Sprache. Refeda antwortete flight: „Du haft lange alles vergolten." Co [pracjen bie beiden verjtórten Ge- fichter zueinander, bas bläßliche Jüng⸗ lingsgeficht und bas reife, bräunliche Rin: dergelicht der Frau. Über ihnen brannte bie Lampe, vor ihnen war der flache Vifd. Der junge Dann hatte feine Arme weit hinauf gelegt, die Frau [ap aufrecht da- neben. Sie wiederholte: „Nee, ich habe Dir nichts Gutes fonnt’ antun — was Du nicht gleich hinterher vergolten hättejt. — Und nun babe ich hiermit mein Tejtament ge: madjt. Da bleibe ich freilich mit in Deiner Schuld.” Der junge Dann 30g feine Arme heran, Ihlug bie Hände vor bas Geficht unb weinte bitterlid). Die Frau ſaß aufrecht weiter und berubigte. „Das dürfe er nicht”, jagte fie, und [prad) wie von Alltäglichem mit ganz munterem Stimmton. Das Beliht hatte fie wieder hochgefehrt, als ob fie vorangehe. Sie bejann fid) dann ihres Stricgeuges als eines Mithelfers und Wusgleiders und hob es zur Arbeit. Aber ihre Hände fonnten die Nadeln nicht führen. „Das is e [chlechtes Geſchäft,“ jagte fie, — — — — — — — possssesssssess Die Fabnentragerin. BSSSesssssssd 63 „wenn ma fic mit einen berebt. Da leidet die Arbeit drunter. Mein Strumpf wird hinte nicht fertig.” Gie legte gujantmen. ® BB 8B Der Gejangverein gab fein großes Felt mit Konzert, Komödieſpiel und Ball. Auch Rejeda war mit ihrem Stieffohn hin: gegangen. Im braunen Rleide, bas weiße Balltuch über die Schultern gehängt, fab jte in ber Reihe. Wenn die Pauſen famen, blieb ihr Mund nicht ftill, und ihr Kopf drehte fid) ohne Aufhören. Die Wangen waren gehoben, bie Augen blißten. Ihr Sohn ftand bei ben jungen Burfchen. Durch fein Gebreden war er wohl ein wenig flein, aber er jah bod) jchöner aus als die andern alle. Das Bejicht hatte einen tapferen, verjtánbigen Zug. Und er war freundlich und höflich und ohne Rü⸗ peleien. Refeda hielt ihn für befähigt, in bie feinjte Familie hinein zu heiraten. Wenn da [eine Profefjion nicht erwünſcht fein jolle, jo behauptete fie, da brauche er nur umgulernen. Ihre Gedanfen waren aber voller Größenwahn und madjten ihm naiv alle Tore auf, ohne Rüdficht auf die einfadjten Möglichkeiten. Jetzt beobachtete fie ihn und lobte ihn zu den Nachbarinnen. Und dann fiel ihr ein andrer in die Augen, der ebenfalls nod) Burjche war, aber fein junger mehr, ein paar Jahre älter als fie jelbjt, und der unweit ihrer, groß und mager, an der Saalwand jtand und herüberjpähte. Und lächelte, wenn fie lachte. Immer wieder lächelte. Ein feftes, eindringliches Lächeln mit gefchlofjenen Lippen. Es war fein fchöner alter Burſch, er ſah ein bißchen ungewandt aus. Gein brüun: lid) Haar, das nur von bejdjeibener Fülle war unb einem edigen Schädel anflebte, hatte ben brolligen Hang zur Wellenlinie. Spi ſchoß jeine Naje hervor, lang und bünnlippig war fein Mund, ein Klapp: mund, der beim Lächeln aufitieg in den Winkeln. Der Burſch zog aud) den Kiefer jehr heran, was eine Anzahl magrer Langs- falten zum Hals hinunter zur Folge hatte. Nein, [djón war er nicht. Der andre, um den die Rejeda ihn hatte laufen fajjen, war ungleich anjehnlicher gewejen, ge: Ichmeidig, weltgewandt, mit gejdjeiten Augen und rafcher Zunge. Bis zur Herz gegend bin war er diefem hier zehn: und zwanzigfach überlegen gewejen. Aber in ber Herzgegend hatte das Übergewicht ber andern Partei angefangen, das ins Hun: dertfache gegangen war. Die Gefangsvortrdge waren vorüber, bas Stomübie|piel Dub an. Beides liegt ja dem Thüringer in den Gliedern, das Singen und bas Theaterfpielen, und dann bas Bergeflettern und ber Juhſchrei. Uber früher ijt es dod) jchöner und Det matlicher im Gaaltal gewejen, vor dreißig. Jahren nod, als die Weiber ihre Röcke trugen von zehn Ellen Weite und der Scherner:Karl und der Windorf-Schneider für die Mode jorgten. Cie febten ihren Weiberröden unten zwei Falbeln auf, denen ein Puff als Abjchluß folgte. Stie- Ben auch wohl der langen Schoßtaille un: ten ein Falbelchen an. Und fo fleißig fie wattierten, |o [aen ihre Taillen alle flach: bruftig aus. Aber bie Weiber banden, wenn fie zur Kirche gingen, den breiten, thüringifchen, dunfeln Tuchmantel darüber und jeßten bie föltliche, hochmütige, thii- ringifche Mütze auf, zuerjt bte Bapphaube mit dem glibernben Mübenboden in Oil: berwirferet oder Bold: und Berl: und litterftideret, ba herumgenommen das gujammengefaltete ſchwere Seidentuch, bas auf der Kopfhöhe zu einer jtolzen Schleife gebunden wurde. Bier Schärpenbänder in ſchwarzer Farbe fielen über den Rücken herab bis jajt zu den &niefeblen hin, die hinteren in glatter Wirferei, die feitlichen, die bis zur Schulterbreite vortraten, ge- muftert oder muftrig gepreßt und mit Ab: ſchlußbörtchen ober gefälteter pibe ver: leben. Wenn bie Weibjen aber die Mühe zu Hochzeiten ober Kindtaufen auffesten, 30: gen fie [djwerlid) die Taille an, da trat die weite Jade in Erfcheinung, von feinem ſchwarzen Tuch, und bas buntfeidene Hals: tud) mit Franſenabſchluß. Cs wurde um den Hals herum genommen und vorn füjt lid) ausgebreitet, und die hängenden Hals- fetten wurden darüber gebunden. Dann waren fie wunderbar anzujchauen, [tart aus der Scholle herausgewachſen, geredt in gerechtem Stolz, wie es ihre Bergzüge iind. Dann jahen ihre Geftd)ter edel und voller Würde aus — unter der Pracht biejer ſchönen Ropftiider, bie in fanften, bunfeln Farben fpielten, in bläulichen, 64 ESSSSSSFSFIZZN Marthe Renate Filder: lifatónigen, ſchwarzen, glatt ober mit Mujterung. Und wenn [te zum Tanz famen — zum großen Tang — mit bem feinen, weißlei= nenen Tanghemd am bloßen Leibe, bas ‚zehn Ellen weit war mit langen Ärmeln, die nach unten ausfielen, und über das Hemd die vielen Rocke gezogen, den roten, den weißen, und wieder den roten und wie- ber den weißen, den Kleiderrod von wei: chem, gefächerten Zeug als oberften, alle Ride zehn Ellen weit, alle im gleichen Längsmaß gehalten, fo daß fie alle zu ſehen waren, wenn bie Rice wehten, und die Taillenärmel auch ein wenig flüglig nad) unten zu, auf daß man bie Tanghemden: ärmel darin bligen jebe, im bloßen Ropfe, bas Vorderhaar zu jeder Seite um ein Haarnadelden gemebt und Hinter dem Obhre feſtgeſteckt. Schön ſahen dieſe Wei- ber aus, wie das liebe Brot. Die jungen Mädchen aber gingen in ihren ſchlichten Kleidern zur Kirche, platt⸗ buſig von wegen des Schneidermeiſters, im Sommer barhäuptig, im Winter mit dem wollenen Tuch um den Kopf, das unter dem Kinn gekreuzt und auf der Kopfhöhe nit Zipfelenden verknotet wurde, den falb⸗ ligen, großen Kattunmantel umgebunden. Das war noch vor dreißig Jahren ſo — ſo einzig bunt. Und um zehn Jahre wei— ter zurück, ach, was ſahen da die Weiber noch viel ſchöner aus! Da war noch ihr Tanzrock rot mit grauen oder weißen Streifchen dazwiſchen, und zum langärme⸗ ligen Tanzhemd umſchloß den Oberkörper nur das Leibchen und das großblumige Buſentuch. Sie ſahen damals wie das reifende Kornfeld aus, wie Dach und Fach, wie der Fichtenwald auf der Bergeshöhe, wie der Fluß im Tal. Sie ſahen wie die Kraft und Verläßlichkeit aus. Heute ſind Tanzhemd, Tanzrock, Mütze und großblumiges Halstuch verbannt, und keine Laune der Mode an Haarfriſur, Hut— tracht und Gewand iſt ſo verrückt, daß ſie nicht nachgeahmt würde. Man denkt nun, wenn man dieſe Frauen betrachtet, nicht mehr an das liebe Brot, nicht mehr an Dach und Fach, man ſpürt auch nicht mehr den Atemhauch des Fichtenwaldes. Unter denen, die Komödie ſpielten, war einer, ein feingeſichtiger, intelligent aus— ſehender Menſch, ein Maurer, der immer die Dümmlinge machte. Er hatte ein gro⸗ ßes Talent, ſeine Geſichtszüge und Glied⸗ maßen hängen zu laſſen. Er brauchte nur aufzutreten, und das Gelächter brach los, und das Behagen ſtieg auf den Höhepunkt. Seine Frau wollte ihn aber lieber als gro- Ben Herrn zwilchen den Kuliffen feben, vielleicht als einen Baron, darum fam fie nie, wenn er Komödie fpielte. Er fand auch, wenn er dann betmfam, die Stuben: tür von innen zugeriegelt. Und [ie wurde nicht geöffnet, foviel er podjte. Dann mußte er anderwärts Ntachtquartier judjen. Zu diefem feinen Dümmlingsfpieler — fein Rufname war Albinus — gejellte fich nad) Schluß bes Komödieſpiels der alte Burfch, der Heinrich hieß und Aderwirt war, und der jagte zu ihm: „Du fchlofft bet mid), das madje ich aus." Er hielt feinen Schlafgaft auch fret mit warmem Fleiſch. Und er ftellte fich neben den Kleinen, verwachlenen Schneider und jagte zudem: „Künjtlich hat er'ſch gemacht, ma funnte feinen Spaß dran haben.” Er ftand eine ganze Weile neben bem Herwart Töpfer, [einen Klappmund lächelnd ge- Ichloffen, den Kiefer herangezogen. Als er ausgiebig gefchwiegen Hatte, jagte er: „Deine Mutter fieht noch binte fein. Die ho ich bod) wollt heirate, aber fie hat Deinen Vater vorgezogen.” Der Heine Schneider antwortete: „Du mußt ihr nichts nachtragen, bie ijt [att ge- ſtraft.“ „Ich trage es ihr nicht nad,” antwor: tete Heinrich. „Ich habe mich immer ferne gehalten, daß fie fid) fenne Gedanfen hat jolt made. Ich ha fie bod) geliebt. Ich will ihr doch nich Pein mache.“ Und wieder jchloß er feinen Rlappmund zum Schweigen. » Md), was wäre aus mir geworden...” fagte Herwart Töpfer. (s war, als ob Heinrich fid) fame. Blöde wie ein Cdjulfnabe ftand er ba. „Ro ja! Dir wagen da freut’s mich grade.” Und eben in bem Augenblick er[d)oll der Lujd, daß der Ball beginne, und daß bas Engagement vor fid) zu gehen Babe. Der fleine Schneider fabte einen Ent: ſchluß und holte feine Mutter zum Tanz, drehte fie jäuberlich zweimal den ganzen Kreis herum, ehe er hinten an die Tanz: reihe wieder antrat, und drehte fie aufs OBR 0 30» 0 BS 0 deep? AS 0 «ME» 6S CAS 6 AS OP 0 AS 6 «E» ap SAP 0 «DP» 0 «dO» 0 «9 Sp Ja > OE OP pr ae eae Interieur. Gemälde von Prof. G. Albrecht. > 0D 0 SD 0 SD 0 SP 0 4> 0 SD O SP OSD 0 SP O «30» 0 SAP 0 «QU» SP SP 0 SP 0 SP 0 SP O «0» O «QD» O «0» 0 430 0 «0» 0 «00» 0 «MD» 0 > 0 SP > — p>. pS SSS neue, als wieder die Reihe des Tanzens an ihnen war. Und Rejeda lachte und Ichwaßte, und der alte Burfch fand fid) in die Nähe, fab ihr zu und lächelte. Als der zweite Tanz anhub, jtellte er ftd) bet ihr ein, fnidte ein bißchen mit bem Oberfirper und hielt ihr bie Hand Din, er wolle mit ihr tanzen. Und fie folgte ihm unb leitete ihn vortrefflich, denn er neigte im Tanzerlichen zu allerhand Ausſchwei—⸗ fungen und Nebenjchritten, bie mit dem Taft nichts zu Schaffen hatten. Aber das fleine Weib hielt ihn mit feften Fäuſten gepadt, fo daß er feine Re- volution anrichten fonnte. War zugleid) Dod) aud) gefällig und brannte ein bißchen mit ibm durd), zum Schaden der andern Tanzenden, die flüchten mußten. So machte der Tanz alle heiter. In den Paufen ſchwatzte abet bie Refes ba, und Heinrich lächelte. Ste trug bie ganzen Koſten der Unterhaltung. Der lodre, Ioje Rindergug um Mund und Aus gen der Frau entzüdte den alten Burfchen, diefer Bug der Schlagfertigfeit, des heitern Sinnes, bes Vornewegjeins und Worauf: gehens. Und bas prangte heute alles in feinfter Reife in Refedens eirundem Angelicht. War gleidjam von Sonnenfchein über: gojjer, Der aus bem Herzen aufitieg. Denn da jab die Freude drinnen und lachte, in- dem fie ihre Händchen faltete. Nämlich die Rejeda war immerhin eine rau, die vor dem Sterben ftand, unb bie fid) eilen mußte, ihre Rechnungen alle zu bezahlen. Und die Rechnung gegen den alten Burfdjen hatte fie bod) bebrüdt. Im Lauf der Jahre hatte fic) ber Druck erft angefunden, unb ob er gleich zuerft nicht allzu heftig gewejen war, |o war er mit der Zeit bod) jtärfer geworden. Sekt hatte fie jogujagen bes Burfchen Duittung in der Tafche, daß er ihr nichts mehr nadjtrage. Darum lachte und jd)mabte fie aus befreitem Herzen. Und fie wurde verfchönt unb verjüngt Durch ihre Freude, jo daß bie Männer unb Burjchen nad) ihrer Heinen, einfach gefleideten Geftalt Ausſchau hielten, wo jte auftauchen werde, viel mehr als nad) den Gejtalten der jun- gen Mädchen in ihren |djónen, Lichten lei dern aller Farben. Wis fie mit ihrem Sohne fid) auf den felbagen & Klafings Monatshefte. NNIV. Die Fahnenträgerin. Dee Ze Ze 3 EIEN IMIR 65 Heimweg begab, trafen fie auf der Treppe ben Albinus, den köſtlichen Dümmlings: jpieler, mit feinem Schlafwirt, bie aud) heimgingen, zwar zeitig nod), aber wegen bes Albinus Ehefrau, ber der Mann den Ausweis gehörigen Verhaltens erbringen mußte im Intereſſe feines Hausfriedens. Cie trennten fid) Dann vor bem Gafthaus unb gingen mad) verjchiedenen Geiten weiter. Die Nacht war dunfel, die Sterne hatten hellen Schein und blibten grell. „Höre mal," jagte Albinus, und er ftand außerhalb feiner Erfahrungen, als er alfo ſprach, „ich möchte Dir wirklid) den Rat gebe, Du [olljt dic Refeda heiraten. Es wäre doch bejjer for Did), Du Haft enne rau ze, bie Did) erwart’. Es is ungemiit: lid), ma fommt hdm, und es ijt feiner do⸗e.“ Heinrich antwortete: „Du haft [djunn recht. Aber fie |predjen, fie muß wieder Schneiden lohſſe . . ." Albinus fehrte mit der Hand, darauf fomme es nidt an. „Wenn fie ihr oo nod) en biden was warren wegnehme.. .” Da verjebte Heinrich: „Wegen dem ijt’s nicht. Ich will fie bloß nicht beunrubigen." Der Dümmlingsipieler Jah zum Himmel auf. „Die beunruhigen fid) nicht [o leichte, bie Weibjen.” Cr blieb jtehen wegen ber bligenden Pracht zu Häupten. Und dann jab er aud) in die Runde nad) den Bergen, die über bie Wohnjtätten ber Menſchen hinwegfchauten. Dan fonnte fie faum un: terld)eiben, jo verdämmerten [ie in ben Himmel. Nur dak ihre Dunfelfarbe wol: fig war und die Dunfelfarbe des Himmels flar. „Sieh Dir mal das Verhältnis an zu Herwarten, zu ihrem Sohn . . ." fagte er. „Site beeintradtigt ihn nicht.“ Und jest biftierten feine häuslichen Erfahrungen ibm feine Worte. „Er ijt bod) huckidt, Herwart, das fann ihm feiner abwajdje. Aber er ijt immer heiter. Sn feinen Ge- Ichlechte Liegt bas nicht. Von feinen Vater unb feiner Mutter da hat er das nicht fonnt erbe. Das hat er von [einer Stiefmutter ber. Und wo ma die antrifft, die Heiter: feit, ba is fen Drud im Haufe.“ Nun erjt gingen fie weiter. Rejeda aber und ibr Sohn hatten i in: Defjen ihr Häuschen jd)on erreicht. Sie waren ſchweigend ihre un gegangen. Sahrg. 19091910. TI. BD. 5 00 EESSSSEEEEA Marthe Renate Fiiher: EEIZZIZC ZZ ZZ ZZ ZZ „Das wird wieder kälter,” hatte Refeda nur gejagt. Und der Sohn hatte geant: wortet: „Ja, man friert.“ Als fie nun in die Stube famen, Hub 9tejeba an: „Ich will Dir nod) e bißchen Kaffee madjen. Das geht rafd. Und bas lodt die Kälteraus. Nachen legit Du Dich nieder.” Gr ließ fie machen. Sie faßen dann beide auf ber Ofenbanf, bie ftajfeefanne gwifden jt), und Rejeda jagte: „Er is frijd) gebrübt. Trink nur. Das titt Dir gut. Morgen fchlofit Du e bißchen länger. Du bijt der Herr im Haufe.“ Herwart lächelte. „Jawohl, Du finaft (ladjit). Es ijt aber bod) ſo⸗e.“ (ie tranf unb bann jagte fie: „sch freu mid) immer nod) über ban Al: binus, wie bar feine Baden runger geſchlitzt hatte. Das hung alles an ihm. Geine Frau ijt töricht, daß fie ibm feinen Spaß nidt gönnt. —" Gie goß ihrem Sohn wieder ein. — „Haft Du wuhl gefiehe — Sjeinridjen . . .” Ihre Augen gldngten, ihr ganzes Geficht lachte. „Der war hinterher, er foll bei ibm jchlofe, Wlbinus. Und er hat ibn aud) traftiert. Er hat fid) nicht lafjen lumpen.“ Da fagte ber junge Schneider und fchüt- telte den Kopf: „Du hätteft ihn bod) neh: men follen, Rejeda.” Sie lächelte weiter und jagte unjicher: „Ach—ch, das fam nu anderjd.” „Sehre weicht er ja nicht ab," verjebte der Sohn.“ „E bißchen fonderlich tjt er aber dod.” So 9tejeba. „Uber das jchadet am Ende nicht Jo viel.” „Nein.“ , Wenn man jung ijt, ba ijt man dumm.” Herwart erwiderte: „Der Unfrieden fommt bod) vom ſchlechten Herzen her...“ „Das titt er. Und e fchlechtes Herz hat Heinrich nicht.” Ihre Stimme flang ganz jung. „Ich will Dir nod) mal einjdjente," fagte fie. | 8 8 B8 Es war um Pfingiten, etwa eine Woche zuvor, als Rejeda mit dem Korb auf dem Riiden über bie Berge ging. Des Budidy: ten Schneiders Pate hatte befohlen, daß er thr Rnabenangiige zufchide für ihre Cnfelfinder. Die trug Refeda im Korbe hinüber. Sie hielt mit bem Itnfen Hand: aelenf ben Tragriemen von der Bruftjeite ab, bie ben fchweren operativen Eingriff erfahren hatte, unb in ber es wieder ftad) und fchmerzte. Ihr Geficht war nod) Hei- ner geworden und jah blaglid) aus. Aber bie junge Gommerpradt erfreute fie doch, bas Blühen ohne Ende, bie Willigkeit des ffetnjten Pflänzchens, fein Blütlein heraus zu fteden, bte Treibefraft bes Erdbodens, der Wurzel und Wurzel: chen mit Kraft umjpannte, fie hielt, fie wärmte, ihnen Nährſtoffe zuführte. Und bod) feufzte fic auch. In ihr würde fein Sommer wieder aufblühen, ihr Erdboden, ihr Rirpergehalt, war von ſchlechten Stoffen burdjjebt. Ihr war bas Scheiden befchert und bas Abſchiednehmen. Wie fie fo dahin ging, fing jie mit dem Abjchiednehmen gleid) an. Gie ftreichelte bie Bergzüge zärtlich mit ihren Bliden, die Waldungen, die Felder, die ganze jtán- bige Pracht bes Gebirges. Die Pracht ber Jahreszeit, bas Sommerlicdhe, aber fab jte mit Entzüden an. So wurde das 9[bjdjiebneDmen zu einem Abſchiedsfeſt mit allerlei Freudengefühlen im Hintergrunde. Mit viel feineren, als fie Rejeda je fennen gelernt hatte, der bas Kommen, Blühen, Wellen und Ausruhen bas Alltägliche und jid) jährlich Wieder: holende war. Zwar immer wohl bemerft und, in feiner erjten Hälfte vorzüglich, mit Vergnügen gejehen, aber ihrer bäuerlichen Natur unb Auffafjung gemäß, bod) nid)t bejonders gefeiert. Die Stille Freudenſtimmung übertrug id) aud) auf bie Urfade ihres Ganges, und Reſeda baute erjprießliche Pläne auf guten und reichlichen Abfaß ihrer Ware aus. Die Plane verwirklichten fid) bann. Sie verhandelte alles, was fie im Korbe daher geführt hatte. Neben dem erzielten Preije aber wanderte bie eine und andre Hdus- liche Gabe in den Korb der Iujtigen Han: delsfrau. Die Lujtigfett nämlich), das Lachen und die fecke pojfierlidje Scherzrede, das war bie feine Zugabe, bie bie Han: delsfrau machte, und ber man gerecht mer: den mußte. Da fam es auf ein Weeden Butter, ein Brot, ein Stüd Schinken, eine MWurft nicht an. So wurde, ob die Kna- benanzüge einer um den andern gleid) aus ihrem Korbe verjchwanden, biejer dod) ſtändig ſchwerer auf ihrem Rüden, unb die Hand der Rejeda, die den Tragriemen von der franfen Bruftjeite abzuhalten hatte, mußte immer energijder ihres Amtes walten. Am Spätnachmittage ging fie heim. Sie war müde und [ab bie Jommerliche Pracht nicht mehr. Statt bejjen hielt [te Zwie- \prache mit jid) jelbjt, um ihre Sebensgetjtet aufzujtacheln. Sie rechnete fic) alle errun: genen Borteile vor und wiederholte [id) ihr Handelsgejchäft in ben ver|d)tebenen Häu— jern wie ein Theater. Als eben der Anreiz verflattern wollte, jah fie eine lange Männergeftalt wie einen Pfahl vor fid) am Wege ftehen, ben [febr reifen 3Burjdjen, der augenscheinlich hier auf jemand wartete. Da er ihr entgegen ſchaute, und fein Lächeln bei ihrem Maher: fommen eindringlicher wurde, [d)ábte fie aber, daß er auf fie marte. In Sprachweite nod) von ihm entfernt jagte fie: „Du Haft, wie's jdjeint, bie Batrouille hier oben in’n Bergen.” Darauf 30g er den Kiefer fefter gegen die Halswand, und die Rejeda zählte jechs galten abwärts. Co blöde war er, er ftand weiter wie ein Stod. Aber nichts Verjactes war an ihm zu jeben, es war alles aufrecht. Und Jo jab jeine Blödigkeit denn aud) nicht ab» itopenb, vielmehr gewiljermaßen wie ein großes Stüd Sauberkeit aus. „Das madjt müde, ber Gang, unb mit dan Rorbe . . ." fagte Refeda. Nun fam Leben in ihn, er faBte zu und nahm ihr den Korb ab. „Den tro’e ich (trage). — Defterwegen bin id) Dir ent: gegen. — Der Schneider hatte for mid gejagt, Du wärſcht (wärſt) wag mit'n Caden. — Das fiinnte Dir zu jd)mer marre, —" Co eine lange Rede, wenn aud) mit einer Paufe Hinter jedem Gage. Und fo ein guter Menſch, wie er bajtanb und gleich ihren Korb auf den Rüden nahm. Und er jah bod) ein bißchen Tächerlich aus mit ber aufrechten Haltung unb ber ange: zogenen Kinnlade. 9tejeba hatte deffen mit lachendem Her: zen acht. Kein bißchen Spott mifchte jid) ein. Helle Freude erfüllte jie beim An- blid ihres alten Verehrers, der ihr nichts mehr nadjtrug. Der Weg lief hod) hin. Bu beiden Seiten wudjen Bergfipfe auf. Sie bro: Die Fahnenträgerin. BSSeesssesssd 67 delten hervor unb ftanden fe|tgemadjjen im SHolgbeftand ihrer grünen Fichten. Dann führte der Weg ein wenig tiefer burd) Wald und unruhig Gelände ohne Ausblid. „Ach,“ fagte Rejeda, „ich muß e bißchen rajten.^ Und fie fuchten einen guten Platz gum Niederſitzen. Rejeda framte im Korb. Gie jdynitt bas Brot an, fdnitt vom Schinken und von ber Wurft ab, und bewirtete ihren Geleitsmann fóniglid). | Der lächelte mit einem eigenen Ausdrud bes Wobhlbehagens. Und in Reſeda ftieg ber Gedanfe auf, daß er gar nidjt fo un- eben jet, und daß er, wenn fie ihn jung geheiratet hätte, fid) mehr nad) ber um: gänglichen Seite bin würde entwidelt haben, nicht nad) ber jonderliden. Und nun war fie bod) wieder in feiner Schuld und hatte nod) etwas gut zu machen. Er fing an zu reden, ohne Abjäße, aber aud) ohne daß er fie angefehen hätte. Gr ſprach jachte vor fid) Hin, wie es Menſchen, die von Natur aus ein wenig blöde find, wohl zu machen pflegen. „Wie Deiner jtatb," jagte er, „Das war en Feiertag for mid. Ich bin hin, gleid den Sonntag bernadj, in die Kirche. Gr war bod) |djfedjt auf Sid) gewejen. Er hat fid) oo damit gerühmt in ber Schenfe. Io, nu habe id) ibm feine Ruhe aber ge: gönnt, daß er tot mar." | Reſeda antwortete: „Völlig habe ich mich bod) nicht fajjen unterfriegen. Ich habe immer die Fahne vorenwag ge: tragen. Er war ja jehre ungalant, das ftimmt. Aber id) Babe ihm auch Pein gemadt. Darum muß id) ihm jebt ver- gether.” Der Burſche ak und fdwieg. Nejeda Jagte: „Herwart, ber ftammt bod) von feiner erjchten Frau ber. Er ijt aber bei den Großeltern gewejen, bis fein Vater wieder gebeirot' hatte. Wie id) bas Kind nu überfriegte, er war balbe fedjs Jahre alt, da bad’te id) ihn gleich, und dabei fühlte ich das, daß das nicht feine Richtig: feit hatte. Ich habe aber gejchwiegen, id) wol das Rind nicht F.änfen.” Sie war bann den Arzt um Abhilfe an: gegangen, hatte heimlich viel getan, um dem Leiden vorzubeugen. Sie jagte: „Meiner war e bißchen brutal. Wenn ber 5* 68 BSSSSesssssssssssss] Marthe Renate Fiiher: BSSSSSZZS3SZZZZZI ärgerlich war, jchlug er zu. Das Kind, das mußte viel aushalte. Ich ſchmiß mid) ja dazwilchen, aber das half nicht alle: mal.” Cie Hatte fchlieglich in ihrer Not ben Dann bezichtigt, dak er das Kind gu Ichanden gejdlagen habe. Mit bem Blid der Wahrhaftigkeit hatte fie die Lüge aus- gelprod)en. Der Mann aber Hatte fid täufchen laffen. Das Wachstum des ($e: bredjens hatte fein Gewiſſen gepeinigt. Im anderen Galle wäre fein Leben breit, in fojtlicher Robhett dabingeflofjen. Um ber Angſt willen, die fie ibm gemacht hatte, mußte ihm Rejeda das andere verzeihen, die Angriffe auf ihre eigenen Kinder und auf ihre Terfon. Ihre Stimme flang heiter. Aber eine fleine weibliche Genug: tuung Hang bod) bindurd). „Ja — ja," fagte Sjeinrid), wieder mit dem Blick in die Luft und mit bem beleb- teren Lächeln. „Herwart weh aud), was er an Dir hat. — Ich ha bet ihm gejajjen. — Mer haben zufammen gerebt . . ." Sein Lächeln ftrahlte von Bewunderung. Co fein und ausdrudsvoll hatte bie Re- jeda noch feinen Menſchen Tächeln jeben. „as bat er denn an mir?" fragte fie. „Das Kind, das hatte ja dod) fennen Menſchen fonft. Dem fein Freund mußte id) ja bod) fein. Und wenn er gang gefund gewejen wäre, no ja, ba hätte id) gedacht, er muß lid) dDurchwärge eben. Aber wu er mit [o einem [chlechten Gebrechen be- haftet war. — Stein," fagte fie fet, „Das wäre eine Sünde gewejen.“ Cie [ab ben Burfchen wieder an, wie ungelenf er bajap, und wie verjchönt fein Geficht ausfah. Und fie langte in ben Korb und führte nod) ein Schinfenftreifchen zutage, bas fie auf das Brotitiidden in feiner Hand legte. „IB nur.“ Ihr Ge[id)t wurde ernſt. „Was id) für SHerwarten epper getan babe, das hat er alles Ianae gut gemadt. Der ijt bod) ba: zwilchen gejprunge, wenn er mal dazu: gefommen ijt, daß fetn Vater auf mid) Ius- ging. Dann war id) aber geborgen. Sein Vater hatte Reford vor ihm, das glaube Du nur. Weil er dachte, daß er an jeinem Unglücke ſchuld wäre, da fürdjtete er ihn. Nee, ber Herwart hat mir nichts mehr zu banfen. Der hat mir bluß Freude ein: getragen.” „Er jpricht anders,” jagte der alte Burd. „Ja, mein lieber Heinrich, er hat ennen feinen Charatter, barum [pricht er anders.“ Cie riidte den Korb zurecht, den Hein: rich wieder auf den Rüden nahm. Che fie fid) in Gang jebten, jab fie fid) um. „Das is e gutes Flackchen,“ jagte fie. „Das will id) in meinem Gebádjtnilje be: halten.“ Und nun war ihre Kopfhaltung wieder diejenige der Fahnenträgerin, bic voraufzieht. Hinter ihnen ftieg der Berg nod) ein wenig an, vor ihnen fenfte er fich, unb ber Bli in die Berggruppierung wurde fret, die voller Lieblichfeit war mit fanften He- bungen im Beftand beider Hölzer, des Schwarzholzes und Weißholzes. Dazu ganz unten ein weißer Weg, der zu einer Siedlung führen modte. Das Land: \haftsbild Hatte etwas von einem Ein- gang, etwas, das fic) auftat, etwas von Erwartung und Hoffnung, nichts Zuge- Iperrtes. (Ys mar wie Vorfreude, und es zeigte bie grüne Farbe bes Jungjommers in allen ihren Schattierungen. Nach faum Hundert Schritten war die Szenerie ganz verändert mit Yichtenwald zu beiden (Zeiten. Das machte nun wieder den Eindrud des Umbegten, Geſchützten und Stillen. Sjeinrid) begann zu fpredjen. „Ich ho Dich ſchon lange was wollt frage . . .“ „Bas denn?“ „Sa — a," fagte er, „ich müchte Did) wuhl gerne heirote . . .“ Refeda lachte. „Wenn Du aud) ladjit," fagte Heinrid). „Sch made tbe meinen Antrag.” „Da báttejt Du früher follt fommen." „&s hat immer nid) gepapt," fagte ber Burj. „Wie hätte td) bas aud) follt made...“ „Du weißt es ike bod), wie Du es ſollſt madjen. “ Der Burſch fagte: „Ich habe Did) im: mer geliebt, das haft Du dod) gewußt.“ Da antwortete bie Refeda: „Ach, mein lieber Heinrich, id) habe derweile fünf Kinder gehabt, und breie davon habe id) begraben.“ Und Ton und Ausdrud ihrer Stimme gingen beide ins Großartige. Das Leben mit all feinen SSorfommnijjen, |o wichtig fie aud) waren, war bod) nur BRI eine ‘Bagatelle; bas lag in Ton und Aus: brud ber Refeda. Mit Hingender Stimme fuhr fie fort: „So fehre wie Dei Antrag mich auch freut, Jo muß id) ihn bod) abweife. Ich heirate nicht mehr. Dazu fomme ich nicht mehr. Du weht dod), daß fie mich auf Jena vürgehabt haben. Ske haben fie wieder Luft. Allzulange joll id) nicht warten..." Als fie ſchwieg, fagte Heinrich Ichwer: fällig: „Wer heiroten zuvor... .” ,Jiee, nee,“ fagte fie verloren. „Ich wärde Did) dod) balbe zum Witmann machen. Das überlebe ich diesmal nicht.“ Heinrich blieb jteben. Cie jah feine Tränen rollen. Rejedas Augen blieben troden, aber fie waren heiß unb röteten ftd. Sie irdftete ben 3Dtann: „Mit bem Heiraten wollen mer warten, bis nachher — bis id) retour bin." Und fie verjudjte cin Stüd Friſches unb edes in ihre Worte zu legen. „Aber wenn id) mag: bleiben jollte," fagte jie ernfter, „da kannſt Du Did) e bißchen um meine Kinder lümmre. SHerwarten, den vermade id) Dir als Sohn, an dem wirt Du Deine Freude haben. Ich will’s ibm auftragen, dag Du Baterftelle übernommen haft. Den mußt Du bißchen in Augenfchein nehmen, Dak er gut über die Zeit weg: fommt. Und dann meine beiden Mäd— dens! Die Große ijt zehn Jahr. Das is c gutes Kind.” Gie ladjte, um ihn auf: aubettern. Darauf erzählte fie: „Ach, das war bod) pojlierlich mit den Kindern. Wie bie Kleine e Jahr alt war, da friegte fie bie Majern. Die herrfchten damals gerade. Yu faBte bie Große jie um und jagte zu ihr: ,Sterb bloß nicht mir meine Frieda,‘ fagte fie. „Itze fterben fie bier alle. Und Dann bin id) ganz alleine. Dann friege ich alle Puſchen (Schläge) alleine.*^ Rejeda ladjte wieder und erläuterte: „Sie hatte viel mußt leide unter ihren Vater. Nu badjte fie, wenn die Kleine erſt e bißchen größer wäre, dann würde jid) Das mehr verteile.” Cie fapte ben Burjchen bei der Hand. „Komm nur, mein Sjeinrid).^ Sie war bie Wegweijerin, die Führerin. Das Hang in bem alten Burfchen weiter: Komm nur, mein Heinrich. Es padte ihn Die Fabhnentragerin. [3i3:2«242€3435343:363«331 69 am Sergmusfel und driidte den. Die Bruft Ichütterte. Und Rejeda lich feine Hand nicht los. Mit ruhiger Feſtigkeit ging [ie neben ihm, der den Arm über die Augen gelegt hatte. | & 8 63 Als NRejeda in ihre Stube trat, jab fie ihr jüngites Mädchen, wie es auf ber Dienbant jag und die Schürze vor feine Augen hielt. Rejeda fragte: „No — was halt denn Du angeſtift' . . ." Da ließ bas Kind bie Schürze finfen und antwortete: „Ach, ich möchte gerne Deule." Ihre Augen waren aber ganz troden. „Wagen was denn ?" „Beil bod) die gute Frau gejtorben. tjt, die immer fo lahm ging.” „Das ver|tiebe ich nicht. Bon welder Frau rebtit denn Du⸗e?“ Das Kind brachte heraus: „Ida.” „Ida? ...“ „Ja,“ ſagte das Kind; „aber ich kann nicht heule.“ Der Schneider lachte über die Rede. Nun fuhr das Mädchen auf: „Die hat mir doch mal einen Pfafferkuchen ge: ſchenkt.“ Und [ie [ag weiter und drüdte, daß bie Tränen fommen follten. Zugleich aber bligten ihre Augen den Korb der Mutter an, was er bergen möge. Reſeda jebte ab. Ihre Bewegungen waren matt. Ste ging zu ihrem Sohn, und der erzählte, man habe Ida am Morgen tot in ihrem Bette gefunden, nad): dem fie ein paar Tage unpaß gewefen fei, wie Refeda wille. Die ſaß neben bem Cchneidertijch auf einem Gtuhl. Ihre Hände lagen im Schoß. Ihr Belicht hatte einen unjidjeren Ausdrud ber Ratlofigfeit. Cie begriff Ida nicht mit ihrem Mut, fid) auf die Wanderjchaft au begeben. Uber gleich fiel ir etn, daß keiner um jeine Zuftimmung angegangen werde. Gie badjte aud) weiter an all die Kleinen Un: zulänglichkeiten der Berjtorbenen, ihre große Demut vor den Leuten, ihr Trachten, es jedermann zu Danfe zu machen. Und weil fie fid) Die Ida nicht anders vorjtellei fonnte als mit dem Furcht: und Sorgen: unb Ergebenheitszuge, von den größeren Rechten der anderen platt gefdlagen: jo Mr E ren Wwwmam Swe bbe. — rb : Nam n4 "tái. as Wow Un 4 nH NT. we 4&9 rs Ut a ^4 RAD avo “ewe U ht ua “NS. Wo n. uw 10 BS3SS99:x399:—:552] Marthe Renate Fifer: meinte fie, werde aud) der Tod fie einfach platt gedriidt Haben. Und fie werde in der Ewigkeit nun dahinjchreiten, wie fie es hier auf der Erde gehalten hatte. Wenn abet nicht, jo dachte Rejeda, dann werde fie ihren Gaben gemäß verfldrt worden fein, nicht fehr in den ?Bereid) bes Heitern hinüber. Sie madte ihre Hauswirtichaft. Am Abend ging fie zu Idas Leuten, fie wolle die Tote jeben. Der Schwiegerfohn nahm die Laterne zur Hand und führte fie zur Scheuntenne hin. Da lag die Ida kalt und einfam auf der Strohfchütte, mit einem weißen Lafen zugededt. Über thr Totengelicht war ein tleineres Tuch gebreitet, bas der Schwie: gerſohn jebt abnahm. Darauf ftand er [till und andächtig in gehobener Betrachtung. Als er fid) zur Rejeda umwandte, fab er, daß ihr Gelicht fahl war mit halb ge: chloffenen Augen. Sie faßte jid) aber und fagte zu ihm: „Sie [tebt ganz anders. — Van müchte fro’e, ob jie das aud) wirt: lich ijt." „Berändert Bat fie ſich,“ gab er zu. „Mad) Du nur Deine Cadje," fagte Re: jeba, ,, td) bleibe indeffen noch e bißchen.“ Sie ftand dann mit der Laterne in ihren Händen und beleuchtete die Tote. Statt bes Gelidts mit den hunderttaufend Gor: gen, mit bem Kleinjein und Demütigfein, [ab fte ein Untlig, auf bem der große Zug der Befreiung thronte. Refeda fagte verftört: „Du bift bod) allen Leuten ihr Hampelmann gewefen ... So flein hätte ich mich nicht fonnt made, wie Du Did) gemacht haft. — Und ibe madjt Du fee Dienerchen merre.“ Ihr Geſicht wurde unficher. Sie fchüttelte ben Ropf, als verftehe fie etwas nicht. Und [ie jagte mit erjticdter Stimme: „So ijt aljo das Sterben... ." Cie bedte das ftille Gejid)t wieder zu, lieferte thre Laterne ab und ging heim. Da [ap fie am Tifd) bet ihrem Sohn und jagte: „Das ift mir unbegrifflich, wie eins lich Jo verändre fann. Wenn id) fie follte auswetje, ba würde id) Sprache: „Nein, das ift jie nicht. Sie hat feinen Zug mehr von [id).' Der junge Schneider jaB auf feinem Stublplag. „Du bift bod) gewiß müde.” „0, bas bin ich. —“ Sie hob den Kopf, den fie hatte finfen fajfen. „Nein, ich bin nicht müde. Ich bin bloß in Sinnen. Id) babe mir das Sterben immer anders vür- geftellt. Gu — ijt bas alfo.. ." „Wie denn?“ „Das ijt unbegreiflid) ,” fagte Rejeda. „da ijf ganz verändert. Die ijt gewad)- jen. Die hat alles abgeſchmiſſen, was un: zulänglich war. Wenn die fo könnte auf: ftehen unb wandern,.der würden wir bod) nicht mehr ent|predjen. Da wären wir nidjt [att vornehm und großartig.” Der Schneider fab fie an: fie jah aud vornehm und großartig aus. Ihr Gefidt hatte einen hochmütigen Zug des Nach: denfens. fiber den Zug erjchraf er. „Heinrich war bier,” jagte er. „Erſprach, er woll Dir entgegen.“ Nun fehrte ihr Beilt aurüd aus Wun: derland zur Alltäglichkeit. Und fie lachte und antwortete: „Sa, der hat mir bod) meinen Korb getragen. Wd), das ijt ein guter Menſch. Nun horde aber einmal: — er will mid) Deirote." „Er hat’s mir aud) gefagt, ob id) was einzuwerfen habe.“ Ste lachte nod) mehr, hell unb neugierig wie ein Kind. Und bod) gugletd voll Er: ftaunen. Da fagte der Schneider vorwurfsvoll: „Du follteft ihn nehmen, Refeda. “ Cie gab zurüd: „a, wenn ma Zeit hätte...“ Und fie fagte gang ernjt: „Mer find Dod) fertg damit. Mer wijjen bod) Beſcheid.“ Cie büdte den Kopf einbring: lid) vor, ratlos und altflug war der Mus: drud ihrer Züge. Draußen z0g der Wind. Mit einem Zweig vom Schneeballitrauche, ber an ber Hausmauer [tanb, flopfte er gegen bas wen|ter. Stimmen jdjallten herein, zwei SUtünner ftanden unweit und [pradjen über bas Wetter, ob es Regen geben werde oder ob der Wind den Regen vertreiben werde. Die Lampe brannte. a8 8 Bd Nein, ber Wind hatte es nicht zum 9te: gen fommen lafjen. Es wurde wieder bas ſchönſte Wetter, ein wenig luftig aber warm. Nun hielten fid) die Leute zur Landarbeit wegen des nahen Pfingitfeltes, bas einen Riegel vorjdjob, eine Frijt von zwei Tagen. Carum, als 3tejeba am nädjiten Vor: Eee: 249 Die Fahnenträgerin. ESISSSIZIZIZIZIZZZN 71 mittage wieder einmal hinlief, um ihre Freundin zu bejuchen, fand fie feinen zu Haufe. Aber fie wußte den Plab bes Gdeunenjdjlü|jels, nahm den Schlüffel und ſchloß auf. Co madjte fie es aud) am Nachmittage. Ganz allein war fie mit ber Berjtorbenen auf ber Scheuntenne. Sie war nun end: lid) fo weit, daß fie ſich flar mit ihr bereben fonnte. Das Scheunentor hatte fie hinter fid) augemadjt ; aber fie ging zum Deichlel: lod), bas fo groß war, daß ein behendes Kind hindurchſchlüpfen fonnte, und 30g ben Strohzapfen heraus. Ein bider Lichtjtrahl mit der Richtung auf das bretterne Haus, darin die Ida ausruhte, fand nun Zutritt. Ihre Leute hatten es im Tode an nidts fehlen lajjen, fie hatten ihr thr Brautzeug angezogen, ein bräunliches, halbjeidenes Kleid, dazu ihre guten Unterröde und neue Ichwarze Strümpfe. In ber gejchloffenen Hand trug fie als Reifegeld drei Pfennige. Aber es lagen auf dem Gewande nod) et- liche Pfennige verjtreut, bie bie guten Freunde ihr mochten gelpenbet haben. Als bie Nejeda nod) ein junges Mäd- chen gewefen war, hatte es feinen Ber: jtorbenen im Orte gegeben, den fie nicht betrachtet hätte. Diefer unb jener fiel ihr ein, aud) ber Vater ber Ida. Dem hatten lie weißwollene Strümpfe und [chwarze Gammetjdube zu feiner lebten Reife an: gezogen. Die Schuhe mit Sohlen von Pappe. Natürlich war er mit feinem beiten Anzuge befleidet gewefen. Ihr felbjt würden fie ihr blaufeidenes Kleid anziehen, bas von der eingewirften Schwarzen Wolle einen feinen Schiel- und Scillerton hatte. Es hatte weiße Kanten an den Händen und am Halfe. Auch die lilberne Kette würde Herwart ihr umbinden. Dazu würde ihr Antlih den großartigen Zug der Befreiung tragen. Diejen Aus: brud, der Runde gibt, dak ber Fuß fid) bergauf gewandt hat, und bap das Auge nichts mehr von den Mängeln diefer Erde lieht. Wud) daß die Mängel in ber eigenen Brujt alle ausgeldjdht find — der aufs Enge gerichtete Sinn, bas ganze Gedriice und Geprejje bes Erdentages. Cie fagte zu der Toten: „Ich habe im: mer mußt vornewag trappen. Du warfdt immer ins Sjintertreffen. Da Dat Dich der Wind nicht fo jehr gepadt, aber Du haft aud) fennen frifden Luftzug gefriegt. Und ibe ijt bas alles ausgelöjcht, Deine ganze Borlicht. Ma möchte bas aud) er: werbe. Ma benft, Du wirft anfangen zu fingen, und wie Du Deine Töne madjt, jo wirft Du mit den Beunen fürder gehen. — Co ijt aljo das Gterben . . ." Sie jab fid) um, richtete ihre Blicde in bie bunfeln Eden der Scheuntenne. Gie hatten alles flar gefegt, der Toten zu Ehren. | Dann [jab fie auch hinauf in das Gebäll. Gs war gerade, als [teife und erweitere fie ihre Gedanfen. Und als wolle fie aller ablenfenben Zwijchenrede enthoben fein. Ihr Geficht wurde leer und verſchwom⸗ men, ehe der große Sammergug ftd) heraus: arbeitete. Da bebten freilich ihre Lippen, und ihre Augen blidten ftier. „Und ich habe mich fünf Jahre davor gefdrdt’ ," jagte fie Ieije, „Daß ich gedacht babe, id) werre verwirrt. — So ſehre babe id) mid) vor dem Sterben gefdrdt’. Wo fonnte id) mir bas purjtelle, daß der Tod jo ſchön ijt." | Cie fdwieg und [a bie Ida an. Und jagte vertraulich zu ihr: „Nu fommt ige Heinrih! — Aber fann id) denn wieder ins Leben eintrete? Ich habe mich bod) drein ergeben, bap ich [djeiben muß. Nachen muß id) wieder von vorne anfangen. Das ſchaffe ich nicht! — Der ijt ohne Falſch, Heinrich. Das würde mid) bod) [chmerzen, wenn id) von den weg jollte. — Mtein Le: ben ijt verpaßt, meine liebe Ida, das war for ennen andern zugefchnitten, ber ennen andern Dioleft hatte, fennen jo rajchen wie ich babe.” Cie janf zufammen, ihre Hände falteten fic), aber nicht frampfhaft und inbrünjtig, jonbern gelafjen wie ihres Weges jidjer. Cie fagte vor jid) bin: „Die Welt habe ich mir nod) mal betradt’. Das ware föltlicher Tag. Und es war bod) ein er: hebender Augenblick, wie Heinrich mit dan Korbe nebenher ging. Und id) führte ibn..." Und nun jab fie wieder bie Ida an und wurde gang heiter unb erbaut. „Du fchlofit. Und durd) das DVeichjelloch [djeint die Sonne. Und der Strahl läuft über Dein Gejidjt. Das gehört fid) jo — gelle?" Ihre Stimme flang hell, jo leije fie war. „So alfo ijt das Sterben . . ." Cie wiederholte es mehrfach. Unddann a Sa. Wh Gi UNA. „du. Ws. va a un ams UAM. iu wm. | | | es, wn z8. Ss Es mi. Ue sr. is, * A fA cfm eee l4 t9 a Mim —— - m — — OY o2 i - en 7 Je D EEE | SEES a re az — — oem eure? Te en de EET E ' wu on 72 Be3EXEXEXEXEXERRE 8. Fehr. v. Berlepih: Der Winter. BSSSSS3S3S333I jagte fie fehnjüchtig: „Für den Bug toll id) was geben, wenn id) ben auch bitte...” & 8 8 Sie hatte ihn bann aber nicht, den groß- artigen Zug der Befreiung auf ihrem 9In- gelicht. Sie hatte ben heitern Kinderzug, den Zug der Boraufmarjchiererin und Jah: nenträgerin, die Wusjdau hält. Sie trug auf bem Totenbette ihr blaufeidenes Kleid, und fie trug reichlich Reiſegeld in ihren beiden Händen. Sie hätte gut nod) einen oder zwei oder vielleicht aud) drei Monate leben können. Aber jie war denen auf der Erde entlaufen. Cie hatte zuerſt den Tod zu fehr gefiird)- tet, unb als ihre Furcht ihr genommen worden war, hatte fie ihn zu febr geliebt. Oder fie Hatte vielleicht aud) gefürchtet, die Furcht fonne jid) wieder einftellen mit erwachender neuer Lebensfreude. Da war fie vorauf marfchiert.. Herwart hatte ihr ihr Gefangbud im ſammtenen Einbande mit in den Sarg ge: geben, und auf Heinrichs Veranlafjjung 2 — [. LL SOA eT. OE zZ m 8 LC KERRIES Se — RD N bd 2 N C) U e ® . z * — Ul o. Über bie Baume ftülpt dau, nun fibt er auf ted) wie der Daus, ubt fid) aus Der Winter. (Rinderlied.) Schau, was der Winter macht, der liebe Narre, Cpringt mit Sdellen einher, [oon es (id) vom Oſt bie tlingende Froftgitarre, us den Wolfen den Pierrot. Über die Bäche baut er gebredlide Brüden, Menn man drüber geht, | Freut fid) unbändig bes tollen Schnads. ürrifche Menſchen pridt er mit Nadeljpihen, widt in bie Naſe und [tid)t ins Bein, er den Frohen madjt er bie Augen bligen, on als Schnee und Sonnenſchein. dann aud) das Stridgeug mit den blant gewegten Nadeln und dem fchwarzen Taden. Denn Heinrich hatte eine unflare Vor: itellung, als ob Rejeda ihren Tag in dem {Htlichen Garten bes Paradiefes nicht aus: ſchließlich mit Lobſingen hinbringen werde. Co ſchwach war fein Behirn jedoch nicht, baB er im Ernſt ein Arbeitspenjum für fie ins Auge faßte. Aber es war ihm eine liebe Borjtellung, zu denken, fie libe in ihrem blaujeidenen Kleide vor einem blühenden 9Rojenbujd) mit dem Stridzeug in ihren Händen, bie [o felten gefeiert hatten, und gu jeder Maſche, bie überhüpfe, mache der Ginger fein brol- liges Dienerchen. Und bie Reſeda drehe ihr eirundes An: gejicht von ber Rechten zur Xinfen, und ihr Mund jd)jwabe und lache. Und bas jet eine rechte Freudenede im Umfreis der Rejeda. Und es wimmele da immer von abgefchiedenen feinen Seelen, die Freundſchaft mit ihr gejd)lojjen hatten. ^ SSS NN 'WN. oot, s "à o " — “@SAE YE SH M JXXXXXXXXXOOCOOGOOCOO —— eseee eg - 4. — aS SO oT a NE ERR RA EM -T x agen fie: Rnads! er Buderperüden, = == oM ^ m MC M ww Tu UT & S NEIN 6 L] 6 LÀ L] LÀ e a Li " . [] LI e e a ' g 8 : e € |. Waters Haus. Und raudt feine Mtorgengzigarre! Seta, Winter, Du lieber Narre! — Karl Frhr. von Berlepſch. Mi 1 N L 212200972772 "Em ar LAS Ae DEN SS) 6 1 0 AES 9 ED 0 E> 6 EE 6 EUR O «M 6 EE 0 I 6 «OQ 0 4e P «DU P AP 6 «9p. 0 0 Ko geringjte Intereſſe für mich. Sie Cod war mir jo gleichgültig, fie ließ mich fo falt, daß id) als Rnabe mich wei: gerte, bem Beijpiel meiner Gejdhwifter, Schul: und Altersgenojjen zu folgen und bie Tanzjtunden mit zu nehmen. Ich war als Junge ein jo weltfremder, nur in der Phantafie lebender Hans der Träumer, daß ich eine frankhafte Scheu vor allem gejelligen Verkehr hatte und bejonders bas Zujammenjein mit jungen Mädchen ängjt: lid) floh. Wenn mir damals ein Seher voraus: gejagt hätte, dak dieje Abneigung fid) einjt in bas [trifte Gegenteil wandeln, daß ich ben als Knabe verjdumten Tanzunter: richt noch in meinem jechzigiten Jahre nachholen und bis in meine Achtziger Din: ein ein leidenjchaftlicher Valſeur bleiben würde! Wenn er gar in meiner Zukunft gelejen hätte, daß id) während ganzer Jahrzehnte von ber Voſſiſchen Zeitung nidj nur mit ber Beiprechung und Schilderung ber of: fentlichen Ballfeſte in jeder Saifon, jon: dern auch mit der Aufgabe ber friti jen Berichteritat: tung über bas Ro: nigliche Ballett im Dpernhaufe betraut werden würde! — Hätte er mir's ver: fündigt, id) glaube, ich wäre ihm jo grob und beleidigend ge: fommen, wie König Odipus dem „ollen ehrlichen” blinden unb doch [o hell: und weitjichtigen Teire: ftas. „Man foll jid) nimmermehr ver: Lola Montez. Erinnerungen an bedeutende Tanzkünftlerinnen. | Bon Prof. Ludwig Pietjch. 9 eu OMS 0D O e O > br Te ed et a > a 9 > o e ac «PU 0 SS do 5 pe HU dp pp Bob ep pe > o mefjen: von bieler Cpeije werd’ id) nie ejjen.“ In meiner lieben, herrlichen Baterjtadt Danzig, in der id) bis zum 16. Jahre im Baterhauje lebte, wurde man Durd) das [tünbige Stadttheater wohl mit man: chem guten Schaujpiel, Schwanf und Sujtipief, fowie aud) mit mancher guten deutjchen, italienischen und frangofijden Oper befannt gemadjt. Aber den Luxus eines Ballettperjonals und der Aufführung von Langpoémen [id) zu geftatten, war das Theater nicht fähig. Nur von Berlin her drangen Schilderungen der Pracht und Herrlichkeit der dort am Königlichen Opern: hauje aufgeführten großen Balletts zu uns herüber. Man wußte von dem Wohlgefallen des alten Königs Friedrich Wilhelm III. an diejen ftummen Bühnenjpielen. Als jein geijtreicher Sohn im Juni 1840 zur Regierung fam, glaubte man gewiß zu fein, daß für die Königlichen Schau: \piele fortan bie Ba: role lauten werde: „Mehr Shakejpeare und weniger Bal: lett.^ Die damals beginnende Theater: periode während der Regierung Friedrich Wilhelms IV., bes funjtfreundlichen Romantifers auf dem Thron der Ho: henzollern, hat bie: jen Glauben denn aud) vollfommen be: ftdtigt. Ballettauf- führungen fanden leltenerjtatt, ſpielten in unjerem Berliner Bühnenleben nicht mehr die erjte Rolle. Wher immer nod war die der Tanz: funjt zugewiejenebe: deutend genug. Mir freilich gelang es aud) damals nicht, — —-- — | inen n te Mena. ER. SSS 8 Á lee ced 7 vm — > — Ta "» = - 4 > : Warum — — — — == ET! Mt E LJ - — s — 7 u " A UU — —— * — = - ET. XE um n 44 à . — = Sa ain ‚am _ =... =. ~~ T 74 LSSsessessessssay Prof. Ludwig Pietich: bejonberes Wohlgefallen daran zu gewin: nen. Die pompöjen, prachtreichen SDtajjen: aufzüge in diejen großen Balletts gaben zwar [aenijd)e Bilder von prächtiger male: rijdjer Wirkung — qreulich aber waren mir immer der herfömmliche Colotang und aud) der Enjembletanz ber Ballerinen in den furgen, abjtehenden, weißen Ballon: ródd)en und Bänderjchuhen. Die fonven- tionellen Bas, Pirouctten, Behenjpißen: tänze, bie das eigentliche Ballettpublifum jtets zu jtürmijchen Beifallstundgebungen hinriljen, erſchienen mir lächerlich in ihrer Unnatur und fünjtlerijdjen Geſchmackloſig— feit. Am lächerlichjiten aber fand ich bie Herren! Die hatten die Heldenrollen zu ELA mimen, zu tanzen unb zu |pringen — fie waren die erjten Tenöre bes Opernballetts. (fs handelte fid) da um große Tanz: dramen, Schöpfungen der älteren fran- zöliichen Mteijter, bes Ballettmeijters Ho: quet und feines Nachfolgers an der Berliner Oper, des berühmten Herrn Tag: liont, zu denen teils &apellmeijter Bährich, teils Schmidt, teils &apellmeijter Hertel die vorzüglich dafür geeignete Muſik zu legen pflegten. Unter den damaligen Tänzerinnen an der Berliner Oper (während der vierziger Jahre) fehlte es nicht an hübjchen, gra: ziöjen und jogar mod) jungen Damen. Aber ein eigentlicher „Stern“ von außer: ordentlidem Talent und Können und euro: pdijdhem Ruf war nicht darunter. Die durch Schönheit zu: meijt Glangende war gril. Lemfe. Karl Begas, ber gejeierte Meilter (ber Water Reinholds), hatte fie in einem reizenden Bildnis mit einem durchlichtigen Schmet: terlingsflügelpaar als $Bipde darge: jtellt. Sie entflammte das junge Herz des alten Grafen Schwe: rin mit dem inter: ejlanten, abler- ober fondorähnlichen Ge: licht jo heiß, daß er jie heiratete. Mit Aus: nahme von Marie Taglioni, der Gat: tin des Ballettmei- jters, waren bie hier damals angeltellten Ballerinen, die Bor: bomid), die Galjter, die Hoguet Veſtris, die Bethge und die andern alle doch nur guteDurchichnittstän: zerinnen. Der Unter: ſchied zwilchen ihnen und einer großen a Fanny Gifler in dem Ballett „Le Diable boitenx“. 2 genialen Riinjftlerin PSSsSsSsSsessseq]«S«Erinnerungen an bedeutende Tanzfünftlerinnen. wurde uns einbring- lid) vor Augen ge: führt, als in ben Jahren 1842 und 1843 Fanny Elf: ler, einige Gajtrollen im Berliner Opern: hauje gab. Das war die weltberühmte Tanzfünjtlerin, — bie einjt Fr. Genk be: leltat, bie Franzoſen, bie Rufjen, bie Eng: länder, bie Wiener (und vor zehn Jahren auch die Berliner) halb toll vor Enthu- jiasmus gemadjtbatte. Sie bejaß ben zweifel: haften (in Wahrheit wenig begründeten) Rubhmestitel , le tom- beau du due de Reichstadt*, Ic habe fie nur einmal gejehen. Mein Ber: langen, SBallettvor- jtellungen zu beju- chen, war noch im: mer gleich Null. Und meine Mittel reichten aud) nicht zu häufi: aerem Billetanfauf. & Aber — Fanny Elf: ler — da mußte man wenigjtens einmal Dabei gewejen fein! Ihre einjtige elfen- hafte Schlanfheit |djien jid) nur wenig ae: wandelt zu haben. Und der große Zug, die ideale Brazie, ber Adel der Bewegun: gen, die beredte Sprache ber Mienen, der Augen, der Arme und Hände war der großen Künjtlerin — ganz abgejehen von der höchſten ted)nijd)en Vollendung des Sunjttanges — unverloren geblieben und machte die ungeheuren Erfolge recht wohl erflärlich, bie fie in den zwanziger und den dreißiger Jahren errungen hatte. Noch an eine zweite berühmte Ballerine, die wir 1846, und an eine dritte, Die wir 1848 und 1849 im Berliner Opern: hauje gajtieren jahen, erinnere id) mich ziemlich deutlich. — (rjtere war bie internationale Ballettgröße Fanny Ger: tito, bie im Jahr ihres erjten Berliner Marie Tagl Nady ioni als Thea im gleichnamigen Ballett. einer Zeichnung von Paul Biirde. Auftretens ihren Kollegen Leon heiratete; bie zweite war bie bejonders in Lon- don hochgefeierte Lucile Grabn. Die Cerrito bejaß eine Kleine, fleijchige, zier: liche, aber jehr bewegliche, hübjch geformte Geftalt; fie hatte etwas eigentümlich Friſch— lebendiges, Munteres, Conniges und fie wußte einen liebenswürdigen Humor zu entfalten. Die einzige Rolle, in der id) fie auftreten jab, gab ihr gerade dazu Gelegenheit. Es war die Titelrolle des 1844 von Hoguet verfaßten, von Schmidt mit Mufif verfehenen lujtigen klei— nen Balletts: „Die Tänzerin auf Reijen”. Ihr Wagen wird ba von Näubern über: fallen. Wher bieje Rauber werden von der Kunft und Anmut ber von ihnen Befange: nen jo bezaubert, daß fie ihr alles Ge: raubte zurüctgeben, ihr enthuſiaſtiſche Hul: bigungen bringen und fie endlich in Frie— — —— — — — —— — S - --- : - - "TM == > — - 4 - "-- — * e > - a = = Py ae ie — sur oe dae. — — — ML dis s adiu NR das 0 NBC SRL! || ~>- * o MA uA Ro NAA — Boe — A - " a- -— — ^ we - = - » * Ses MES . LR. ee TR eagle .- oU SERES. vi T ETT ete m ^ qc " - .d» domo ——— ——— —— 70 ——————— Prof. Ludwig Pietſch: BSESSSsesesssssss4 den ziehen laffen. Lucile Grabn [ab ich in einer ihrer Hauptrollen, der Bijela in bem altberühmten Ballett: „Die Willys” von St. Georges und Coralls: ich be: wahre von ihr aber nur einen allgemeinen Gindrud von Anmut unb Grazie, feine harakterijtiiche Erinnerung mehr an ihre Büge. Noch eine Erfcheinung unter den fremd: landijden Tänzerinnen, die während ber vierziger Jahre auf der Bühne des Königl. Opernhaujes gajtierten, hat mir Eindrud bin: terlajjen: bie ſpaniſche Tänzerin Lola Mon— teg. Im Jahr 1846 gab das felt: jame exoti|d)e JBelen mit ben übergrto- Ben glutvol: len ſchwarzen Augen in dem gelblich blajjen Ge— ficht, mit dem üppigen Ichwarzen Haar und ber feingeform: ten jchlanfen Gejftalt hier eine Galt: tolle. Cine einzige. Aber die genügte, um die ganze Nichtigkeit der Dame zu erweilen. Das feurige Temperament in ihren rein naturalijti- chen, von Raftagnettengeflapper begleiteten Sprüngen, Bein: und Körperjchwenfun: gen fonnte das nicht vergejjen machen. Mit biejem Auftreten war zugleich irgendein Cfanbal verbunden, ber durch eben dies Temperament der Dame veranlaft worden war. Die Reitpeitjche ſaß ihr gar zu Loder in der Hand, und in der Wahl derer, die damit durch fie bedroht oder gar wirklich bearbeitet wurden, legte [ie jid) feine * , Ceftora Pepita be Oliva. Beichnung von R. Hoffmann. : künſtleriſche sBerlag der R. &. Soffunitbanblung von &. T. Siren in Wiek. lid) ballett- Einſchränkungen auf. Damals hatte na: türlich noch niemand eine Vorahnung von den fabelhaften Schidljalen, die ihrer be: reits im nádjiten Jahr in München harr: ten — Danf der durch bie heikblütige Señora erwedten Liebesleidenjchaft bes bayerijden Künjtler Königs Ludwigs I. Mährend der vierziger Jahre hatte ftd) unter den Augen und in der Schule des Vaters unb Lehrmeifters Taglioni unb nad) bem mütterlichen Vorbild fein Töchterhen Marie zu einer feinen, an: mutigen: Mädchenblu- me und zu einer Tanz: fünjtlerinent: widelt und herangebil: det, die den altberühmten Namen mit neuem Glanz zu umitrah: len vetbiep. Durd) ihr erjtes Auftre: ten in dem neuen Ballett ihres Vaters „Thea Die Blumenfee“, Mufif von Pugni, im Sahr 1847 im Berliner Dpernhaufe, eroberte fie die damals außerordent: freundliche Gefelfchaft im eríten Anlauf. In bie: jer ihrer Anfangszeit war fie eine zarte, ſchlanke, mittelgroße Mädchengeitalt von außergewöhnlichem Liebreiz, in deren Be: wegungen nod) etwas naiv-findlides lag, wenn fie aud) die traditionelle Ballett: technik bereits als Meiſterin beherrjchte. Lange auch beherrjchte fie bie ganze Ber: liner Ballettbühne. Für fie dichtete der Vater große Tanzpoeme, feine „Satanella“ (Muſik von Pugni und Hertel), feine „Al phea” (Mtujif von Hertel), ,Ballanda” LSSSsSssesSseq Erinnerungen an bedeut ee eee Ss Adele Granhow. Ctidj nad) Photographie aus ber Diirrfden Bud: handlung in Leipzig. (Gährich), „Flik und Flock“, „Aladin“, „Morgana“, „Elektra“ (alle mit Muſik von Hertel), deren erjte Rollen der ge: liebten Tochter gleichjam auf den Leib gejchrieben waren. Und ebenjo wurden die weibliden Hauptrollen in den älteren großen romantijchen Tanzdid): tungen, wie im „Seeräuber“, in den „Willys“ und die in den von anderen verfaßten Balletts — wie Perots „Ka— tharina, bie Tochter bes Banditen” mit Mufit von Pugni und Deldevize (1849), „Baul und Virginie” von Gardel und Hoguet, Mufit von Bährig unb „Das hübjche Mädchen von Gent“ von Ct. Georges und Albert (Mufif von Adam) — nur ihr übergeben. Während der fünf: ziger und fechziger Jahre wudjs Die feingeformte Mädchengejtalt zur präch— tigen Reife heran. In ihrem Wuchs waren Sdlanfheit und Formenfülle glüd: lich verbunden. Ihre Bewegungen und ihr Tanz waren zugleich graziös, fraftvoll und elaftijch. Wher bet aller Anerfennung ihrer tanzkünftlerifchen Leijtungen hat fie mich immer falt gelajjen. Ihr Feuer felbjt erwärmte und entflammte nicht. Dod) das war nur meine fubjeftive Empfin: ende Tanzkünjtlerinnen. EI IZ3N 77 bung. Unjer Ballett: Publitum bewies bei jedem Auftreten der Künftlerin, wie lebhaft es fie bewunderte, wie es ftets aufs neue durch ihre Erjcheinung und ihre Virtuofität gepadt und Hingerijjen war. Ihres Baters großes Tangpoém „Sar: Danapal” war das lebte, bas er für bie Tochter jchrieb (1865). Im nächſten ahr vermählte fie fid) mit bem Fürjten Mindiichgräz und nahm für immer von der Bühne Abjchied. Als des franfen Königs Bruder Wil: helm, der Prinz von Preußen, 1857 die Regentſchaft übernommen, und mehr nod, als er den durch Friedrich Wilhelms Tod erledigten Königsthron bejtiegen hatte, begann eine neue Glanzzeit bes Berliner Balletts an der Königlichen Oper. Wilhelm I. hatte das Woblge- fallen an diejer Kunjtgattung von feinem Vater Friedrich Wilhelm III. geerbt. Wntoinetta del’ Era. Nach einer Photographie. 8 8 78 Esssessssessssaqq Prof. Ludwig Pictih: BSSSssessssssssd In häufigen Wiederholungen gingen Taglionis, den ganzen Abend fiillende Tanzdichtungen, verjchwenderijch ausge: jtattet, über die Bühne des Opern— haujes. Und in allen leuchtete Marie Gaglioni als Stern erjter Größe, bis fie aus dem Theaterhimmel in ben Che: himmel jtieg. Um die Mitte der fünfziger Jahre aber war in Serlin ein (term Der Tanzfunft von einer ganz neuen und anderen Gattung, in farbig funfelndem Brillantfeuer jtrahlend, aufgegangen, der bie Augen blenbete, die Herzen ent: flammte, wie nur jehr wenige vor thm. Auf den Brettern der Friedrich) Wilhelm: jtädtiichen Luſtſpiel- unb Operettenbühne, des heutigen „Deutjchen Theaters”, in der Schumannitraße, war bie für ein furzes Gajtjpiel gewonnene „jpanijche Tänzerin“ Pepita de Oliva erjchienen. Was fie bem erjtaunten Publifum zu jchauen gab, war wirklich etwas auf bem Gebiete des Sunjttanges in Berlin bis dahin nod nie " as Die ruffifhe Tänzerin M. de Woronewsfaja. Nad einer Photographie von Reutlinger in Paris. a are Jen v i C ! LO - * ^ T. » " e 4 B | : y M = en. 2.0.5 RE | . Margarethe Urbansta. Nad einer Photographie aus dem Atelier Wictorta in Berlin. (Sejebenes. Der Eindruck biejer Sünjtlerin auf Jung und Alt, auf Dann und Weib war überwälti- gend; teils Durch bie wunderjame, Sinn und Seele bejtridenbe Schön: heit des Kopfes und der ganzen Erſcheinung, teils durch die Eigen art ihres Tanzes. Diejer Tanz hatte nichts gemein mit dem, in dejjen Ausführung die Tänzerin: nen von den Balletts aller großen Opernbiihnen immer ihren größe: iten Stolz und Ruhm gejucht hat- ten: Die äußerſten Widerjtände der Natur bes menjdjidjen Körpers zu überwinden. Es waren viel: mehr Tanzmonologe, welche die „Spanierin“ (in Wahrheit joll fie Srldnderin gewejen fein) auf ber Bühne zur Schau bradte: „La Madrilena* und „Ei Ole* gebei- Ben. Ste erjchien nicht in dem greu- lichen, weit abjtehenden, weißen Ballettröcchen, jonbern in einem weichfaltigen, weißen, Jpikenbe- LSSSSsesssss] Erinnerungen an bedeutende Tanzkünitlerinnen. 79 lebten, bis über bas Knie reidjenben, mit einer farbigen Schärpe umgürteten Rod. In dem Tanze „El Ole“ trug fie bie Fülle der langen, pradtvollen, ttefjchwarzgen Haare aufgelöft, bie ihr wie ein jeibiger, Dunkler Mantel bis tief über die Hüften hinab über den Süden wallten. Ihre Bewegungen be: gleitete fie mit taktmäßi— gen Kajtagnettenjchlä: gen. Bei dem andern Tanz war das Heben und das mit den Hdn- den Hin: und Herjchlen: fern der baujchigen Rochen ein Hauptmo- tiv ihrer Bewegungen. Bon dem, was man Friederife Kierichner. Nach einer gran te aus dem Itelter Wictoria in Berlin. nen erinnerten, befun- bete fic diefer tolle Enthujiasmus der Ber: liner Gejelljdjajt. Aus der Maſſe der ihr ge: wiodmeten poetiſchen Sunbgebungen find mir ein paar jehr treffende und charakterijtijche *Berje aus einer anony- men, damals im Ber: liner „Dtontagblatt“ er: Ichtenenen franzöliichen Dichtung während bie: jer fünfzig Jahre im Gedächtnis geblieben. Da hieß es: „Dieu! Comme elle est belle! Sa noire prunelle Repand autour d'elle Des éclairs ardents. En basquina blanche, La main sur la hanche, Les cheveux flottants unter Tanz tun ijt ver|teht und an den! So tritt fie vor die wie geblendeten Zu: gefeierten Tänzerinnen zu: meijt pries und bewunderte, war in biejen Pepitatänzen feine Spur. Gie erjchienen wie der |pontane Ausdrud der durch Die feurigen Rhythmen der Muſik elct- trijd) hervorgerufenen Emp- findungen eines jüdlich hei: Ben Ntaturells, bie jid) aus innerem Bwange in tang: artigen Bewegungen — ber ganzen Gejtalt — nicht nur der Beine und Arme — äußern mußten. Nichts Er: leıntes und Gefüniteltes war darin. Wher von einem jungen Weibe von jo blen- dender, jieghafter Schönheit vorgeführt, verjebten diese funjtlojen Tänze die Augen und Herzen der Zujchauer in einen wahren Paroxts- mus bes Entgiicens, der [tür: mi|den Begeijterung. In Huldigungen, welche an die der Henriette Sonntag und Franz Lijgt bei jeinem Be: jud) Berlins 1842 erwieje: Cabaret. Sano von Franz von Lenbad, in Fatfimilereproduttion. Verlag von Hubert Köhler in Wünchen. 80 KSSSSsSssesSsesssseq Prof. Ludwig Pietidh: (B3S3BSBseses3sssssssiA Ichauer hin. Dann läßt der Dichter bie Schöne jelbjt Iprechen:: A dieu votre école, Langoureuse et molle' A moi, Espagnole, La danse, tour à tour Eperdue et folle, Un drame d'amour. Und wieder jchließt er zu— [ebt mit bem Anruf an fein Idol: Dieu! Comme elle est belle! A toi caurs et fleurs! Et la saltarelle Emporte avec elle Nos fleurs et nos cours! Die Senora ließ jid) hier übrigens von einem ritter: lichen, reichen, jüngeren Bankier aus einem alten Berliner Haufe erobern und veranlaßte dadurch das Ent: ftehen eines köſtlichen Mei: jterwerfes der Aquarellmale: tei: ber berufenjte und aus: erwählteſte Maler weiblicher Schönheit Profeſſor Guſtav Richter wurde von jenem glücklichen Anbeter mit der Ausführung ihres Bildniſſes — IRE," EN RL Ten tmm 4 " E - ' "A ——— J a rs . m e dio c s . ET 8 at. *e = a. — ab; - Rita Sacchetto. Mad einer Photographie von Ad. Baumann in München. Sfabora Duncan. Mit Genehmigung von Hofphotograph E. Bieber in Berlin und Hamburg. in ganzer Figur beauftragt. Es ftellt fie tubend auf einem Lager in phantajtijch- orientalijdhem Koſtüm graziös Dingejtredt dar. Später hat fie nod) jolidere, dauernde Bande in Berlin zu fnüpfen verjtanden, einen ihrer Verehrer geheiratet und dann lange als Guts: und Schloßherrin auf einer 3Befibung in der Nähe von Spandau unb dem Tegeler See gelebt. Wohin fie \chließlich ent|d)munben ijt, babe ich nicht erfahren. Auch auf der Königlichen Bühne hat Pepita be Oliva im Jahr 1853 drei Gajtrollen gegeben, die aber auf das dortige Ballett-Stammpublifum nicht ent: fernt den gleich jtarfen Eindrucd machten, wie ihr Auftreten in ber Schumannftraße. Andre ausgezeichnete Gajte aus der Fremde haben wir dann im Laufe der fünfziger und fechziger Jahre wie Mteteore über bie Bretter unferes Opernhaujes dahinjchweben jehen! Die Bogdanoff, Beee9hReSIE Erinnerungen an bedeutende Tanztünftlerinnen. 81 die jchöne Friedeberg, bie Woronewsfaja, Die David. Aber feine reichte heran an jene größte, genialjte Tangfiinjtlerin, die wir im Frühling 1872 auftreten faben, wo fie ihre eriten Gajtrollen im Opernhaufe gab: Adele Grankow. Daß mit dem herfömmlichen Ballettanz in feiner voll: fommenjten künſtleriſchen Ausführung ber ergreifenb|te poetiſche Ausdruck aller wech: jelnben Geelenjtimmungen verjchmolzen werden fann, ijt mir bod) erjt burd) fie bewußt geworden. Sie war eben ein Wejen von jeltener einhett und Schönheit bes (Seijtes in vollfommen ge: formter förperlicher Hülle. Ohne dak ihr Wntlik durch glänzende Schönheit aufge: fallen wäre, war es von einem wunderbaren Zauber holder Anmut und höchiter Ausdrucksfähigkeit. Dazu eine Geftalt von reinjtem Ebenmaß. Die wichtigiten Kunjtmittel und lebendigen Snitrumente für Tanzkünit: [erinnen, die Beine, waren bei ihr von wahrhaft klaſſi— iden Formen, wie man fie bei Berufstänzerinnen nur äußert jelten findet. Bet Diejen werden Durch den guBipibentana, ber ja von alters her eine Hauptitelle im Regifter der ertigfeiten einer Ballerina einnimmt, bie Wadenmusfeln in |o an: aejpannte Tätigfeit verjebt, daß fie allmählich zu einer unverhältnismäßigen Stärfe anjchwellen und dadurch die Linienharmonte bes Beines beeinträcdhti: gen. Zur Schönheit gehört es aber imt mer an er|ter Stelle, daß die Breite der Sniepartie in ber Vorderanlicht ber der Wadenpartie bes Unterjchenfels mindeftens gleich ijt. Bet den meijten Tänzerinnen findet das Gegenteil [tatt. Die Knie: partie ijt bet ihnen jchmaler und wirkt wie eingejd)nürt im Verhältnis zu der Fülle ber [ebteren. Das Bein der Grant- gow machte eine Ausnahme von dufer: jter Geltenheit. Die Technik bes her: fómmlidjen Ballettanzes der klaſſiſchen franzöliihen Schule beherrjchte fie als vollfommene Meijterin. Spielend Iojte fie die fchwierigjten Aufgaben. Das erichten bei ihr als etwas jchlechthin Selbjtverjtändliches unb Natürliches. Es — Die Schlaftänzerin Madeleine. Mad einer Photographie von Boiſſonnas Fred & Co. in Genf. trat völlig zurüd gegen ihre unvergleich: liche Gabe, jeelijd)es Leben, nicht nur große Leidenjchaften, |onbern die aartejten Gefühle und Stimmungen durd ihre Kopf: und Körperhaltung und die ftumme Sprade ihres Belichts zum ergreifenden, zum rührenden, zum hinreißenden Aus: drud zu bringen. Vn dem alten Ballett „Die Willys” gab fie hier die erjten Broben biejer Runjt und brachte dabei jeelijdje Wir: Belhagen & Klafings Monatshefte. XXIV. Jahrg. 1909/1910. II. Bd. 6 89 [33830393 393: :3: 32389] Prof. Ludwig Pietih: [sesessesesesssessssT fungen hervor, wie man fie ber Balletttanz: funjt als durchaus verjagt und fiir fie uner: reichbar geglaubt hätte. Cine zweite Rolle, in Der Adele Grangow wahrhaft bezaubernd wirkte, war bie des Zigeunermädchens in dem Ballett „Esmeralda“ (nad) Victor Hugos „Notre Dame de Paris“, von Perrot, Muſik von Bugnt). Cie hat mich überhaupt menſchlich und Fünft: lerijd) gefellelt, wie nie zuvor und niemals nachher wieder eine Tänzerin. Ich war be: zaubert von ihr. Und fie war danferfiillt da: für, daß ein aufrichtiger Kritiker (id) Hatte es damals jdjon übernommen, über die Ballett: aufführungen der Königlichen Oper regelmäßig in ber „Voſſiſchen Zeitung“ zu berichten) aud) einmal in fetnen Belprechungen wirflid) auf ihre poetifchen Sntentionen liebevoll einging, Ruth St. Dents mitindifdhem Kopfiämnd. x : s : : , Mad — — von, ihre eigen|ten Abjichten erriet und vielen taujend Giri Fiiher: Schneevoigt in Berlin. Sejert mit warm: herziger ehrlicher Be— geijterung erzählte und [childerte, was dies ſchöne, holde, gottbegnadete Ge: ſchöpf auf der Bühne uns zu bieten wußte. Wir wurden gute greunde. Sd) brachte ein paar jchöne Früh: lingstage 1872 in Wiesbaden mit thr zu. Als fie 1873 und 1874 3u neuen (Gajtjpielen wieder: fehrte, war ich meilt abwejend von Ber: lin, in Wien und Italien. Sie Hatte das Herz eines vor: nehmen Garde: Offi: ziers erobert. Allen Widerftinden zum &rob follte eine Hei: rat beider erfolgen. Da 30g lid) bie Lan: zerin eine leichte Verlegung am Rnie zu. Die Torin ließ ji) von einem Rur- pfujcher bejdjmaben, die Heine Wunde von ihm behandeln zu Ruth St. Denis als inbildje Tänzerin. lajjen. Seine Be: Mah einer Photographie von Siri Fiicher: Schneevoigt in Berlin. Erinnerungen an bedeutende Tangfiinitlerinnen. [2423242424249 83 ec führte zu einer Blutvergiftung, die (1876) ihren Tod in der Blüte der Sabre herbeiführte. Neben Marie Xagliont waren es ander Königlichen Oper bejonders die in ihrer Ballettjchule ergogenen bild: hübſchen Schweitern Kiting, die fid) in den großen Bal: letts hervortaten, bie von Mailand gefommene Linda, Die reizende Lilienthal, bie jtattliche Gieje, bie in ben getragenen pantomimi|d)en Rollen Borzügliches leijtete, die Schweitern Trepplin, die Döring, bie Lenvir, bie Cajati, die Selling. Sm Sabre 1870 wurde Die blonde Schwedin Amanda ow orsberg für Berlin ge: wonnen. Diefe Tänzerin erreihte an dtberijd)er Fleiſchloſigkeit fajt die große Sarah Bernhardt, aber fie nahm dod) während der Sahre bis zu ihrem 1877 erfolgten Abgang eine ähn- liche Stellung im König: lichen Ballett ein, wie bis 1866 Marie Taglioni. Das Gerücht war viel verbreitet — und geglaubt —, fie erfreue fid) der ausgeſpro— chenen Bevorzugung durd) helm. Im Jahre 1879 betrat eine junge Ele: vin der Mailänder 3Ballettjd)ule, Fräulein del’ Era, zum erjtenmal die Berliner Opernbiihne. Sie war zuleßt in Meſſina verpflichtet gewejen und fam zunächſt nur zu einem Gajtjpiel hierher. In fünf Bor: itellungen bewies fie eine ungewöhnliche Virtuofitat in ber gejamten traditionellen Ballettechnif, eine erjtaunliche LXeichtigfeit der Bewegungen, verbunden mit einer ausdrudsvollen Mtimif. Bet den eigent: lichen Spezialijten ber Ballettfennerjchaft errang fie einen großen Erfolg. Cs fam ichnell aum Abjchluß eines felten Engage: ments für die Berliner Oper unter glänzen: den Bedingungen. Und während der jeit: dem verflojjenen Jahrzehnte hatte jid) bie Maud Allan. Mad) einer Photographie von R. Sübrtoop in Hamburg. Raijer Wil: Sünjtlerin als Prima ballerina unbeftrit: ten an unjerer Königlichen Oper zu be: Daupten verjtanden. Dabei fehlte es ber Dame durchaus an eigentlichen körper— lichen Reizen. Ihre Gelichtsformen waren rundlich, nichts weniger als edel gezeichnet, auch die Augen waren ziemlich ausdruds: los; ihren Bewegungen fehlte es an plaiti: ſcher Schönheit, wie an bejtrienber Grazie. Aber das Alles Hinderte nicht, dak jie als die Erjte unter allen an unjerer Oper galt. Junge Riinftlerinnen von wirklicher Schönheit bes Wuchjes und glüdlichem Xa: lent wie vor allen Frl. Urbansfa, bie Jett ihrem fünften Jahr in der Königlichen Ballettjchule herangebildet ijt, wie bie Schweitern Sonntag und jeit einem Dutzend Jahre Frl. &tev| d)ner (ebenfalls 6* Oiga Desmond. Mad einer Photographie des Ateliers Stowranel in Berlin. eine Elevin diejer Schule) waren trot; alle: dem nie dazu gelangt, mit der allmäch— tigen Diva in ihren Hauptrollen al: ternieren zu Dürfen. rl. Urbansfa bejaß vor zwanzig Jahren nocd (1884 wurde jie engagiert) eine Gejtalt von wunder: voller Gchlanfheit und feenhaft Teichter und graziöſer Beweglichkeit. Sie verfügte nicht nur über bie volle Meiſterſchaft in ber Kunfttechnif des Tanzes, jondern ebenjo aud) über eine ausdrucsvolle Mienen: und Gebdrdenjpradhe. Immer mehr find ihr tm lebten Jahrzehnt ſolche Rollen zugewiejen worden, die bejonders bieje Begabung von der PDaritellerin fordern. Ihr Wuchs ijt voller und mäch— tiger geworden. Ihre Bewegungen und Stellungen haben großen Stil. Hoheit und Anmut weiß fie glüdlid) darin zu vereinigen. Dieje wichtigen Aufgaben im dramatijchen Tangpoém fönnen nie: mals fiinjtlerijd) vornehmer, vollendeter unb befriedigender gelójt werden, als es durch Frl. Urbansfa gejchieht. Aber wer 1353434343: — —— | fie einmal in einer friſch und heiter bewegten Tanz: rolle jah, wie in ben „Phan: tajien im Bremer Ratsfel- ler“, mußte bod) beflagen, daß fie nicht häufiger für die eriten Partien in Anjpruch genommen ward. orl. Kierſchner hat be: Jonders in allen Arten von temperament: und ausdruds- vollen Charaftertänzen, zu: mal ſolchen von bejonderem nationalen Gepráge, eine jtarfe Begabung, Schwung und Feuer und auperorbent: lihes Können bewiejen. Eine ihrer prächtigjten Lei- [tungen fonnten die Bejucher bes Opernhaujes in ber glan- zenden Vorſtellung von Verdis neu einjtudierter Oper „Aida“ bewundern: den von bieler Künitlerin mit hinreißender Verve und erjtaunlicher Kunſt aufge: führten Schwertertanz der ägyptiſchen Sklavin vor ber Pringeflin. Seit dem Regterungsan:- tritt Kaiſer Wilhelms II. find bie ehe: mals viel aufgeführten großen Balletts mehr und mehr zurüdgejtellt worden und von der Bühne unjeres Opernhaujes fait gänzlich verjchwunden. Höchſtens das vielbefprochene Gelehrtenballett „Sarda: napal^ ijt aus neuerer Zeit zu nennen. Es werden aber unter dem Regime des treff: lichen Ballettmeijters Emil Graeb hidjt \orgfältig injgenterte und einjtudierte Balletteinlagen in den großen Opern vorzüglich zur Aufführung gebracht. Von jelbjtandigen dramatijden Tanzpoemen fommen ſonſt nur Eleine, heiteren Genres von furzer Dauer, wie „Coppelia“, „Die Puppenfee” und die „Slawijche Braut: fahrt” zur Aufführung. Viel bewundert wurde in den lebten Sabhren bas Raijerlich rujjijd)e Ballett, das mit der genialen BPawlowna an ber Spike im Neuen Kal. Opernhaus in ähn: lichen Tangpoémen galtierte. Die einjtige internationale Ballettuni- form der Tänzerinnen, das weiße Ballon: Bees] Erinnerungen an bedeutende Tangtinjtlerinnen. [2524222231 85 tódd)en, ijt jebt völlig verbannt; es ijt längeren, weich fliegenden Gewändern aus fajt durchlichtigen Stoffen und von harmonijd) abgejtimmten Färbungen ge- widen, falls nicht durch bas befon- dere Lofal-, Ort: und Zeitfolorit Ge: wänder von nationaler Cigenart oder bejtimmtem gejchichtlichen Stil geboten find. Das bezeichnet einen gewaltigen Fortſchritt auf bem Gebiet bes Balletts. Es wird durch bieje Neuerungen zweifel- [os zu einer fünjtlerijdjen Stufe erhoben, wenn aud) dieprofejjionellen „Ballettonfel“ grollen mögen, daß fie nun bei ber Aufführung von Tanzpodmen auf unjerer Dpernbühne nicht mehr jo wie vor Jahrzehnten im Unblid der Tänzerinnen: beine jchwelgen fönnen. Tanzgrößen von internationaler Be: rühmtheit, wie bie Saharet, bie Otero, haben in biejer Zeit wahre Triumphzüge durch Deutjchlands Hauptitädte gefeiert. - Seit etwa jedjs Jahren Bat nun auf dem Gebiet jener Xangfun|t, die bisher in dem Ballett der großen Oper ihren klaſſiſchen Ausdrud fand, eine Cegejjion fid) zu bilden begon- nen. Es find immer mehr Tänzerinnen öffentlich aufgetreten, bie mit ber alten klaſſiſchen Tradition bes Runittanzes gang: lid) bradjgn. Die durch [pjtematijd) fortgejebten Zwang, durch eine peinliche Drejjur der Glieder mühjam erzielte Runftfertigfeit, bie jo lange der Stolz der Ballerinen war, wird von ihnen unbedingt verworfen und dem Spott und der Veradh- tung preisgegeben. Nichts anderes folle ber Runfttanz fein als der unmittelbare ftumm beredte Aus: brud von Stimmun: gen und Empfindun BB gay Die ruffiihe Ballettänzerin Pawlow einer Photographie von Zander gen, burd) bie immer wechjelnden, nirgends Bwang und Drill verratenden Bewegun: gen und Gtellungen der Glieder, bes Kopfes und des ganzen möglichjt unein- gezwängten Körpers, wie das individuelle Gefühl der Tänzerin fie ihr eingibt. Die erjte, Epoche madjenbe Verfiinde- tin der neuen Lehre war die Brin Iſa— Dora Duncan. Ein Hauptmittel, durch Das jie auf bie Menge wirkte, war das Unbefleidetlafjen der Füße und ber Beine bis zur Hüfte hinauf. Die durchlichtig: dünne VBerhüllung durch ein leichtes, vom Gürtel herabfliegendes Gewand, das bei jeder [türfer frei]enben Bewegung auf: wärts flattert, fann man füglich nicht eigentlich Verhüllung nennen. Unleug: bar entwidelte die Dame ungewöhnliche Grazie in den Bewegungen, eine große Ausdrudsfähigkeit und einen edeln künſt— lerijd)en Rhythmus in allen Bewegungen. Aber es ijt ſchlechthin unmóglid), ohne Zuhilfenehmen der Sprache oder des Ge: langes andre als bie großen gegenjäßlichen 8 na. Labiſch in Berlin. 86 Prof. Ludwig Pietſch: Empfindungen Freude und Schmerz, Luſt und Schwermut, Jubel und Verzweiflung erfennbar und mirfjam auszudrüden. Daher ijt es eine arge Gelbittäufchung oder ber Verſuch einer Täufchung ber Zufchauer, wenn bie Dame in ihren Programmen verfündet, fie werde bie verjchiedenjten Lieder und Inſtrumental— jake großer Mufifer und berühmte Bilder großer Maler — tanzen! Troß des Mechjels ber Kojtüme vermag fie eben nichts anderes als eine jener großen Grundftimmungen verjchieden abgejtujt in ihren Bewegungen zum Ausdrud zu bringen. Dene Verheigungen find und bleiben nichts anderes als „Borjpiegelung faljder Tatjachen“. Shr Beijpiel aber hat ein Heer von Sezejlionstänzerinnen zum Leben erwedt (Olga Desmond ujw.), die dem Vorbild, wenn aud) in anderen Gewandungen — mande aud) wohl mit bejchuhten süßen und trifotbefleideten Beinen — in der Art ihrer Tänze zumetjt mit Der £anner: Schubert: Walzer ber Schweitern Wielenthal. 9tad) einer Photographie von 2. Bab in Berlin. e 8 e e * * *. e E e 9 H e . 9 Li Li 9 a e * 9 B o a E & * e ? e 9 e * * = * e e . * * . e LJ] a ° e . * * *. e 9 a glänzendem Grfolge nadjtreben. Cine Diejer Künjtlerinnen, die vielgenannte „Schlaftänzerin” Madeleine aus Mün- chen, brachte als bejonbere Würze ihrer Vorführungen die poetijdje Legende in Kurs, dak fie budjtáüblid) im Traum: aujtanbe und durch bie Muſik hypnotifiert ihre graziöjen Tanzbewegungen gänzlich unbewußt ausführe. — Maud Allan, eine andere Künſtlerin diejer Richtung, ähnelt ber Duncan und verfchmäht wie bieje Fuß- und Beinbefleidung. Im Gegenjat zu ihr gibt bas wunderjchöne Frl. Rita Cadjetto aus München, bie Schweiter eines febr begabten Zeichners und Ma: lers, Vorſtellungen meijt in ber treu Io: pierten Toilette altenglijcher vornehmer Trrauenbildniffe und in verfdiedenen Na: tionaltrachten. Als neuer Stern der mo: bernen &angfunjt ijt an biejer Stelle viel: leicht nod) bas achtzehnjährige Fräulein Gudrun Hildebrand zu nennen. (fine der merfwürdigjten, wunderjamjten Geftalten unter diejen Künjtlerinnen aber DRE Erinnerungen an bedeutende Tangfiinjtlerinnen. NIIIZI331 87 eg Budrun — —— in ber Dichtung „Der Tanz ber vier Jahreszeiten“. G3 Syulujif von A. Sufielb. Mad Photograpbien von §. (V. Kiejel in Berlin. it bie bald in ber meilterlic) Durch: geführten Maske einer indijchen Göttin: nenjtatue, bald in der einer inbijdjen (Gaufferin, einer Bajadere und Scylan: gentänzerin auftretende — 9Imerifanerin Ruth St. Denis. Sn ihren indijden Tempeltdngen läßt fie jid) höchſt wirfjam durch ein künſtleriſch zujammengeitelltes inbijdjes Tempelinterieur mit indilchen Priejtern und Dienern, phantajtijchen, in ben Farben wechjelnden eleftrijd)en Beleudhtungen, Weihrauchdüften und faſzi— nierende, orientalijch: voll fejjellojem, feurigem, wildem Über: mut, und wieder |oldje von edler Do: hettvoller und von klaſſiſch lteblicer Schönheit. Aber bie tórid)te Mode mute aud) dies wirklich unbejchreibbar holde Drei: blatt mitmachen: angeblid) Kompojitio: nen von Haydn, Beethoven, Chopin, Schubert und Brahms — zu tanzen; ein MWiderlinn, der auf unbefangene, ver: jténdige Menjchen nur fomijd) wirken unb die Freude an den Darbietungen ber drei liebenswürdigen fremdartige Muſik unterſtützen. Ihre Vorſtellungen waren in hohem Grade feſ— ſelnd und eindrucks— voll. Die neueſte eigen— artige Erſcheinung auf dem Gebiete des Sezeſſionstanzes ſind die jungen, knaben— haft ſchlanken drei Schweſtern Wiejen: thal aus Wien, die, meiſt in dünne, weich fließende Idealge— winder gefleidet, bald einzeln, bald zu zweien, bald zur Braziengruppe ver: einigt auftreten. (ie geben bewegte leben: Dige Bilder von be: zaubernder Anmut, oder ſolche bacchan- tijher Trunkenheit Gudrun Hildebrandt. Mad einer Photographie von (rnit Schneider in Berlin. wabrt. Mädchen nur beein: trächtigen und min: Dern fann. Dieje Schweitern JBiejentbal jind die legten Tänzerinnen, deren Perjonen und deren Kunitleijtun: gen ich mit Snterelje gejehen habe. Mit ihnen jchließt das lange Regijter derer, von denen id) hier aus eigener Beobadh- tung erzählen fonnte. Einen ähnlich tie: fen und dauernden Gindruf wie von Adele Grankows fün|tleri]d)er und menjchlicher Perſön— lichfeit habe ich frei: lich von feiner zwei: ten Kunſttänzerin empfangen und be: — — — — — — — —— d) will von dem Mtolaratal er: zählen: von feinen Einfamleiten und Wildniſſen, von feinen Rei: zen und Schönheiten. Denn id) fenne in der Nähe Roms nidjts [o Wildes und fo Herrliches als das Molaratal. Dabei ijt es dem ‘Fremden falt volljtán: big unbefannt. Und das ijt gut. Sjoffent: lich bleibt es fo. Hoffentlich gibt diefe flüch- tige Skizze feinem Romreijenden Beran: laffung, bas jeltjame Tal aufzufuchen. Ich würde [onjt bedauern müſſen, biejes ge: Ichrieben zu haben. Sum Glüd ijt es nicht leicht Hinzugelan- gen, fo nahe bas Ctüd Wildnis bet bem Paradiefe Frascatis liegt. Für Wagen ijt der Weg unmóglid), für eine Fubpartie der Ausflug, ber Unjicherheit ber Gegend wegen, bedenklih. Nur zu Pferde ijt er ratjam. Es muß jedod ein gutes, [chnelles Tier fein, weldjes zur Not an einer ver: büdjtigen Gejtalt in voller Karriere vorbei: laufen fann. Mtan wird meinen Wunfd: bas Molara- tal möge zu feiner rómi|d)en Sehenswür: Digfett werden, jebr felbitjüchtig finden. Und id) muß mir diejen Vorwurf gefallen laffen. Gut, fo bin ich denn Egoift! Ich erfenne mid) jelbjt, ſchäme mid) meines Sajters, welches von allen Lajtern bas ab: idyeulidjite ijt, und — beharre auf meinem Wunſch: bitte, laſſen Sie fic) von bem Mo⸗ [aratal etwas vorplaudern ; aber gehen Sie nicht hin, um felber zu jchauen und zu ſtau⸗ nen; denn ſchön, wunderfam ſchön, ijt meine geliebte Wildnis im Albanergebirge. Einigermaßen entjchuldigen würde mich gewiß jeder, der weiß, wie ich dort lebe; denn id) binnichtnur indem wonnigen Fras: cati, [onbern aud) in dem wilden Molara: tal zu Haufe. Entweder id) rette ſchon friih: morgens hinaus, treibe mich den ganzen Tag umber und fehreerjt |pätabends zurüd; oder ich übernachte in der Tenuta, wo ich mein eigenes Zimmer, vielmehr meinen eigenen Bettraum bejibe. Dieje Tenuta ijt ein großes, graues Ge: bäude, mitten auf ber hier vollftändig baum: und ftrauchlojen Steppe. Es ijt uralt unb mehr Ruine als men|djlidje Wohnjtätte. Sm Molaratale. Von Ridard Bok. Das Haus — wie bas ganze Mtolaratal überhaupt — befand [id) in bem Belik eines römijchen Granben, ber unvermählt und ohne Erben ftarb und der das ganze weite Bebiet mit allen den darauf weiden: den zahlreichen Herden, dem Blinden: hofpital: „Margherita bi Savoia“ Hinter: ließ, bejjen Ehrenpräſident der Herzog Leopold Torlonia ijt. Unfer fürftlicher Wirt und Freund, auf be|[en berühmten Fras: cataner Landſitz wir zogen, als die Villa Yalconieri ein Trappiftenklojter gewor: den war. Durch diefen Umftand fühle id) mid) im Molaratale je5t um jo mehr zu Haufe. Um indas Molaratalzugelangen, nehme id) nicht die übliche Straße, die unterhalb des Monte Cavo in das einfame Hodtal führt, fondern id) überquere bie tuscula- nijden Höhenzüge auf Wegen, die von allen Retfenden wiederum nur mir befannt find. Aus biejem Brunde mögen fie hier gejchil- dert fein. Zunächſt über bie Wiejen, durch bie Waldungen ber Villa £ancelotti unb bann — gerade unterhalb bes Kloſters von Ca: maldoli — bie Touriſtenſtraße, bte nad) Lusculum führt, burd)freugenb. Jetzt den ftetlen Weg zum Klofter Dinan, das wie ein ftolzer Herrenfik mit Palaft, Kirche, den einzelnen Zellen der Mönche, ben Häufern der Dienjtleute und den $fonomie- gebäuden, auf der Höhe unter dem tus- culanifchenFeljengipfelliegt. Seine weißen Mauern leuchten weit hinaus in bas Land. Große Erinnerungen ftetgen bei bem 9In- blid des Heiligtums auf... Wie oft fehe id) vor dem Tore Gamal: bolis ein Bild, für bas id) mir nidjt Die Feder des Schriftjtellers, jonbern ben Pinjel des Malers wiinjde, um es feft- zuhalten. Ich müßte aber ein großer Künft- ler fein, Denn einen foldjen erfordert ber Gegenftand, den id) barjtellen will. Die Klofterpforte : hod), büjter, gehetmnisvoll, mit einer Bildfäule des Heiligen darüber, [o weiß wie bie Gewandung feiner bemii- tigen Diener. Geitlid) von bem Tore eine große, niedrige Jtijdje, einem Gewölbe gleich, dejjen eine Mauer fortgenommen Ridard Bok: Im Molaratal. ward. Das Innere weiß getiindt und einige ausgetretene Stufen aus grauem Peperin zu einem aufgemauerten Altare hinauf: führend. Die Wölbung gedrängt voller Menjchen! Ein Camaldolenfer beim Altare kniend, ein großes ſchwarzes Kreuz haltend, mit lauter Stimme inbrünjtig betend; dicht um ihn geichart, gleichfalls fniend, gleich: falls laut betend, eine Schar Mühjeliger und Beladener. Bettler find’s: Krüppel, Kranke, Hungernde. Niemals und nirgends jab id) jolche armfelige, ſolche wahrhaft jammervolle Gejtalten. Gie find in €um: pen gefleibet, durch welche bie nadten, fablen Gliedmagen jichtbar werden. Aber welder Ausdrud in ben Ge[idjtern, weldje Inbrunſt bes Gebetes, welcher Fanatismus der Andacht, weld) heifer Kinderglauben! Viele famen von weit her: von Monte Gompatri, von Rocca Priora und nod) weiter, um aus den Händen der guten Mönche einen Teller Mineftra zu empfan- gen. Bevor fie gejpeijt werden, betet ein Bruder mit ihnen. Sd) bránge mein Pferd gegen bas Tor, ziehe vom Sattel aus ben Glodenftrang, muß eine Weile warten, bis mir geöffnet wird. (fs erjdjeint Fra Francesco, der Bruder Pförtner und mein guter Freund. Ohne weiteres werde id) mit meinem Pferde eingelajjen, und das Tor geht hinter mir zu, jo lautlos, wie es für mid) aufging. Hinter den Mtauern herrſcht Kirchhofsruhe. Hohes Gras und blübenbes Unkraut wu- chern auf dem Hof, wuchern auf den Stufen der breiten, prachtvollen Treppe, die zur Kirche emporführt. Droben befindet fid) eine große Terrajje, aud) voller Gras, Un: fraut und wilden Blumen; und über den grünen Grund [chreiten lautlos weiße (Se: jtalten der Kirchentür zu, bie in ein tiefes Dunkel zu führen fcheint, darin die laut: lojen, bleichen Bejtalten verjdwinden. Wie oft ja) ich bas! Und ich fühlte mich jedes: mal bet dem dod) zur Gewohnheit gewor: denen Anblil wie von Geifterhaud) um: wittert. Wenn id) [agen fónnte, was id) hinter diefen Mauern hörte, ah, nicht ohne tiefjte Bewegung erlebte.. Sd) brauche mein Pferd nicht zu lenken, denn es kennt ſeinen Weg; links die gra— ſige Rampe hinauf, an der Kirche vorüber, aus der dumpfes Pſalmieren ſchallt, über 13:3232323237 3737334 89 einen grafigen Blak, auf bem ein Brünn: lein raujdt. Weiter über grafigen Grund durch eine totenjtille, öde Gaffe. Rechts fleine, weiße Häuſer; links Heine, weiße Häuſer; durch weiße Mauern ver: bunden und in jeder Mauer eine [d)male, Ichwarze Tür. Gs find die Hütten der Eremiten. Vorüber an der inner[ten Dod)ummauer: ten Rlaujur, wo wiederum in kleinen, wei: Ben Häufern die Novizen leben, die nicht reden dürfen, nur beten; bie nicht benfen dürfen, nur gehorchen. Durd) Jahre blei- ben fie in den Kleinen, weißen Häujern Ie: bendig begraben, bis thr Noviziat vorüber, bis fie — eines anderen lebendigen Todes jterben dürfen. Die jdjmale, jchwarze Pforte in dem hohen, weißen Dlauerring öffnet fich für fie nur, wenn es Zeit tjt, in die Kirche zu gehen. Dann treten die blei- den Geftalten hervor, bann wallen jte der Kirche zu, das Haupt von der Kapuze um: hült, die Augen zu Boden gefdlagen. Wenn fie reden dürften, bie ewig Schwei- genden! Sd) butdjtrabe langſam die ftille, weiße Gaffe und gelange zu einem Ort, der ein Marden zu fein Scheint. (s ijt ein Garten. Blüte drängt an Blüte. Rofen und Ros: marin, Levfojen und Lavendel, Lilien unb Nelfen. Das glüht und glänzt. Das duf- tet! Und mitten in dem bunten Gefilde, von ranfenben Rofen, von Beißblatt und blauen Winden überwuchert, ein Häuslein: bie Belle des Bmfers bes filojters. Er fommt mir entgegen mit einem Gefidt, fo leuchtend vor Freude, wie fein langes, fal: tiges, |djneeweiBes Mönchsgewand. Schon von weiten ruft er mir in trauter, deut: cher Dkutterjprache ein Willlommen zu. Das ift Padre Maria Anfelmo. Padre Maria Unfelmo tjt ein Deutjcher aus dem - Ichönen Cdjlejien. Und er ijt mein guter Freund, den ich herzlich gern habe, um den ich mid) [dywer forge, und von bem ich ein anderes Mal erzählen will; denn heute habe ich feine Zeit, ba ich heute nod) ins 3Uto- laratal muß. Was habe ich nicht alles zu jeben auf meinem Ritt rings um bas Rlojter von (Gamalbolt, dort oben auf dem tuscu- lanijden Berge! Was hätte ich nicht alles zu erzählen! Dort Steht ber alte Kirfchbaum , unter bel]en Wurzeln fid) ein antifes Gewölbe a GE LE SS SAF. befinden foll, angefüllt mit Marmorbildern: alles, alles antife Gtatuen, bie hier einjt- mals entbedt und bie hier auf Befehl bes Priors fogleid) wieder von neuem begraben wurden — eingefdarrt die ganze bleiche Herrlichkeit! So oft ich an diefem Kirchhof vorbeireite, öffnet fid) vor meinen geiltigen Augen der Grund der Erde, und der großen Gruft entjteigt leuchtend die unfterbliche Schönheit bes Altertums. Und dort der Platz, auf bem jener hohe Kirchenfürſt — fein Jtame bleibe hier un: genannt — fic) ein Löltliches Haus baute, in dem er nicht gerade dem Himmel diente. (eine eigene Kirche hatte er zer- ftért unb dem Erdboden gleid)gemadjt. Aber nod) find die Fundamente zu erfennen, und nod) befteht ein fleiner Gartenjaal, deffen Wände jchöne Ornamente verzieren. Sie find von hellenischer Anmut. Weiter laffe id) mein Roßtraben: burd) Gras, Unfraut und Blüten, vorüber an an- tifen Ruinen, vorüber an einem einjamen, fleinen, weißen Haufe, über deffen Ein- gang mit großen, [djwargen Lettern ge- Ichrieben [tebt: „Resorgamus“ — „Wir werden aufer|teBen. ^ Bald gebtes über helle Wiefen, bald durch tiefountle Waldungen und wiederum an antifen Ruinen vorüber, bis, wieder in einem hohen Mtauerring, eine Pforte für mid) aufgeht. Ich reite bindurd. Rnarrend [d)IteBt fic) Hinter mir ber Torhügel; Inirfchend fällt das Schloß zu, wird der ſchwere Eijenriegel vorgeld)o: ben. Klojtermauern hinter mir, ringsum tiefe Cinjamfeit , [djmeres Schweigen, er: habene Ode; unter mir, tief unter mir bas Molaratal. 8 8 8 Der Platz, von dem aus ich auf das Mo⸗ laratal herabblickte, wird nur von tuscula⸗ niſchen Hirten und den Mönchen von Ga- maldoli gefannt. Er ijt in der Campagna Roms eine der ſchönſten Stätten. Und er ijt eine der munberjam[ten Stätten Italiens überhaupt. Die Dauer bes Klofters von Camaldoli auf der Scheide des tusculanijdjen Berg: übergangsbildet bie Brenze zweier Welten, wie fie vecjchiedener feine Phantafie fid) vorftellen fann. DJenfeits der hohen, tei: Ben Kloſterwand, die das Refugium welt: müder Geelen umjchließt, hejperifche Ge- filde, unabſehbar weites Land mitder Stadt, 9tidjatb Boh: BSSSesSeseesess$csssss weldje bie ewige heißt; eine gewaltige Al- penfette; bas Dleeresgejtade und bie gren: zenlofe Salzflut — diesfeits bie Einfam: feit eines Hochtals, das Schweigen der Ode, die erhabene Stille der Wildnis. Wenn ich im Sattel mid) umwende und zurüdblide, fo ijt es, als befände ich mid) auf dem Bergesgipfel, auf bem der Ber- fuder dem Gottesjohn bie Welt und alle ihre hehre Herrlichkeit zeigte. — Cinen einzigen Schritt Ienfe id) abwärts; und id) jebe Hinter mir eine bleiche Wand mit einem ſchwarzen Tor, darüber ein blut- rotes, hohes Holzkreuz in bas Azurblau des Himmels jteigt. Sonſt nichts. Bor mir eine braune, trümmervolle, traurige Wüſtenei. Sonft nichts. Eine Schlucht führt von der Höhe hin: unter ins Molaratal. Rechts der tuscula- nijdje Felſengipfel mit feinem hochragen- den Kreuz, linfs bie unwirtlichen Hänge des Berges von San Silveftro. Die Enge, burdj bie es [teil bergab geht, füllt blühender Schlehdorn, Jo dak mein Pferd in einem tiefen Strome weißer Blumen zu treiben [d)eint, ber den braunen Berg wie eine fchäumende märchenhafte Rasfade berabflutet. Go gelange ich auf der ſchnee⸗ igen Blütenbahn niederwärts und ins Mo⸗ laratal. . Welche Galerie von Landichaften hid: [ten Stiles; welche Reihe von Stimmungen! Nur ein großer Maler — nur ein großer Dichter vermag fie zu [d)ilbern. Wenn btejem ein Gott gab zufagen, was er [d)aut, jo fann ich es nur ftammeln. Ungezählte Dale ritt td) den Weg ins Molaratal, und es gejchah nicht ein einziges Mal, daß ich für ben Zauber des Ortes unempfdnglid geblieben wäre, daß er mid) nicht ganz in Banden gefdlagen hatte. Ich ritt diefen Weg bet Winterfturm und im Sonnen: brande bes Hochjommers, in der Pracht des Frühlings, umjubelt von Lerchenchören und in fternenlojen Gewitternddten, um: grollt vom Donner, umloht vom Blib. Ich nenne einzelne Bilder. Wohlver- ftanden — id) nenne fie nur!... Die ur⸗ alte Römerftraße mit dem uralten, blau: fdywargen£avapftajterburd) einen Hohlweg führend, von be|jen hohem Rande es zu beiden Getten wie gelbe NRiefenteppiche niederhängt, im Sonnenfchein gleich Gold glänzend. Es ift blühender Ginjter. Durch die leuchtende Schlucht wird von einem be: rittenen Gampagnuolen eine Herde filber: grauer Ochſen getrieben. Weite Streden find unabfehbar mit bli: hendem Binfter bebedt, find unabjehbar zu wunderjamen Goldgefilden verwandelt. Braune Falken Treilen und darüber Ipannt fic) ber azurblaue Himmel des Südens. Auger den lautlos ihre Kreije ziehenden ‘Falken ijt nichts Lebendes zu jeben. Ein Bergteffel, das Innere eines toten BVulfans. Ale Wände vergoldet von den Ginfterblüten. Die Tiefe gefüllt mit wei- Ben Mtargariten. In hohen Lüften Lerchen⸗ jubel. (Fine braune Felſenkuppe, fteil abfallend, taufjendfad) durdfurdt unb zerrillen. Aus den Spalten quillt jilbergrauer, wilder OI: ftraud). Eine Herde ſchwarzer Schafe und rojtbrauner, zottiger Ziegen flimmt bie MWände empor, bas |pärliche Blattwerf ab: weidend. Auf bem Gipfel bie ſchlanke Ge- jtalt eines jungen Hirten als ſchwarze Gil: houette gegen den leuchtenden Himmel fid abhebend. Gr fingt ein Lied: eintönig, enb- los, von einer Schwermut wie eine Toten: flage. Narzilfenwiefen ! Co weit bas Auge fieht Narziffenwiefen! Eine parabiefijde Au weißer Blüten, die mit ihrem Duft bie €üfte füllen. Gleich einem märchenhaften Schneegefilde zieht es fid) Hin bis zu der Grenze hoher Felfen: berge, bieein vetldenblauer Dunjt umbraut. Hügliges Gelände, der Boden bedeckt mit blühendem Schlehdorn, unter deſſen ſchim⸗ mernden Zweigen wahre Mtengen von Veil: chen Stehen. Nichts zu [eben als weiße Blütenwogen über einem purpurfarbenen Grunde Hinwogend. Es ijt wie ein vom Sturm gepeitidtes, mitten im wildeften Aufruhr erftarrtes und zu Blüten verwan⸗ beltes Meer, darin Rok und Reiter ver: jinfen... Go könnte id) fortfahren die Bilder zu nennen. — Nur fie gu nennen. Mitten auf der weißen Steppe, die im Frühling ein einziges Blumengefilde ijt, liegt die Tenuta bella Molara, wo ich heimifch bin. Das graue, ruinenhafte Haus bewohnen der , Mtinijtro” Gor Pietro, ber Buardiano (Giujeppe unb ein halbes Dugend Hirten. Gs find pradjtvolle Burfchen, Geftalten, Im Molaratal. BSSSSSSTSSTE3I3ZI 91 wie [ie unter Buffalo Billvon Weftamerifa gu uns herüberfamen, die wahren, mo: dernen Kentauren. Den Buardiano Giu- jeppe auf ungejatteltem Pferde über bie Steppe |prengen zu fehen, ijt ein Anblick, den man nicht wieder vergibt. Er ijt ber Itattlichjte und zugleich [d)neibigite Reiter weit und breit und auf meinen Exfurfionen und Ausflügen, bie ich zu Pferde bis ins Bolstergebirge ausdehne, mein fteter 3Be: gleiter. Auch von biejem Manne Tönnte id) Bejchichten erzählen. — Sit er bod) der Held meiner Novelle: „Der Adonis vom Molaratal...” Die zahlreichen Herden, bie zu ber Te: nuta gehören, halten fid) während bes größten Teils des Jahres in einer Gegend bes Hodtals auf, welche der Frühling in ein Dteer von blühenden Wogen verwan: belt. Durchichreitet man fie, [o gelangt man zu einem fleinen See, inmitten der blumigen Fluren gelegen. Es ijt ein Jumpfiges, büjteres Gewäller, Darüber eine unjdglide Schwermut lagert. Nur Hirten fommen zu feinem melandholijchen Geftade, um bas die Pferde und Rinder der Tenuta wie in der Wildnis weiden. Der Name des dunklen Gemüjjers hat einen Weltruf; denn es ijt ber Regillusfee, an deffen Ufern ein|tmals ber flbermut Roms ge: beugt und gebrochen ward. Man muß ben Regillusjee im April jeben, wenn bie Fluren um ihn mit Veilden und wilden Mtargariten bebedt find. Die Beilchenblüte ijt die erfte. Wenn die weißen Margariten blühen, erjcheint bie regungs: Tofe Flut jo ſchwarz und hoffnungslos büjter, als wäre hier der Styx und der Eingang ins Totenreid). In einiger Entfernung von der Tenuta befinden fic) einige feltjame Bauten. Man fann fie für Ruinen halten. Nur die vier Mände ftehen noch. Geht man bin, und will man burd) bie türloje Öffnung ein: treten, jo bleibt man er|d)roden [teben; - man befindet fid) plößlicd) an bem Rande einer Tiefe, bie wie ein Abgrund [id) öffnet. Bereits vor vielen Jahrtaufenden be- jtanben bieje Gemduer; denn es find an: tife Schneegruben. Das Molaratal liegt námlid) jo hoch, bap in falten Wintern der Schnee nicht nurreichlich Fällt, fondern aud) liegen bleibt. Zu diefer Zeit fommen von 99 [$239 95: 93:944 Frida Schanz: Lea weint um Rabel. §8aesese3seseses dem Sabinergebirge nod) jebt Dungrige Wolfe heriiber, fo dak nod) jet bie Wolfs: jagd im Mtolaratal ein beliebter Sport ijt. Im Altertum wurden bie fallenden Schnee: mengen [orglid) gefammelt und Damit jene tiefen, großen Gruben gefüllt, in denen fich Der Schnee burd) den ganzen Sommer erhält. In Tierhäuten verpadt, fdafften ihn faijerlidje Sklaven während des Nachts nad) Rom und in den Cäfarenpalaft. Nero tranf feinen Wein, gefühlt im Schnee des Molaratals, das im Altertum Algidum hieß und ein Kapitel römijcher Geſchichte bedeutet. ) Denn im WAlgidumtale [djlugen bie Rö- mer zahllofe Schlachten, fo Dak bas ganze weite Tal ein einziges römijches Schladt- feld bildete. Den blutgeträntten Schollen ent[prieBen jebt goldiger Ginjter, weiße-Narzillen. OST ee use une ge ge ne ge —— Y — Lea weint um Rahel. Jakob wollte nicht weiterziehn. Seine Luſt verdarb An den Frauen und Kindern und Herden, als Rahel ſtarb. Ein Grauen vor Tagen und Nächten ſtand ſtarr um ihn, Als Rahel ſtarb auf dem Zuge, geneſend des Venjamin. Seine Kinder und Mägde und Hirten ſtanden voll Leid, Am tiefſten gebeugt ſtand Lea, voll Trauerneid, Q In Trauer um Jakobs Trauer, bie über ber Toten hing, j Wie über gemäheten Lilien ein nadytidjmarger Schmetterling. N Grau von Aſche wie Haar der Greife war Leas Haar. J Meh, dah fie jah, was im Tode nod) Rahel war! / 4 ) Sieben Jahre, indes ihre Ceele vor Durft faft ftarb, ) a fie jehn gemußt, wie Jakob um Rahel warb, j , ieben Jahre, — wie furze Tage [djienen ibm die, ‘ Die Jahre bes Dienens um Rabel, jo liebte er fie! ) Und nochmal fieben, im bittren Zurjeiteftehn, , / Hat Lea Yatob um Rabel dienen geſehn! \ . Geit ber |djamvollen Hochzeit, wo fie ihn trügen gemiift, } Wußte Lea, wie Chater A Rahel fügt! 7 4 Kinder bradjte ibm Lea, treu, wie in Liebesfron, \ Geduldig, eines ums andere, Sohn um Gobn. / ] Gnädig, wie der Herr feine Herden, hat er fie angefdjaut. — i Rahel, ber Kinderlofen, Ichentte er Blide wie einer Braut. Q Aber jein Jubel ftieg auf zu Gehova, [tart und Mar, ( / Als Rahel, bie Schöne, erfand, daß fie Mutter war. ^ Mit geftredten Armen fnienb zu Gahves Thron | Q Sob er Jofeph, bas Kind, jo liebte er Rahels Sohn. 0 5 Nichts gegen ben einen, den lebten, war ihm der anderen Zahl. — Und fein on a mit Rabel zum andern Mal. Und fein Herz frohlodte und jauchzte, bis auf den Tag, 0 Da Rahel, bie Schlanke, auf offener Bahre lag. \ Seine Rechte umſchloß ihren Schleierfaum unverwandt. zum eriten Mal zitterte Jakobs mächtige Hand. ie glübenben Tränen brannten Lea ins Herz bincin. | Was wiirde ibnt nad) ihrem Tode nod) Rabel fein! / Alazienduft aus Oajen, in Wiiften verirrt, 1 Laubenflug, ber in fengenden Lüften jchwirrt! dina Waffergeriejel unter verfchloffenem Born, , itterer Wermut in Ol und in Wein und Korn. Y Geiner Träume ‘Freundin, bráunlid) unb ſchlank und Ieidjt, Ceiner Tage Sehnſucht, bie bis in bie Sonne reicht! j Die Haare voll Ajche, bie Geele zerrifien von Not, Meidete Lea die Rahel um ihren Tod! Frida Schanz. | on > >Uu >u >u >u >u >u Ö SE Oe ee Oe ee N. coUe ect _— =. « wt oet eo @ @ wt «mt D tile Wh ——,Ao— ed — —-— —.À nt — -—— — afit I din ZI u u V | ee — et = m m MU 5e. U U ae cut xu «0 — tiu nen — ati un FIIUIs Unna von Beclik fort war, Id wurde es fehr einjam in Rot- &| baibe. Hermann trat zu feinem ’ Blüde gerade jebt in eine größere Verantwortung und Tätigkeit ein. Der Verwalter, ber vor furgem wieder einen Ichweren Gichtanfall befommen hatte, nahm Urlaub und ftellte für den Sommer feinen gdngliden Riidtritt in Ausſicht. Co wirtjchaftete SBeipmann denn zum erften Male jelbjtändig und allein. Aber nicht für lange. Denn zu Anfang Januar fam Frau von $Beelib aurüd aus ber Schweiz. Ihr Mann war dort in einer Irrenanftalt untergebracht worden und [dien fid) ba ganz leiblid) einzufügen. Anna wollte er nicht fehen. Er behauptete, jie verfolge ihn mit unerträglicher Eifer: judjt und beraube ihn deshalb feiner Frei— heit. Einmal hatte er denn aud), freilich mit gänzlich ungeeigneten Mitteln, ver: judjt, [ie zu vergiften. „Und wir haben uns doch einmal jo lieb gehabt,“ jagte Unna erjchüttert. „Aber es liegt wohl aud) an mir. Sd) fonnte ihm nichts mehr fein — ba fühlte id) nichts mehr für ibn." (Fine junge ſympathiſche Schwedin, Gig: rid Lindholm, die fie in einem Schwei— zer Sanatorium hatte fennen lernen, war ihr in großer Liebe und Anhänglichkeit hierhergefolgt. Cie war mit einem Get- gen|pieler verlobt, ber nod) für ein paar Sabre eine Studienzeit in Paris durd): maden wollte. (fs wurde ein ganz innerliches, ein: james und warmes Leben da im Schloffe. Hermann gehörte mit zur Familie, und es fam ihm vor, als hätte er zum eriten Male in feinem Leben ein Heim gefunden. In bem ungemütlichen großen Prachtbau wurde es freundlich und wohnlid). Die gehaltene Trauer, bie fie “Drei verband und die fie von der übrigen Welt trennte, gab etwas Bejonderes in ihre Alltags: bejdjditigungen hinein. Anna arbeitete mit Hermann 3ujammen. Gie hatte Ver: ftändnis und Talent für bie Verwaltung bes Gutes. Er wunderte jid) oft über ihre Kenntniffe in ber Landwirtidaft, denn v M . KR. LXI. A23... 25 — esse — —0 man ſah nie, daß ſie erwarb. Es war immer nur wie ein Hinauswirken geſam⸗ melter Kräfte. Und es war das Geltfame an Anna, dak, mochte jie nod) fo tätig fein, es immer ausjah, als rubte fie. Alles ging gwar von ihr aus, [ie jelber aber wußte faum davon, ſchien immer nur Zus Ichauerin zu fein. Es war etwas Starfes, Anfprudsvolles in ihrem jtillen Wefen, Das andere zu den höchſten Anjtrengungen aufforderte. Und man tat gern alles für fie, nicht weil fie [o überlegen ſchien, fon: dern weil fie einem Aufgaben ftellte, einen Derausrip, anregte und interejjierte. Sie war bie leife und unmerflid) bewegende Kraft, bie anderen waren die Snitrumente, die unter ihrer Hand zu tönen begannen. So wenigitens empfand es Weißmann. Er wußte jebt nichts mehr von Müdigkeit, weder im Schaffen nod) im Genießen. Und fein Genießen wurde taujendfältig. Er genoß es, wenn fie ihm entgegenfam. Er genoB ihre Gejprádje mit ber Freun— bin, denen er mei|t |chweigend zuhörte. Und fpäter, als Annas Nerven wicder aufnahmefähiger. wurden, genoß er fein eigenes abendlidjes Borlefen. Er. hatte nie gewußt, daß feine Stimme fo gut Hingen fonnte und daß er fo ausbruds- voll vortrug. Gang jelten nur fiel er in lein früheres gleichgültiges Wejen zurüd. „Hub, nicht jo weile,” jagte Sigrid Lind: holm, wenn er wie ein alter Dann die Stirn rungelte. Gie litten es nidt, dak er blafiert und jpóttijd) redete. „Warum nicht natürlich?” fragte Anna bann. — Mitte Februar aber fam cin Wende: punkt. Hermann konnte dtefes intime Zu: jammenleben nicht mehr ertragen. Cr lichte Anna und begehrte fie. Wn einem Morgen, da fie ihn in ber Amtsjtube auffudte, um NRedynungsbücher mit thin durchzufehen, fagte er es ihr. „Ic will abreijen," jeßte er hinzu, am ganzen Körper zitternd, „irgendwo wicder neu anfangen. Hier fann id) nicht bleiben, die Dual macht mid) verrüdt." — Gie jah betroffen zu ibm hinüber. „Herr Gott, warum habe ich daran nicht gedacht, was 04 BSVSSSSSSsssasss Unjelma Heine: babe id) da angerichtet!" Hilflos und ſchuldbewußt fag fie vor ihm. Da legte er den Kopf in ihren Schoß und weinte. Cie [trid) ibm mit der Hand über fein Haar und füpte ihm die Stirn, ganz er: barmend und Still. Und als er fid) erhob, fie männlich und glühend umarmte, da ließ fie ihm voll Güte ihre €tppen. „Nein, Du [foliit Durch mich nicht mehr gequält werden!“ — 3 Es wurde [din zwiſchen ihnen beiden. Bei Anna, bie guerft nur adtlos, fait gleichgültig nachgegeben hatte, wuchs un: vermutet eine ftarfe, heiße Leidenfchaft empor. Die erjte ihres Lebens. Cine feurige Geliebte wurde fie für Hermann, zugleich eine {luge Freundin in jeder Lage, ganz voll Reig unb Giigigfeit. „Wie fonnteft Du nur fo ruhig fein, zuerſt?“ fragte er fie oft. Dann antwortete fie lachend: „Ich weiß nicht mehr, jebt hab’ id) Dich lieb.” Ganz jung wurde fie dabei. Und er, ber fie für unſinnlich ge: halten hatte, beraujdte fid) täglich neu an ihrer feltfam unerjchöpflichen, ihm immer wieder rätjelvollen Leidenjchaft. Sedesmal, wenn er ihr Zimmer betrat, bad): te er fid) aus, wie er jie finden würde. Und jedesmal traf er fie anders. Cine heftige Eiferſucht fonnte ihn oft ergreifen. War fie in ihrer Che ebenjo gewejen, fo heiß und wedjelvol? Gs reizte ihn, von ihrem Manne zu reden, fie über Entſtehen und Dauer ihrer Liebe zu jenem zu fragen. „Deine Ehe ijt eit lange tot,“ antwortete fie dann. „AU die Zeit her Bat fie nur nod) von Mitleid gelebt.” Wenn aber Hermann Pläne jdjmiebete, von Schei- bung und gemeinjamer Zukunft ſprach unb meinte, übers Jahr könnten fie fon Mtann und Frau fein, dann Iá- djelte fie nur. „Laß uns bod) einfach fein! Sd) glaube, ich palje eigentlich überhaupt nicht zur Ehe,“ behauptete fie manchmal. Cie betrachtete ihr Liebesglii wie eine Epifode. Ohne jede Frivolität tat fie das. Sie behauptete, er müßte einmal Ipäter mit einer wirklich jungen Frau ein ganzes Heer von Kindern haben und er: ziehen. „Du haft Talent zum Patriarchen. Meine arme Heine Duſchi hat Dich ja aud) fo lieb gehabt.” (djlieBlid) gewöhnte er fid) daran, mit ihr zu beraten, wie die Heine Grau befchaffen fein müßte, „di fie beide einmal für ihn ſpäter ausjuchen würden“. Gin andermal freilich fonnte wieder fie, die doch fieben Jahre älter war als er, ganz dngjtlid) zu ihm jagen: „Du wirft mir bod) nicht alt werden?” Das war gewöhnlid) in ber Dammer- ftunde. Sigrid Lindholm jaB dann am Klavier und fpielte, Anna lag in ihrem tiefen Seffel, gang müde und verträumt. Mie ein Kind redete fie dann mit einer trägen Heinen Stimme in abgebrochenen Sätzen, liebes, unwicdhtiges Zeug. Tagsüber aber war fie wad. Dann half fie unb beriet und Härte durch bie Helligkeit ihres Gefiihls all feine Mühen. Vielleicht gab gerade der Gedanfe des Auf: bórenfónnens ihrer Liebe biejes Intenfive, diefes angjtvoll Verfchwenderifche, Anna fannte aud) hier fein BVorjorgen, fein Behutſamſein. Und bieje ihre unbefüm: merte Sicherheit war es bejonbers, bie fei- nen Verdacht auffommen ließ bei Nachbarn unb Freunden. Auch lenfte wohl Sigrid Lindholms Anwejenheit auf falſche Spur. Einige glaubten an eine Verlobung der beiden jungen Leute. Die meijten aber betrachteten den Pächter von Rothaide als Elly Kreys geduldigen Freier. Co lebten fie ben Winter durch, einen frohen feligen Sommer fang und in den zweiten Winter hinein. Gegen das Frühjahr liek es jid) nicht vermeiden, mit allerlei Nachbarn in ge- ſellſchaftliche Verbindungen zu treten. Hermann geriet baburd) in Unruhe. Er hatte Angjt, man würde jdjlieBlid) bod) durchichauen, wie es ftdnde zwijchen Anna und ihm. Er begann allerlei Vorfichts- maßregeln. Er fuhr mit Fraulein Lind: bolm und allein ein paarmal nad) ber Kreisitadt, „um jungen Mädchen den Hof gu machen“, wie er fagte. Dabei entbedte er, daß eine neue beglüdenbe Fähigkeit zu lieben in ihm erwacht war. Dede Frau entzüdte ibn, unb er wurde nicht müde, Anna davon zu erzählen und fie teil- nehmen zu fajjen an fetnen „Eroberurigen“. Das Herrlichite bei biejen Kleinen: Erleb⸗ nillen war es dann, zu fühlen, wie ganz anderer, wie viel jüperer Urt das Band war, das fie beide pereinte. Oft reizte es ihn, Anna allerhand fleine Ber: liebtheiten zu beichten, die in Wahr: 252252 22 2) 29 725^ 2. 25^ 25^ 2 2) 2 heit gar nidjt beftanden. Aber fie durch: Ichaute ihn: „Schon am Klange Deiner Stimme fann id) hören, dak Du mid) an: lügft. “u Zum Frühjahr fam Clly Krey nad) Storfin zurüd. Hermann traf fie auf einem Safinofefte. Am anderen Tage iprad) er lange über fie mit Unna. Gie fanden beide, man dürfte die Kleine, die gerade begonnen hatte, fid) unterwegs freier zu entwideln, zu Haufe nicht wieder verfommen lajjen, müßte fie heranziehen. Hermann dachte es fid) bezaubernd, fold ein Heines Fräulein zu einem Menſchen auszubilden, neue Ideen in fie einzupflan: zen, gugujeben, wie [ie anfing zu begreifen, daß das Leben nicht nur aus Küche unb Ballfaal beitehe. Er madjte feinen Befuch in Storfin, wurde eingeladen, wieder ein: geladen und erzählte Anna, daß die Eltern ibm Vertrauen jdentten, bap er mit der Kleinen reiten dürfe. Nie hatte er Anna leidenjchaftlicher ge: liebt als in diefer Seit. Es wurde ihm Ichwer, fid) auf Stunden nur von ihr zu trennen. Und immer ſprachen fie von Elly. Einmal lieh Hermann fic) ein Bud) von Anna, Dehmels Bedichte, bie er ihr früher einmal gejchenft hatte. Er wollte fehen, was für einen Eindrud bieje Art Poefie auf Fräulein Krey maden würde. Anna gab ibm bas Bud), ein paar mit Bleiftift unter: ftrichene Erinnerungsitellen radierte fie aus. Im Mai reijte Anna mit Fräulein Lindholm zu deren Hochzeit nad) Schwe⸗ den. Hermann war wie von Sinnen, er begriff nicht, daß fie ihn verlajjen wollte, gerade jest, ba er fie am nótigiten brauchte, ba er alles, was ihn intere|[ierte, mit ihr 8 befpredjen und beraten fonnte. Und es fam thm vor, als wäre es barmherziger gewejen, ihn damals abreijen zu laſſen, ehe fie ihn fo verwöhnt hatte. Aber Anna ging. Und nad) der Hod): zeit fam fie nicht wieder. Sie fchrieb, fie fände, es fet ihr nötig, fid) nod) weiter auszubilden ; [ie wollte daher in Stodholm 9tationalófonomie hören. Und fie verlän- gerte Hermanns Pachtkontrakt bis auf zehn Jahre. Alles Bejchäftliche follte inzwijchen mit ihrem Schwager Lujo von Beelig er- ledigt werden. Cie felber ſchrieb ein paar: mal, aber flüchtig unb unperjönlich. Bu: lebt wechjelten fie in großen Zwilchenräu- Der eine fat, der andre erntet. III IZIZTIZR 95 men nidjtsjagenbe Poſtkarten, kurze Nach⸗ richten im Telegrammitil. Nad fünf Jahren ftarb dann ihr Mann im Strenhaus. Sie fam nad) der Schweiz zum Begräbnis, fehrte aber gleich darauf wieder nad) Schweden zurüd, ohne Rot: Daibe zu bejucen. Hermann hatte fie nicht wieder gejehen jeitbem. Ihn felber hatte auer[t bas Befühl feiner erlittenen Kränkung ftaxt gemadt. Er wollte vergejjen. Und immer wieder, wenn bie Sehnjucht in ihm aufftieg, trug er ein wenig friſche Erde herbei zu der Gruft, in die er feine Liebe Dineingejenft hatte. Viel Born wurde da hineingeworfen, dann Ar: beit drauf gelegt, gute, ermübenbe Arbeit, und nad) gar nicht jo langer Zeit war ber Boden felt genug geworden, daß er [ein neues Licht darauf pflanzen fonnte. In feiner Berlaffenheit wurde ibm Elly Kreys frijdes, freundliches Geſicht ein €ab[al. Ganz ehrlich verliebte er fid) in fie und warb um fie. Und es fiel ihm faum nod ein, bap er einmal nüchtern geplant hatte, fie um ihrer Dlitgift wegen zu feiner Frau zu maden. Von Anna und was fie feinem Leben gewejen, jagte er ihr nichts. Zuerft aus Feigheit gegen [ein eigenes Gefühl, bas er nicht meden wollte, dann, weil er Ellys nachträgliche Eiferfucht flirdtete. Wozu ihr Gram maden? Noch dazu von Langit: überwundenem ? Denn nun, feit Jahren, hatte er inmitten alltäglid) neuen Schaffens und Genießens wirklich verge|]en. Anna von ?Beeli war thm bie Schloßherrin — nichts weiter. Die Kränkung aber, bie fie ihm angetan, die hat er noch heute nicht verwunden. — BB 88 Auch jebt, wie er am Schlefifchen Bahn: hof in eine Drofchke fteigt, um nach ber Penjion Sparre zu fahren, ift fein Geficht bart im Gedanken an das Wiederjehen. Sie wird ihn verändert finden, fejter geworden und entjchloffener. Zum Pagenfpielen taugt er nun nicht mehr. Und wenn fie etwa denkt, ihn wieder wie damals nad) Belieben hin: und Berjd)teben zu fónnen — ! Elaſtiſch redt er fic) auf. Er hebt bas Kinn und ftreicht fid) mit der Hand bie Kehle aufwärts, daß die rajierte Haut einen ftarren Ton gibt. Das bringt ihm ein angenehmes Gefühl von Männlichkeit, Defjen er ftd) gern verjichert in diefem 06 BSSSssSeSsHSessssssssseg Anjelma Heine: 83:3€43€434343€424342€343€3€$3$3$3£231 Augenblid. Er lächelt fein Bild im Kutſcher⸗ fenfterdjen an. Vielleicht hat es ber jtolzen rau Anna bod) manchmalleid getan, dab fie thn damals jo leichten Herzens ver: lajjen fonnte. Er freut jid) darauf, fie merfen zu laffen, daß er jedenfalls es nicht bedauert. Und er freut fich darauf, ein wenig vor ihr mit Ey und den Kindern zu prahlen, ihr zu zeigen, was er in Rot: haide ge|djajfen bat, und bap man im Kreife etwas von ihm hält. Tief atmet er bie ſchwüle Luft in feiner Drofchle. Berlin ijt ihm mal wieder Ichredlich; alle Menſchen immer, als wür: ben fie gejagt; dazu bieler desinfigterte Wiphalt überall, der Staub, die grauen $jüujer. Nirgends etwas Grünes. Nur an der Sige merft man, daß Sommer ijt. Und an den ausgejchnittenen Blu- fen der Damen. Almählich, in ben eleganteren Straßen, wurde es bejjer. Debt fam die Jäger: itraBe mit ihren Banfpaldjten, nun end: lid) vor bem Schaufpielhaufe am Gen: barmenmarft ber hagere Schiller mit feiner Leiter. Cin paar Schritte nod) um die Ede herum, und er ift da. Her: mann fieht am Haufe hinauf, bas ein gto: Bes neues NRellamejchild mit eleftrijden Lampdjen trägt: „Penlion Sparre, inter: nationales Heim für In⸗ und Ausländer.” Lieber Gott! Was ijt aus den paar Stus ben der alten, guten Tante Bettina gewor: den. Aber dazu hatte bie Beelit eigent- lid) den Anfang gemadjt. Anna hatte alle ihre Verwandten und Freunde hierher empfohlen, jchon im Sommer hatte man dDurchgebrochen nad) ber Nebenwohnung unb deren Hinterzimmer hinzugenommen. Jetzt aber ſchien bie Gade ja ganz im großen betrieben zu werben! Bor dem Fahrſtuhl mußte er eine ganze Meile warten. Cine Dame verhandelte aus der vierten Etage bird) den Schacht hindurd) mit dem Boy, ber fid) weigerte, ein paar flache Rijten, bie ber Pafetbote im unteren Flur niedergelegt hatte, mit hinaufzubefördern. Die Dame [prad) ener: gijd), mit einer Stimme, bie thm befannt porfam; man hörte fie bann mit fejten Stiefeldjen bie Holztreppe Dinunterfom: men, während ber Lift jid) aufwärts hob. In der dritten Etage begegnete man fic, durch das Eijengitter bes Lifts Dinburd) erfannte Hermann Mi Ruth, bie Enfel- tochter des amerifanijden Profellors. Frei: ich nicht mehr gretchenhaft verjchüchtert, jonbern in Anzug und Haltung eine felbft: bewußte moderne Frau. Sie erfannte ihn jogleid), und da fie ihn [o zwijchen ihre Bilderfilten gequetjcht jab, rief fie ihm eine Entſchuldigung zu. Droben mußte er im Eßzimmer einen Augenblid auf Tante Bettina warten, bei ber er fid) hatte melden laffen. Er wollte guerjt fie begrüßen und fid) nach Unna er: fundigen, bevor er fie jah. Er febte fid) ans jen|ter. Drüben im Couloir bes Schauſpielhauſes übten wieder die einen Mädchen vom Corps de Ballet. Ein paar Müßige ftanden am Fenſter und blidten hinüber. Das hatten fie früher nie getan, bas neue, vielverjprechende Schild mochte fie anziehen und ihnen Träume von reichen Fremden, Eroberun: gen, Brillanten und Equipagenvorzaubern. Unten auf dem Plage wimmelte es wie jonjt von Heinen, fchwarzen Menſch⸗ lein. Eine Anzahl von ihnen blidte, bie Hände vor bem Geficht, zum Himmel. Gs war für diefe Zeit eine Sonnenfinfter: nis vorbergejagt. Schon begann ein felt: jam jchwefeliges, fehattenlofes Licht alle Häufer ringsum traumhaft zu machen. Sm übrigen aber war alles brunten genau wie früher: die Mtannigfaltigfeit der Was gen, Omnibuffe, eleftrifden Bahnen, Hand: farren und Bejchäftsfuhrwerte, ber Schnei: der drüben im Bodenftod mit feinen Ge: jellen auf den Tijchen hodend — alles! Er war nicht hier gewefen feit Dufchis Tode. Er wandte fid) ins Zimmer zurüd. Merfwiirdig, alles bas wiederzufinden: ben langen Tijch mit [einen Waſſerflaſchen unb Brotlörben, bie Zwergpalmen, ber alte Sefretär an ber Fenſterſeite, ber per: febrt zum Lichte ftand, mit feinen taujend verblichenen Photographien und bemalten 9Inbenfen, der Spiegel, ber einen jo breit madjte, mit bem fteifen Cofa und bie beiden roten Gejjel mit bem eingeftidten wamilienwappen. Uber auch bier hatte jid) manches verändert. Der Tijd) war länger geworden, viel länger! Und an der Ylurwand, bie immer fo langweilig aus: gefehen hatte, hingen jebt hübjche Wand: befleidungen von fchwedilcher Weberei. Die hatte fider Anna hergejandt, und da, : -19g001g) uupuniaG uoa oq]purag) "HP 1% : — — —— — ESSVSSeeessssy Der eine fat, der andre erntet. BISSSSSSS34 97 ein bißchen im Dunfeln, hing ja aud) bie Stigze, die die Profejjors: Enkelin damals von ihr gemadjt hatte. Ja, bas war fie! Ihre Haltung, ihr metallijd) im Schein der Lampe glänzendes Haar. Ob [ie fid) ver- ändert hatte? Jeden Augenblid fonnte dort die Tür aufgehen, und fie jelber trat ein, bob ihre Arme ihm entgegen, ruhig und warm. „Willlommen zurüd, Sieb: ling!” Die Vifion war ihm fo ſtark ge- worden, dak er zujammenfchraf, als fic jebt wirklich bie Tür auftat und Tante Bettina eintrat, ein bißchen Heiner gewor- den, aber jorgfältiger gefleidet als früher, in refpeftabler ſchwarzer Seide, mit einer goldenen dünnen llbrfette. (ie ftredte Hermann beide Hände entgegen, bap er fie füjjen follte. „Ich freue mid), Dich einmal wieder in Berlin zu jehen. Wie geht es Dir, wie geht es zu Haus, wie ijt Elsbeths Gejunbbeit, id) meine Ellys, fie nennt fid) ja Elly. Und wie bijt Du mit ber Saunt: heit Deiner Kinder zufrieden ?" Zehn Mtinuten dauerten diefe Prälimi- narien, bis es Hermann endlich gelang, zu lagen, daß er gelommen wäre, um Anna nad) Rothaide abzuholen. „Sie ijt bod) zu Haufe?” fragteer, ba er Tante Bettinas erjtaunte Miene jab. Und nun fam ein Rattenfinig von Miß— peritünbnijjen, falfchen Verabredungen und Maßregeln zutage. Anna hatte jid), gleich- falls von Stettin aus, für heute in Berlin angemeldet, aber unglüdlicherweije war im Augenblid aud) nicht ein Spältchen frei in Penlion Sparre. Ein altes Ehepaar hatte auf Monate gemietet, bas fonnte man natürlich nicht an die Luft feben. Dazu fam nod), daß ihre Tochter aus Wiesbaden hierher gefommen war, die Eltern zu be: grüßen, und dabei von der Geburt ihres Kindes überrajcht wurde. Eine Wöchnerin im einer Qyrembenpenfion! Mit all den jungen Mädchen hier zufammen! Tante Bettina war ent3üdt über diefe Senfation. Ihre eintönig gewordene, gleidjjam runz- lige Stimme hüpfte förmlich. In Hermann ftieg irgendein Unmut auf, be|jen Urjache er nicht erfannte. Um fid abgulenfen, fragte er nad) ben Wmerifa- nern: „Mi Ruth Jah febr zufrieden aus? Das ftand ihr.” „Sie fann auch zufrieden fein. Fünf Bilder hat fie nach der großen Ausftellung Belhagen & Rlafings Monatshefte. gejchickt, und zwei [inb angenommen. Gie treibt es jebt berufsartig. Niemand hätte gedacht, daß ihr Talent jo groß wäre. In den Zeitungen hat fdjon ein paarmal über jie geftanden.” Es lag eine Heine Verad: tung in ihrem Tone neben der Anerkennung. Berufskünjtler galten ihr bod) ein wenig untergeordnet. „Zebt der Großvater nod) ?" erfunbigte jid) Hermann. „Und wie! Der ift noch einmal wieder jung geworden, hat zu jchriftitellern ange: fangen. Halb politifch, halb belletrijtijd). Seine Lebenserinnerungen. Bor zwei Jah: ren tft es als Bud) erjdjienen. Er ijt ganz jtolz darauf.“ Während fie [prad), wurde es Weiß- mann flar, was ihn beunrubigte. Waren jie denn nicht alle hier wie verſchworen gegen Anna, dak fie nicht begriffen, was jie thr verdanften, ihrer Anregung, ihrem rajden Entdederblid? Tante Sparre, bie Amerikaner — alle waren undanfbar. Und er? War er es nicht vielleicht am meijten? Diejer lebte Gedanke, ber ibm fchatten- haft burd) bie Sinne ging, entjebte thn förmlich. Nervös erhob er ih. „Wo ijt jie Denn? Wo wohnt fie ?” Tante Sparre jah ihn verjtändnislos an. „Das ilt’s ja eben! Wir haben ihr abtelegraphieren miijjen, und fie hat uns unterwegs von Stüjtrim aus berichtet, daß fie auf dieje Abjage hin jid) [don heute in Rothaide angemeldet hätte. Und nun kommſt Du und willft fie holen!" Plöß: lid) fiel ihr ein, daß ja für Hermann ein Telegramm da wäre. Cie flingelte bem Mädchen, die es brachte. Es war Annas Anmeldung nad) Rothaide. Der Stations- chef ber Kreisitadt hatte, ba er Hermann in Berlin wußte, es jorglich herbefördert. „Wenn unerwünfcht, bitte Antwort Küftrin babníagernb." Cine Antwort Hatte fie nicht befommen, fie war alfo jebt bereits in Rothaide. „Verkorlſte Gefdhidte!” Hermann war Jo wütend über alle Welt, daß er das Tele: gramm in Stüde rig. Sie waren aljo wirklich) aneinander vorbeigefahren in Frankfurt. Er hatte richtig gejehen! Und nun jaß jie, was er gerade hatte vermeiden wollen, bet Ely unb |prad) von der Ber: gangenheit, denn fie glaubte natürlich, XXIV. Jahrg. 1909/1910. II. Bo. 7 98 BSSSSSSSssese:as Unfelma Heine: geaceooceoeeoooog Elly wüßte Befcheid. So wie [ie nun ein: mal war, fonnte [ie fic) nichts anderes vor: ftellen. In manchem war fie eben troß aller Sicherheit und Klugheit bod) naiv. Go vieles Häßliche und Unzulängliche fannte fte nicht, weil eben jeder, ber zu ihr fam, ein wenig von ihrer Atmojphäre mitgefärbt wurde, jo daß fie im Grunde nichts weiter zu ſehen befam, als immer nur fid) jelbit. Während er im Kursbuch blátterte und nad) den Zügen jab, bie ihn möglichit Ichnell nad) Rothaide zurüdbringen fonn- ten, [tteg ihm bieje neue Erfenntnis ihres Weſens unvermerft bligartig in die Seele. Er dachte nun wieder fajt mit Zärtlichkeit an fie. Tante Bettina frafpelte an ihrem Schreibtijd unb [ab ab unb zu hinüber nad) ihrem Neffen, ben fie verändert fand. Berbauert in jeinem rüdlichtslofen Schwei- gen. „Du bleibit bod) bier zum Tee?” fragte fie und erhielt die unhöfliche 9Int- wort: „Sch muß wohl." Plötlich fam ibm bie Idee, nad) Haufe zu telephonieren. Während er nun den Fernanſchluß abwar: tete, Jebte er fid), etwas friedlicher gewor: den, zu Tante Sparre und ließ jid) erzäh: len. Ganz langweilige Sachen. „Ich bin jebr fontentiert durch meine jebige Lage, “ Ichloß fie endlich, „wenn ich bedenfe, wie Hein man angefangen hat, und nun — — Alle bie Adligen aus den Ojtjeeprovingen fommen zu mir. Und was den Ruf bes Penſionats bejonbers gehoben Bat, find bie verjchiedenen Berlobungen. Die junge Frau, die jetzt da drüben liegt mit ihrem Kindchen, hat fid) aud) bier bei mir ver: lobt. Ihr Dann ijt ein Vetter der Anna von Beelit , ihr früherer Verehrer. Aber fie gab ihm einen Korb, als er nad) dem Tode des Barons um fie anbielt.” „Er hielt um fie an?” Hermann war erregt aufgejtanden und hinter feinen eig: nen Stuhl getreten. Der Bedankte, Anna hätte heiraten jollen, war ibm neu und widerwärtig. „a. Und fic hätte ihn aud) gewiß ge- nommen, wenn fie thn aud) nicht bejonders leiben|djaftlid) liebte. Wher eine allein: ftehende tjrau. — Und fie fannte ihn feit ihrer Kindheit!” „Schließlich aber hat fie bod) nicht ge: wollt ?^ Tante Bettina fchüttelte mißbilligend den Kopf. „Das i[f nun wieder fo eine fixe Idee von unferer lieben Baronin. Sie jo ibm gejagt haben, fie heiratet ihn nicht, weil fie, nad) Dufchis Geburt, fein Kind mehr haben fann. Und fie behauptet, ein Mann brauchte viel nötiger Kinder in feiner Ehe als die Frau.” Noch eine Weile redete fie fort, von der Verlobung unb der fchönen Geter, bie fie babet pers anjtaltet hatte — ba Idutete der Apparat. In einer fonderbaren Aufregung ergriff Hermann den Hörer und meldete fidh. In jetner Verwirrung war es ihm beruhigend und wundervoll heimatlich, Ellys Stimme zu hören. Cie erzählte ihm, fonfus durch: einander, was er [don wußte. „And nicht einmal einen Wagen haben wir ihr [djtden können, fie hat fid) einen mieten miiffen. Und nichts vorbereitet, denfe doch.“ Ihm, der jede Nuance ihrer Stimme fannte, brachte bie Inhaltlofigfeit biejes Gefprdds große Beruhigung. Nur haus: frauliche Erregung ſprach aus ihr. Gie wußte aljo nichts. Und dann bemerfte er aud, bap Anna ihr gefiel, daß fie lieb zu ihr war. Das erleichterte ihn. „And jebt fol bie Baronin Dir aud) nod) guten Tag jagen, [ie tjt im Kinder: zimmer.” Hermann drüdte den Schall: veritärfer und hörte nun ganz deutlich ihre Schritte. Ja, die hätte er erfannt aus allen anderen. So ging fonjt niemand. (Fine feltjame Riihrung burdflutete ihn. Wm Wpparat flang ihre Stimme dumpf. Sie telephonierte nie jehr gern unb |prad) nicht natürlich) dabei. Auch wußten fie fid) nad) bem eriten „Wie geht's?” nichts mehr zu jagen. Als fie jid) aber jchon verab- Ichiedet hatten, rief Anna nod) einmal mit ihrer eigenen, dunklen, warmen Stimme: „Bann fommen Ste? Wir miiffen bald ins reine gelangen.“ „Ja, ja, ins reine," rief er zurüd. Das hatte ihn getroffen wie eine Order. Gr wußte, was fie damit meinte. Nicht etwa den Pacjtvertrag. Cie wünjdjte, Elly folteerfahren. Und Hermann wünſchte bas jebt auch. Immer war ja ba eine Unficherheit und leife Scham gewejen bei ihm, Elly gegenüber. Das war unwiirdig. Auch Annas unwürdig. Das follte jest aufhören. Erftand im halbduntelnTelephonwintel: SSS SS2aSSSesqq Der eine fat, der andre erntet. [aexeaesiasze€2«2:34 99 den, hörte Schiiffeln klappern und bas Geráujd) von Schneefchlagen aus der Küche. ‚Nun wird bald zu Abend ge: 8 geilen,‘ glaubte er zudenfen. Aber tn ibm dachte, rang und Härte jid) ganz anderes. Tante Sparres Worte hatten ihn auf ein- mal fehend gemadjt. Ya, jo ijt’s gewefen: Anna ijt von ihm gegangen, weil er eine Frau nehmen follte, bte ibm Kinder [d)enfen finnte. Wie er ba [tanb, famen ibm tau- jenb Kleine Umſtände ins Gedächtnis 3u- rüd. Worte, Blide, Andeutungen von Sig- rid Lindholm. Anna fühlte früher als er felbft, daß er Elly liebte. Wie hatte er nur das nicht durchfchaut? Er, ber fie fo gut zu fennen glaubte! Und nun hatte fie wahrjcheinlich bie ganze Zeit über auf ein warmes Wort gewartet. Und nicht nur das. Auch wohl ein wenig auf feinen Dank. Denn fie erit hatte ja den Weg frei gemadjt zu ihm hin. Gie erjt hatte ihn erzogen für die Che. Welches junge Mäd- chen hätte ihn heiraten mögen fo wie er war, ehe ihn Anna lieben lehrte? Und ihm felber war durch Anna erjt der richtige Begriff für die Che aufgegangen. Sie erft hatte ibn gelehrt, daß eine Frau nicht nur ein notwendiges Zubehör ijt, deffen man fid) ſchämt, ober eine anfprudjsvolle an: jtrengende Standesfigur, deren Behand: lung man fic) notgedrungen unterziehen muß, fondern ein Blüd, eine Bereicherung. Ihr verdankt er es, wenn er Dod)bentt von den Frauen. Und bod) Hatte er bie ganze Zeit über mit Groll jid) Annas er: innert. Mit Triumph jogar. Um iDret- willen, um thr zu imponieren, hatte er feine Arbeit getan. Im legten Grunde banfte er alfo auch feine Erfolge ihr. Ihr Atem war es, ber ihn gelenkt hatte. Auch aus der ‘Ferne noch! Ein plößliches unwiderjtehliches Bedürf- nis, wieder gut zu machen, quälte ibn. Beichämt dachte er daran, daß er Anna hatte mit Vorwürfen empfangen wollen. (Yr begriff fid) jelbjt nicht mehr. Schon faßte er wieder zum Telephon. Er hatte Luft, Anna jeßt gleich zu [predjen, fie um Verzeihung zu bitten, ihr zu erffüren — aber er jab jchnell das Unfinnige feines Unternehmens ein. Go ftand er nur und vertiefte fid) in jeine Beichtgedanten. Und er fühlte fid) aulebt bei feinem Bußvorjaß froh, fajt übermütig. Sekt würden fie ins reine fommen. Alle drei! B8 BB In Rothaide hatten am fpdten Nach: mittag der Bolontär, Fräulein Thiede, Bärbel und Rabot auf dem abgeernteten welde geitanden und mit gejchwärzten Glasſcherben nad) der Sonne geitarrt, in deren Mitte fic) der dunkle Mond abzeich- nete. Cin feltjam fables Licht ohne Schats ten lag über der Ebene, ſchwarzblau fchien der Wald. Bärbel jab mit ganz hoch: geredtem Hälschen andadjtsvoll in bie Strahlen, bie ber fodjenbe Sonnenring ausjenbete. (ieverteibigte ihr Glas gegen Rabot, der ein paar Scherben in den Hands chen hielt, aber nod) mehr davon haben wollte. Der Bolontär ftreckte zierlich den Heinen Finger aus, während er bie ſchwarze Glasjdjerbe für die Bonne bereit hielt. „Bas es für jeltjame Naturerjcheinungen gibt,” jagte das Fraulein. Darauferzählte jte von einer Mondfinjternis, die fie etn: mal beinahe gefehen hätte, aber fie war zu jchläfrig gewelen, und man hatte ihr nur davon erzählt, und das eben war „jo ſchrecklich komiſch“. Dann gab jte bas Glas zurüd. Auf der Fabhritrake fuhr ein Mietswagen aus der Stadt. Das Fräulein hatte ihn ſchon bemerft, wollte aber nicht unideal erjcheinen und unterbrüdte daher ihre Neugier. „Schade, daß die Frau Oberleutnant biejes erhebende Natur: ſchauſpiel nicht aud) jiebt," jagte fte, um zu zeigen, dak Elly, die fie nicht leiden fonnte, feinen Sinn für Höheres hätte. „Site ift im Schloß und beauflichtigt das Reinmaden. Übermorgen [oll bie Guts- berrichaft fommen." „Wenn fie nur das nicht ſchon ijt!” rief fie plóblid) entjebt. Cine große Dame in Schleierhut und grauem Reijemantel war ausgeltiegen unb ging mit rafden, un: beirrten Schritten, die dennoch etwas Glettendes hatten, durch die Kleine Pforte über den Hof, bem Pächterhaufe zu. Ge: rade als ob fie hier zu Haufe wäre. Da jebte fic) das Fräulein in Trab und lief ins Schloß, die Hausfrau zu holen. Es dauerte eine ganze Weile, bis Elly et|djien. Als fie fam, fand fie bie Beelth mit Bärbel an der Hand auf der Veranda jteben, wo ihr Bärbel bie Sonnenvorgänge erklärte. „Jetzt ijt es nicht mehr jo ſchön, 7* 100 ESSSSeSeeseseesseey Unfelma Heine: ESSSLSSSZSZFZIZZSZZZN jebt fann man nur nod) das Finftere be- lebn," und fie faben freundjchaftlich mit: einander Durd) bas Glas. Rabot jap auf dem Boden neben Taps und |djelte 3ag- haft hinüber. Elly hatte fid) umgefleidet, fie fam mit ziemlich verdrojfenem Gefidt, bem fie vergeblich verjudjte einen bod): mütigen Wusdrud zu geben. ‚Was bentt bieje Frau fid) eigentlich, fo mir nidts Dir nichts hier hereinzufchneien, während Hermann nad) Berlin ihr nachgereift ijt? Cie meint wahrjcheinlich, weil fie hier Beliterin ijt, fónnte fie tun, was [ie wollte?‘ Aber Annas Wefen, wie fie da fo einfach und friedlich unter den Kindern ftand, entwaffnete fie. Auch hier ging es nun an ein langes Erklären, Bermuten und Entjhuldigen. Für das nichterhaltene Telegramm fand Elly fchnell die richtige GCrfldrung. „a, der Stationsporfteher it immer neunmalflug.” Nachträglich mußte Bärbel fnidjen und die Hand küffen, und Rabot legte aud) fein offenes, feuchtes EU Mündchen auf bte Hand der ‘Fremden, daß alle lachen mußten. Cie waren nun ins Haus hineingegan: gen, und Anna, bie heute provijorijch im Gajtzimmer bes Bächterhaufes übernachten wollte, ging, von Elly geführt, hinauf, um ftd) vor dem Abendeſſen frijch zu frijteren. „Hier ftand damals ein großer, ausgejtopf: ter Schimmel,” fagte fie im oberen Flur. „Das lebloje Geſchöpf war mir gráflid). Aber Beelik hatte das Tier lieb gehabt. Er jtreichelte bas [teife, tote Ding jeden Morgen, wenn er vorbeifam. Dann [tanb es nod) eine Weile im Schloß drüben, aber als er fort war, ließ ich es weg: ſchaffen.“ Sie wollte eben in das Logierzimmer eintreten, als fic) eine Bodenkammer öff— nete und eine hübſche, junge Perſon heraus⸗ fam, bie ganz außer jid) vor Freude knickſte. „Habe die Stimme gnädiger Frau gehört. Die Stimme.“ Sie kniete faſt am Boden und küßte aufs Geratewohl in Anna Alei- der hinein. Es war Ellys Stubenmädchen, eine Lettin, bie Anna damals, nod) als halbes Kind, mit fid) gebracht hatte. Ste hatte das Mädchen aus widrigen Verhält: nijjen befreit und hier angelernt. Als ite nach der Schweiz teijte, blieb es bei Fräu— lein von Borfe und Dujcht zurüd. Später, nad) Annas plößlicher Abreije nad) Schwe: den, hatte der Verwalter fie übernommen. Und nun war fie bei Weißmanns. „Kommt gnábige Frau nun gurüd?" fragte Lieſe. Anna jab zum Fenſter hinaus, vor dem fid) ein ſchmaler *Bujdjitretfen ausbreitete, babinter junge, mannshohe Anpflanzungen, zwilchen denen bie Spree aufgliterte, bie Ufer ganz mit hellen Blumen bejchüttet. Ein ftarfer Duft von Grün und Waller [tieg herauf. „Ich weiß nod) nicht,” jagte fie langjam. „Es kommt wohl nicht allein auf mid) an.“ Bulegt fag man leidlid) gemütlich tm Eßzimmer und tranf Kaffee. (llt wunderte ftd), bap Bärbel jo gar nicht .,,fremdete”. „Kinder find wie fleine Hundchen,“ jagte Anna Beelik, Rabots weiße Löckchen über thre Ginger ringelnd, „ſie |püren es, wenn man mit anderen Kindern gujam- men war.“ „Ja, waren Sie denn das?” fragte y. „Immer! Ich liebe Kinder fo febr." Elly madjte ein mitleidiges Gefidt. Die Kinderlofe tat ihr leid. Sie nahm fid) vor, gut gegen ſie zu fein, und es freute fie, baB Bärbel, ihrer jonjtigen Art ent: gegen, fid) ganz augenfällig zu der rem: den neigte, daß fie immer wieder mad) der gelajjen Redenden, fic) faum Bewe: genden Dinjtrebte, die Enden ihres langen, jeibenen Schärpenbandes jtreidjelte, thre Ringe betajtete, die ihr merkwürdig ſchie— nen, und mit ber unbeirrten Beharrlichkeit ihres Alters Annas volles, gütiges Geficht ftudierte. Auch Cy, anjdeinend damit befchäftigt, den Napffuchen zu zerteilen, jab immer wieder zu ihr bin. Gie hatte gar nicht gedacht, bap die Beelit nod) jo gut ausfähe. Ihr war fie damals ſchon fajt alt erfchtenen. Aber Hermann? Gie fühlte einen Stich in ihrem Herzen. Inzwijchen erzählte Anna weiter: „Man nennt mid) immer nur bie Gudmur, d.h. die Pate von Schweden. Bei jo vielen Kindern, die da in den lebten Jahren ge: boren find, mußte ich Pate ftehen.” Und dann berichtete jie von den Ringen, bie fie trug. Bon jedem wußte fie eine Gefchichte. Der goldene bide, mit ber fomi[djen, Ichwarzen Kugel, den hatte [ie von ihrem Vater geerbt. Der erjte Tropfen aus einem PESOS OOOGOS) Der eine [t dev andve erntet. BSSSSSSeees 101 Gijenbammer, den er gegründet hatte und der nachher bie ganze Gegend reid) madjte. „Uber jo war es mit thm! Ws alles im Gange war, das Werk anfing ihn zu be: lohnen, da zog mein Vater weg. (Gr mute immer Neues jchaffen, organilieren, Ein: richtungen treffen. Andere hatten dann den Mugen davon. Go war er. Und bas Luſtigſte ijt, bie andern, wenn fie dann fein Werk fortjebten und reich wurden dadurch, verachteten ibn, weil er jelber es zu nichts gebracht hatte.” Ein finnender 3Blid fam in ihre Augen. Gleich darauf aber lachte fie. „Zuletzt heiratete er doch meine Mutter, die war reich unb [orgte für ihn. Denn ſelber hätte er esnicht gefonnt." Und fie lachte wieder. Cy hatte niemals jo entgiidend lachen hören. So rein und Bod) und weid). Ge: tabe als hätte ein Bad) Stimme befommen. lly batte fie lieb von biejem Augen- blide an. Der zweite Ring war ihr Magijterring. Drei Tage wurde gefeiert in Lund, wo fie mit einer Menge junger Leute zufammen das Examen madjte. Cin großes Felt. Die Jugend flocht jid) Kränze füreinander unb 30g im ?Blumenjdjmud durch alle Straßen. „Trugſt Du aud) einen Kranz ?“ fragte Bärbel und Jah bie Tante erwartungsvoll an. „Ih? Nein. Mich hatten fie in eine Sänfte gelebt, bie ganz voll Blumen war, und dann trugen fie mid) umber. Ich als bie ältefte jollte bie Mutter vorftellen.” Und bann erzählte fie, wie jchön es droben .jei im Sommer. Die Pflanzen wuchjen die ganze Nacht, jo hell blieb es, und man jelber lebte gleichfalls doppelt; ein längeres Leben als bier, denn man [lief nur wenig. Den dritten Ring trug fie am oberen Gliede des Heinen Fingers. Ein fdmaler Silberjtreifen mit einem Tiirfis. Weiß— mann trug einen in der gleichen Größe an feiner Ubrfette. „Ein Andenken“, wie er jagte. Das erwähnte Elly jebt. Die Baronin nidte: ,Dufdis Ringe.“ Ihren Lrauring trug fie nicht. Nad) dem Kaffee gingen alle zufammen ins Kinderzimmer. Die Baronin follte jeben, wie Elly ihr Bilderbuch zurecht ge: lebt hatte. „Wie ſchön, dak es nun bod) wieder jemanden freut,” fagte Anna, als fie jab, wie bie Kinder fic) voll Eifer in das Buch vertieften. „Laffen Sie uns ein wenig bier figen und ihnen zujehen. Sd) finde, man lernt die Kinder bejjer fennen, menn man jid) nicht mit ihnen bejchäftigt, fie ruhig fid) jelber überläßt.“ „Deinen Sie? Dan fann nur nicht reden dabei. Gite fommen immerfort und fragen.” Nun [aBen fie auf dem alten, breiten Lederfofa, bas tief eingejejfen war. „Die Kinder fpringen immer darauf herum,” fagte Elly entjchuldigend, „hier in ihrem Reid) mag man ihnen das nicht verbieten.” „Herrlich, dag Sie ihnen Freiheit laffen. Ich glaube, in Deutſchland verbietet man immer zu viel.“ „Ja, bei uns zu Hauſe war es ſo. Aber wir, mein Mann unb id), verbieten mög: lichft wenig.” „Es madt bie Kinder auch nur nervös.” Elly riidte unwillfürlich näher an Anna heran. Etwas Mütterliches fühlte fie von ihr ausftrömen, das ihr gut tat. „Ja, nicht wahr, es fann fie nur nervös machen. Das benfe ich aud)! (Sie dachte es frei: lich zum erjtenmal in diefem Augenblid, aber das wußte fie nicht.) Bet mir zu Haufe wurde immerfort verboten. Ich war ja gejund und machte mir nichts daraus, ich hörte gar nicht mehr hin, mein Bruder aber —“ Und fie fingen an Kindergefchich: ten zu erzählen. Dazwiſchen famen die Kinder und wollten beachtet fein. Rabot befam dann feinen Baufaften, den er mit großem Getije auf bem Boden ausjchüttete, und Bärbel ihren Tufchkaften. Sie war völlig vertieft in ihre Bejchäftigung, wäh: rend Rabot beitändig Zufchauer brauchte für feine Heldentaten. „Sieh mal, Mutti, was td) gebaut habe.“ Anna ging jadte zu Bärbel hinüber unb betrachtete verjtohlen, was fie da ent: warf und malte: Ein Schiff, Drachen und Vögel und eine Frau mit einer Schlange. - „Zeichnet fie viel?” fragte fie tnterejfiert. „Eigentlich erft feitdiefem Sommer. Bis dahin war fie überhaupt zu feiner Be- Ihäftigung zu friegen. Sie Hetterte auf bie Baume oder lag auf bem Sjeuboben. Ih in ihrem Alter half fchon ordentlich mit beim Hübhnerfüttern und Eierfuchen. 102 EIEEEAASOSA Anjelma Heine IBz3GO3G3GO(GOGGOGGOGGGG3X Sch [tridte auch ſchon ganz nett Strümpfe. (fs madjt mir oft Sorge, daß fie jo gar feinen Trieb hat zu etwas Stüblidjem. Aber dann wieder benfe ih —“ Gie [ab findlich und lächelnd zu Anna auf — „Ic benfe, meine Tochter [oll einmal alles das werden und erreichen, was mir immer als Ideal vorgeichwebt hat. Riinjtlerin oder jo. Irgendwie berühmt. Ich habe mir bas immer jo gewünjcht. — Aber natürlich werden wir jienicht zu irgend etwas treiben, wozu fie fic) nicht eignet," jebte jie rajch und wiirdevoll Hinzu. Sie hatte in Annas Geficht gelejen, daß fie es jo meinte, und es lag wie ein Bann über thr, daß fie jagen und denken mußte, wie Anna dachte. Nun wollte Anna in den Park gehen. Sie hatte einen Kranz für Dufcht mit: gebracht, lauter rote Rofen. Den nahm fie jebt aus dem Karton. „Übermorgen würde fie ſechzehn Jahre fein,“ ſagte fieleife. Elly ging mit, ihr den Weg burd) die neue Anlage zu zeigen. Als fie über ben Hof famen, führte Cy ben Befud auf eine Stelle, von der aus man einen großen Teil der Felder fehen fonnte, die Korn: mieten und bie neue Drefchmafchine, bie nun nad) Feierabend verlaffen gegen den geröteten Himmel ftand, zwijchen ihren Kornbergen. „Die Wirtjchaft und das Gut wird Ihnen Hermann zeigen wollen. Es hat fid) allerlei verändert, glaub’ ich.“ Anna jab aufmerffam hinüber, unb Elly, ihren Bliden und Gedanfen folgend, fragte unwillfiirlid): „Und Rothaide [oll nun Verfuchsitation werden?“ Anna wandte ihr erftaunt bas Beficht zu, in bem fid) die Glut bes Whendhimmels ipiegelte. „Hat bas mein Schwager ſchon hierher geſchrieben?“ Gierichtete lid) auf. Und mit einer Knappheit, die Elly reizte, weil fie jede Beratung auszufchließen jchien, fubr fie fort: „Ich hatte daran gedacht.“ Cie jab wieder in bte Landſchaft hinaus. „Aber was für gejegnete Arbeit hier ge: leitet worden tjt, in Rothaide! Wie das alles gepflegt ijt und gediehen in biejen lebten Jahren.“ Ellys Augen wurden blank. „Wir haben es uns aud) jauer werden laflen, Frau von Beelit, bas fónnen Sie mir glauben. Wir haben es uns Mühe foften laſſen.“ „Und nun fomme ich und vertreibe Cie; wollten Sie jagen?" Ely wurde verlegen, daß fie fid) fo ver: taten batte. Sie fam fich unhöflich vor. „Hermann liebt ja bie Selbſtändigkeit,“ jagte fie. „Er hat es fid) lange gewünfcht, etwas Eigenes zu befigen. Und nun —“ fie erzählte von SOberfelbe. Anna nidte, unb es lag eine eigentüm: liche Traurigkeit in Ddiejer Bewegung. „Es ift Dod) alles hier ein wenig anders, als ich es mir drüben ausgemalt habe. Mtan hat wohl nie genug Phantafie in btelen Dingen, jpinnt das Alte immer nur weiter. Ich fomme mir jest beinahe vor wie ein Eindringling.“ Und plößlich er: rötete fie. Cin Erröten, bas alt madyt. „Aber Sie — Gie find ja dod hier die Herrin,” jagte Elly verwirrt und un: geſchickt Cie gingen durch den Obſtgarten, zwi⸗ ſchen den Reihen luſtiger roter Sommer: tülpchen. In der Geißblattlaube ſetzte ſich Anna einen Augenblick nieder. Sie ſchloß die Augen und lächelte. Ihre linke Hand war ſeitwärts ausgeſtreckt, als hielte ſie eine andere Hand. „Hier ſo zu ſitzen, wenn man alt und grau geworden iſt, mit dem Manne, den man liebt! Im Herbſt vielleicht, wenn ſchon bie Laube kahl ijf und mit bláu- lichen Abendſchatten gefüllt. Und dann binauszujehen auf die nod) ſonnenbeſchie⸗ nenen beiden roten Blumenteihen da draußen, und fi) zu erinnern an bie ganze lange Reihe froher Tage, bie man miteinander gehabt hat — — —" Cie hielt inne, da fie Ellys erfchredtes Geficht jab. : „Was haben (ie, was ijt?” „Woher willen Ste das?“ „Willen? Uber das tjt bod) fo auf bem Bödlinfchen Gemälde in Zürich. ‚Die Gartenlaube‘ heißt es. Es hat mir einen unvergebliden Eindrud gemacht, als wir es dort ſahen.“ „Wir? War mein Dann mit?“ Anna öffnete weit die Augen. Ihr Blick, ber auf Ellys weichem, findlid vertrauenden Geſichtchen rubte, ſchien etwas Entjegliches zu gewahren, etwas, das fie verjtetnerte. ‚Ja, willen Gie denn nicht?‘ Hätte fie fchreien mögen. ‚Hat er Ihnen denn nicht gefagt?‘ Cs jdien Cy, als wären die Züge der großen Frau, bte ba gebeugt im Schatten pee, Der eine fat, der andre erntet. BESeESesesss” 103 jak, jchärfer geworden, ftrenger, als wäre fie plößlich viel älter als vorhin. Auch ihre Stimme Hang härter als fonjt, ganz fonderbar taub, fand Elly, als fie er- widerte: „Ihr Mtann? Nein. Cr war nicht mit.” — „Uber wiefo jagt er denn immer ganz dasfelbe, wenn er hier — “ Ein Mädchen fam atemlos aus dem Haufe hergerannt. „Das Telephon! Wn- ruf aus Berlin.“ Anna ging wieder ins Kinderzimmer. Es war ihr nicht möglich, jebt, in biejer Erregung, an das Grab ihres Kindes zu treten. Mit zitternden Händen ftreichelte fie Bärbels ftraffe jeibige Baddhen und holte ftd) Rube zurüd von dieſem geraden, wahrhaftigen, fletnen Weſen. Cin paar Gefunden ftand fie, ba wurde aud) [ie zum Telephon gerufen. Nad) dem Ferngeſpräche trennten fich die Frauen. Ely wollte ber Mamſell Be: id)eib geben wegen der Seife für morgen zur Wälche, die Botenfrau follte expediert werden, und dann mußte fie das Sortieren der Obſtkörbe überwachen. Morgen war Marfttag. Cie zählte alles auf, gerade als müßte fie zeigen, daß es Notwendigkeit war, nicht Unhöflichleit, wenn fie Anna jebt allein ließ. Und wirklich fühlte fie ein jchlechtes Gewifjen der Fremden gegenüber. Gie hatte das Gefühl, fid) eine Blöße gegeben zu haben im Park, in der Gartenlaube. Die Eiferfuht war nun einmal ihre Ichwache Seite. Aber fie wollte fid) jest zufammennehmen. Dieje Beeli hatte etwas jo Gerabes, jo Freies. Man durfte nicht kleinlich [deinen neben ihr. Bom Feniter ihres Zimmers aus jab fie bie Fremde burd) ben Garten gehen. Den Kranz trug fie am Arm. hr Haar glänzte, und ihre Hände ftreiften bie Büfche zu beiden Geiten des Weges mit einer liebevollen Bewegung, daß es ausjah, als müd)jen fie aus ihren Armen heraus. Elly fonnte fid) dem Reize nicht ent: ziehen, ben Annas unbefümmerte Sicher: heit aus|trabIte. Sie bewunderte bas an ihr unb fcheute fid) bod) aud) ein wenig. Ganz ohne Rüdjicht auf andere jdjien fie ihr. Mit Außerjter Natürlichkeit jtrömte fie beftändig aus, was fie empfand. Aber man fühlte dabei fein Eingehen auf einen jelbft. Reine Schonung. Gin feltiames Gefühl von Neid ents jtand in ihr. Es [chien ihr, als [tamme alles, was dieje Frau tat und fagte, aus einer freieren und froheren Welt, in der jtd) wohl leichter leben ließe, als in der gewöhnlichen, die aber für Ely verjchloffen wäre. Go wie man manchmal im Zirkus empfindet, wenn zarte Mädchen fchwere Gifentifche auf ihrer großen Bebe balan: cieren oder meterhohe Sprünge tun; oder wenn etwa ein fleiner Knabe auf der Gpige einer Menjchenpyramide, nur von feinen amet Fingern gehalten, feine Füße mit Rugeln [pielen läßt. Alles dies jcheint wie eine Überwindung von Schwere und Schwäche, die etwas Böttliches und Un- begreifliches Dat. a a8 88 Elly jap nod) bei ben Obfterinnen, als Anna aus bem Park aurüdfam. Gie jah jehr blag aus und war jtiller als vorher. Gly ließ zwei Stühle hinausbringen auf ben Rajenplak vor den nun längit erfalteten Badofen, aber [ie jelbit jaß feinen Augenblid ftill, fondern ging umber gwijden ben bis zum Rand mit Früchten gefüllten Kiepen, überwadhte bie beiden Mädchen und griff hier und da felber zu. Dean fireute zuerſt Sjádjel auf bie Bretter am Boden, dann wurde weißes Papier darüber gelegt und mit Steinen bejchwert. Schließlich nahm fie Frucht für Frucht aus bem Korbe und legte fie aus. Die geringe: ren wurden in bereitftehende leere Körbe getan. Elly legte bie Apfel, bie [faljd) jortiert waren, richtig, unb zählte eifrig bie Stüde. Sie war ganz bei ber Sache, tojig und lebhaft. „Sehen Sie, gnädige Frau, dteje Ananas: reinetten! Und hier die Goldparmdnen, mein Stolz! Und foldje Orangereinetien wie aufRothaide gibt es nicht in ber ganzen Umgegend. Rieden Cie nur!” Gie hielt dem Gajte die goldenen Früchte hin. „Alſo hat bie Sorte fid) gehalten? Ich babe jie damals von SOjtpreuBen fommen lafjen !" „Ach fo! Es ijt ja wahr!” Cin leichter Zug von Berftimmung flog über Ellys Belichtchen. Gleich aber war fie wieder mitten in Arbeit und Entzüden. „Die Cal: villen find dies Jahr wieder etwas Klein. 104 ESSSSSSSSS3S>I3H Unfjelma Heine: Uber nun kommen wir zu den Birnen. Wha! bie Bergamotten! Na, das lohnt fid) wenigjtens. Kinder, Ihr habt tüchtig gepfliidt. Aber was habt Ihr denn ge- macht? Die find ja alle unreif. Ich habe Euch bod) ausdrüdlich gejagt, bte müfjen an den Bäumen reifen. Dak mir fo etwas nicht wieder vorfommt! Nun ijt bas ge: radezu für Viehfutter! — Die Pflaumen hier bleiben für uns gum Dtusfodjen!” Anna jaB auf ihrem Stuhl und [ab ber Eifrigen nachdenklich zu. „Ich habe es nie verjucht, fo im einzelnen zu bisponieren," jagte fie zu Elly. „Wir haben immer Ver: walter gehabt, bier und zu Haufe.“ Gs dunfelte fdon, als man ins Haus hineinging. Das Abendeſſen verlief ftil. Die Kinder waren müde, Fräulein Tiede war belei:- bigt, weil der Volontdr nicht mit ihr ſprach vor der Fremden, der Inſpektor fam fpat, aß rajd) und verjchwand wieder, unb bie beiden Frauen führten, jede in eigene Ge- danken vertieft, eine [todenbe, gezwungene Unterhaltung. Frau von Weikmann er: fundigte fid) nad) ber Reife, und Frau von Beeli antwortete, erzählte einige Zwiſchen⸗ fille auf dem Schiff und jdjilberte bie Paſſagiere. Dann ſagten die Kinder gute Nacht. NMun müſſen Sie die Bimmer ſehen,“ ſchlug Elly vor. „Sie werden merken, wie gemütlich wir uns das alte Haus einge— richtet haben.“ „Hier iſt alles ziemlich ſo geblieben, wie wir es damals zuſammen eingerichtet ha⸗ ben,“ ſagte Anna in Hermanns Zimmer. Sie betrachtete lange Ellys Brautbild, das da hing, mit ſchiefem Scheitel und Locken⸗ friſur, unendlich viele Schleifchen auf dem weißen Kleide. Elly wurde rot dabei. „Ja, ſo ließ Mama mich damals gehen. Sie hatte keinen Geſchmack.“ Anna ſchüttelte den Kopf. „Wiſſen Sie, liebe Frau von Weißmann, daß Ihnen dieſe heitere Friſur eigentlich beſſer ſtand? Sie haben ein Rokokogeſichtchen, Sie haben Haar, das ſpielen möchte und ſich kräuſeln. Es würde ſogar voller ausſehen, wenn Sie es nicht ſo glatt nach hinten kämmten.“ „Ich habe ſo wenig Zeit, mich in dem Spiegel zu ſehen. Mein Mann hat die Friſur gern, und barum trage id) fie.” Cie jab jebt erit, dak Anna die gleiche Haartracht batte. Nur daß deren dichtes Haar und ihre ruhig regelmäßigen Züge freilich be|]er dazu paßten, als ihr eigenes Stumpfnäschen. Wud Ellys Kleiderjchnitt, den fie rad) Weißmanns Wünſchen be: nubte, glid) der Form, bie Anna trug. Sebt fab fie auch das. Sie gingen nun in Ellys Wohnftube, die zu gleicher Zeit als Salon Diente. Anna bewunderte die feine mühlame Petit: point-Stiderei ber jed)s großen Lehnftühle, die alle bas Weißmannſche Familienwap: pen trugen: ein ftilijierter Indianer und ein Schwert. Irgendein Vorjahr mochte lich feinen 9Dbel einmal als „Weißer Mtann” in Umerifa geholt haben. Anna entjebte fic), als fie hörte, bie Hausherrin hätte alle dieje Stuhllehnen in den erjten Jahren ihrer Ehe felber geitidt. Dann nahm fie Hermanns Photographie empor, bie auf Ellys Schreibtilch [tanb. „Alfo hat er fid) ben Kinnbart nicht wieder wadjen laſſen,“ fagte [ie befriedigt. „Solange ich thn fenne, trug er fetnen.” Gly nahm Anna Haftig das Bild aus der Hand und febte es auf feinen Plas zurüd, jo wie Kinder dem Bafte ein Spiel- zeug wegreißen: ‚Das ijt mein! Laß bie Hände davon.‘ Dann um bie unwillfür- liche Heftigleit ber Bewegung zu verdeden, nahm fie eine nebenjtehende fleine Photo: graphie in bie Höhe. „Rabot mit feiner Heinen Braut.” Sie erzählte, es fet bas jüngfte Töchterchen bes Gutsnadbars, und bie Kinder wären im Frühjahr ungertrenn- lid) gemejen. Debt hatte bas Bräutchen bie Majern, und Rabot [djidte ihr jeden Tag etwas von feinem Beete burd) die Botenfrau. „Wäre es nicht entzüdend, wenn wirflid) einmal etwas daraus würde? Alles paßt: das Alter, bie Verhältniffe. Und es ijt in biejer Beziehung bod) immer jo eine jchredliche Verantwortung mit Söhnen. Am beiten, fie heiraten früh! — Cie finden das nicht?” Jette [ie hinzu, ba fie Annas abweichende Anſicht |pürte. „Kein, ich finde das nicht.“ „Aber warum nicht?“ „Das will id) Ihnen jagen! Das ijt gefährlich. Denn es ijt wohl immer fo, daß jeder Mann eigentlich zwei Frauen haben müßte, eine erfahrene, an ber er fid) ESSSSSTZEISFZA Der.eine fat, der andre erntet. BRESeesesesss 105 bildet für feine jungen Jahre, und eine andere für feine Reifezeit, in ber er felber lehren will und bilden.“ „Aber bieje Frauen, an denen fie fich bilden‘, wie Cie bas ausdrüden, Jind bod) immer jo ſchrecklich.“ „Sind fie das wirklich immer?” Cine Art Lächeln irrte über Annas blajjes Ge- idt. „Vielleicht haben Sie jid) noch nte: mals die Mühe gegeben, fie fennen zu lernen, {rau von Weißmann? Die Ehe: frau betrachtet ja ihre Vorgdngerin unter allen Umſtänden als Feindin; im beiten Salle als verddhtlid.” - „Und find fie das nidjt? Warum [onjt — der Mann ſie nicht geheiratet ba: ben?“ Anna ſchwieg einen Augenblick. Dann in einer raſchen, unvermutet feurigen Art ſagte ſie gleichſam wider Willen: „Und Sie können ſich alſo nicht denken, daß es Frauen gibt, die einen Mann ganz zweck⸗ los lieben ?" „Zwecklos?“ „Ja. So daß ſie nicht Konſequenz und Ewigkeit von ihm fordern, ſeinen Schutz nicht in Anſpruch nehmen, ſelbſt wenn ſie kämpfen müſſen. Sehen Sie“ — ihre Augen blitzten — „ſolche Frau benutzt den Mann, den ſie liebt, nicht als Halt und Götzen; ſie verlangt keine abgewogenen Rechte, erwirbt durch ihre Liebe zu ihm keine äußeren Vorteile. Im Gegenteil, ihre Liebe muß ſtark genug ſein, um die Scham des Verbergens ertragen zu können, muß ſo rein und groß ſein, daß ſie der Hei⸗ ligung und der Erlaubnis anderer nicht erſt bedarf. Und wenn ſie fühlt, daß er frei werden möchte — und ſie fühlt das früher als er ſelber, weil ſie ihn liebt — dann übergibt ſie ihn, der mit ſeiner erſten ungebärdigen und hilfloſen Liebe zu ihr fam, ſo, wie er inzwiſchen bet thr gewor: den iſt und wie ſie ihn ſich ſelber gewünſcht hat: ein Mann, der als ein ſelbſtbewußter Sieger zu ſeiner Frau kommt, ein Freund, der bie feine, leiſe Kunſt des Beilammen: jetns von einer Rundigen gelernt hat, — dann übergibt fie ihn der anderen!” Anna war aufgeltanden von dem Stuhl, auf dem fie fid) eben niebergelajjen hatte. Gerade und [tof [tanb fie vor ber jungen Frau, die nod) immer in ihrem Erferchen jap, eine . Stufe über dem Teppich erhoben. Die Gefichter der beiden Frauen befanden jtd) nahe beifammen, faft in gleicher Höhe, Auge inAuge. Und Elly fühlte etwas Unverſtänd⸗ liches, etwas Graujames, bas ba aus dem : Mejen der Fremde hervorbrad), von dem fie jelber nichts zu willen jdjien, das nur ihre Augen verrieten. „So fage id) Ihnen: Der Wert ber Vorgängerin ijt ber Gradmeljer für den Wert Eurer Männer. Und war fie guter Art, fo folltet Ihr ihr bantbar fein, anjtatt fie zu verachten unb fie au jd)máben; denn fie ijt es, die thn bewahrt fiir Che und Baterjchaft in jener gefährlichen Zeit, da er nicht heiraten fann oder will, und dod beginnt die Frau zu permijjen in jeinem Leber. Und wenn fie dann ihr Werk an ibm getan hat, wenn er anfängt, fid) nad) ber Ehe zu fehnen, bann erfpart fie ibm beim Abſchied auch noch die entjtellenbe Gebärde der Brutalität. Eine Brutalität, die er fich jelber ſchwer vergibt und um derentwillen er manchmal feiner neuen, Heinen Frau, die jie verurfacht bat, zürnen würde. Sie redet ihm ein, daß er ja fret ijt, daß fte im glei: den Falle genau fo handeln würde wie er. Und der Mtann — glaubt ihr!” Mit ungewohnten, jelt[am fladrigen Be- wegungen ging Anna im Zimmer auf und ab. Ihr faltiges Kleid mit den weiten Armeln bewegte jid) Hinter thr wie eine graue, ſchwere Wolfe. Gly jab ihr mit aufgeriffenen Augen nad). Und auf einmal, als hätte [ie bte Stufe hinabjteigen wollen und wäre dann ab: gerutjcht, lag fie auf bem Zimmerteppid hingewunden, Gejicht und Arme auf der Erkerſtufe und weinte und weinte. Anna eilte herbei. „Was ijt Ihnen? Warum weinen Sie?” Gie verjudte die junge rau aufzurichten. Die wehrte fich, jtieg wie trobig um fid), preßte Beficht unb Körper immer fefter auf die Stufe. Stok: weile, fait heulend famen 9Inffagen von ihren Lippen. „Wenn id) das gewußt hätte. Und id) bin bod) bie ganze Beit über nur gut, nur gut zu Ihnen gewejen.“ Anna [tanb da mit ganz entftelltem Ge- ficht. „Ich wollte es nicht,“ murmelte fie. „sc wollte Ihnen nichts antun.“ Elly bob den Kopf. Sie möchte der Frau, bie fie [o fehr bewundert hatte und die jie darum in diefem Augenblid nod) viel 106 BSVSSasessosesel Anjelma Heine: BSSSSsesesssesseesss jtdrfer bapte, etwas Jagen, etwas Schimpf: liches. Und fie vermochte es nicht. „Er bat mich betrogen,“ fchrie fie laut heraus. „Wer weiß, wie oft Sie beide [id) gejchrieben haben! Liebesbriefe! Und gu: jammen über mid) geladt. Und ich!“ Ihr ganzer Körper zitterte vorWeh. „Dann ijt ja alles, was man zujammen erlebt hat, nicht wahr. Man muß alles neu benfen !^ Hilflos unb wirr jab fie zu der großen Frau auf, bie mit aujammengepreBten Händen vor ihr ftand. „Bir haben uns nicht mehr gefchrieben, “ jagte Annas tiefe, bunfle Stimme, bie immer wie ein Evangelium flang. „Seit acht Jahren find wir wie Frembe zuein- ander. Ich war die Frau feiner Jugend. Das ijt alles." Elly ftöhnte. „Ich fant ihn nie wieder: ſehn.“ Ihr Weinen erjtarb in einem Wim: mern. Cie richtete fidj auf. Mit beiden Händen wijchte fie jid) bas naſſe Belicht ab. „sch will gehen. Ich will meine Kinder nehmen und weggeben.” Anna fniete bei ihr nieder und hielt jte warm und feft in ihren Armen. In ihrer Hilflofigkeit wehrte die Heine Frau [id) nicht. Ohne es zu willen, ſchmiegte fie jich ein we: nig in bieje ftarfen Frauenarme, bie tröften wollen. „Ich muß fortgehen,” wiederholte jte babet ein paarmal, wie medjanijd). Unna ließ fie weinen. Nach einer Weile bann murmelte fie ihr Ieije gute Worte zu. „Dan fann das ja fo leicht verjtehen, fo leicht! Er hatte Angft davor, Ihnen weh zu tun; er hatte [ie zu lieb dazu. (Semi war es nicht recht. Er hätte Ihnen jagen jollen. Und ich glaubte bas ja aud) an: fangs. Gonft wäre id) nie hergefommen.” Elly fing wieder an zu weinen, jammer: voll und ftill, wie ein verfajjener Menſch. Anna half ihr in ben Lehnſtuhl, in bem [te nun weich und {don ein wenig verwundert fid) einidjmiegte, ab und zu von einem Schluchzen erjchüttert, das beruhigt Hang. Anna ging zum Fenfter und riB es auf. Ihr war, als müßte fie erjtiden. Rein und fühl fam die Nachtluft herein. Die Sterne Ichienen jebr bell. Man ſchämte jid) vor dem ba draußen jeiner verworrenen Lei: den) daft. Wud) ENy wurde von dem fühlen, be: rubigenben Strome getroffen. Sie feufgte tief, wie nad) einer abgeworfenen Lat. „Ich bin nun faft froh, daß id) es weiß. Und ich werde Hermann das fagen. Kein Geheimnis [oll nun mehr fein zwijchen uns. Gr felber hätte mir bas nie gejagt, nicht wahr ? Ich glaube, ich liebe ihn viel befjer jest, viel jchöner nod) als bisher, denn ich fühlte immer, daß da etwas Frem⸗ bes, etwas Unausgejprochenes war in un- ferer Ehe. Hermann wird fo gliiclich fein, daB ich nun weiß, denn nun fann er ja aud) gu mir von Ihnen reden, nidjt wahr? Das wird uns immer fejter nod) zufammen brin: gen. Alle drei,” fügte fie mit einer Itebens- würdigen Bewegung hinzu. Da verzog fic) Anna von Beelit’ Ge- fibt. (s faf aus, als ob fie weinen wollte oder in Lachen ausbrechen. Wieder ging jie zum Fenſter. Unbeweglid) lehnte Jie dort unb blicdte hinaus. ‚Sie ijt [chließlich Doch falt und wun- derlich,‘ entjdjieb Cy. Gorgjam faltete fie ihr feuchtes Tafchentuch gujammen und itedte es ein. | „Und nun will ich gehen,“ jagte Anna vom iyen|ter aus, immer nod) Elly ben Riiden zugewendet. „Ich glaube, id) habe bier wieder mein altes Gchidjal erfüllt.“ „Bas für ein Scidfal 2” „Alle Dinge, an die id) mich gebe, wer: den reich und geben mid aus." Es lag etwas Wehes gleidjjam zwijchen den Tö— nen, das Ellys aufgewühltes Herz ergriff. „Bleiben Cie nur,” jagte fie herzlich. „Warum follte es nicht gehen, dak wir alle drei bier zufammen wären? Jeden: falls bod) für ein paar Tage. Sie fónnten aud) die Kinder nod) ein bißchen genießen, nicht wahr? Und [páter, wenn Sie mögen, [diden wir Ihnen ab und zu Bärbel zur Gejellichaft. Das Kind hat fich merfwiirdig mit Ihnen angefreundet.“ „Ja, ja," fagte Anna medjani[d). Gly erhob fih. Sie fchämte jtd) jest des ganzen Auftritts von vorhin. Gerne hätte fie fid) wieder guriidgefunden ins Be: hagen. Die Uhr ſchlug zwölf. Clly hielt die Hand vor den Mtund; fie gähnte. Es fror [ie aud), unb fie dachte daran, daß fie morgen wieder früh heraus mußte. Anna wandte fi. „Sie haben redt, es ijt Zeit.“ Ely gab ihr bie Hand. „Ich muß nod) weiter benfen über alles,“ fagte fie find: lid. „Uber bóje bin id) Ihnen abjolut BeSSSessseSocsses Der eine fat, der andre erntet. BOSSeeceeescad 107 nicht mehr. Im Gegenteil, ich muß Ihnen danken, Sie haben mir geholfen.” Sie zün- bete ein Lämpchen an und madjte Mtiene, mit bem Galte die Treppe hinaufzufteigen. Anna nahm ihr die Lampe aus der Hand. „Nein, bemühen Sie fid) nicht. Ich fenne ja das Zimmer fo genau.“ Auf der Treppe |djien fie nod) etwas jagen zu wollen. Aber fie wandte jid) rajd) unb [teg weiter bie Stufen hinauf. Cy hörte ihr Türe droben geben. Ein kurzes Hin und Her, dann Stille. Cie felber wachte nod) ein Weilchen. Unbequem wäre es vielleicht bod), wenn fie mit der -Beelid gujammen blieben. Nicht bai fie Angjt hatte, bewahre! Die Beelitz war ja über vierzig Jahre alt! Und leid tun fonnte fie einem. Immer auf der Reife. Dann dadte fie an Hermann mit einer Glut, wie längjt nidt mehr. Cr war thr wie ein neuer Menſch feit heute abend. Etwas Bielfältigeres, Geheimnis volleres unb Snterejjanteres als der Her: mann von früher. Wenn er nur erit wie: der da wäre! Die ganze Nacht träumte fie von ihm. Heiße, [üBe Dinge! Unna Beelit von Borfe war in das lange, niedere Gaftzimmer hinaufgeftiegen, bas mit feinen altmodifchen, aus Storfin überführten Möbeln einen anheimelnden Eindrud madjte. Auf Tiſch, Kommode und Stühlen lag der Inhalt von Annas Neceflairen ausgebreitet. Lauter Funfeln: bes unb Duftendes. Gie fegte bas Lamp: den auf den Ofen und begann mit fang: jamen Bewegungen einzupaden, fait ohne binzufehen. Jeder Blak in ihren Tajchen war fdon auf vielen Reifen ausprobiert. Dann öffnete jie die Stubentür unb ging über den Flur bis zu der Bodenfammer, in der Viele [chlief. Stetratein. Es ſchlief nod) ein zweites Mädchen in bem [d)rügen, ziemlich heißen Raum. Ein Mädchen, bas Ichnarchte. 2ieje aber wurde jogleich wad), ftand auf und ging mit den nadten, Ieijen Füßen zu ihrer früheren Herrin, die ihr gewintt hatte. Ihr bider Zopf hing ihr lang über den Rüden herunter, ein warmer, junger Dunft ging von ihrem Körper aus. „Ich will fort," fagte Anna. „Kann mich jemand nad) der Station bringen? Es iit nod) dunkel.“ Lieſe jab erftaunt aus, aber jte tat feine Trage. Der lettijde Stlavengehorfam [aB thr zu felt im Blute. „Will Kutſcher jagen, daß anjpannen joll 2?” „Rein, ich möchte am liebften zu Fuß gehen. Nur irgend jemand mit einer La: terne muß mitfommen." „Deich jchnell fertig maden, weiß, wo Laterne jtebt." Anna ging in ihr Zimmer zurüd und wartete am offenen Fenſter. Der eigen: tümliche Athergeruch bes alten Hausefeus drang thr erinnerungsretd) in thre Nerven. Es war wahr: ‚ie fannte das Zimmer fo gut.‘ Ob fie es fannte! Wie oft hatte fie [id) bier hineingejchlichen, wenn broben im Sclofje alles [djlief. Und wie oft hatte jie Hier am Fenfter gejtanden und Hermann erwartet, wenn er nad) ber Kreisitadt hatte fahren miiffen und er[t mit dem Mit- ternadjtsauge guriidfam. Bom Schloß aus fonnte jie ihn nicht fommen fehen, von hier aber hörte fie jdjon lange den Tritt feines Pferdes; hart auf gefrorenem Boden, oder leije Hatjchend, wie jaugenb, auf durd): weichter Chauffee. Ste fonnte merfen, nur am Ton des Huffdlags, an der Schnellig: feit, bem Talt der Pferdejchritte, wie er an fie badjte, Ob mit Sehnſucht ober ruhiger. Und der nervife Rhythmus feines Näherlommens fegte fid) fort im Sdlage ihres Herzens. Anna trat vom enter zurüd. CEs machte fie traurig, ben feuchten, erinne: tungsreidjen Gfeuduft zu [püren, dasfelbe. Sternbild zu fehen, das ihr [o oft Gefell- Ichaft geleijtet hatte, wenn jig auf Hermann wartete, unb babet zuwiljen, bap draußen alles [till bleiben wird, zu fühlen, bap ihr eigenes Herz ganz ruhig ſchlägt. Am Spreeufer zeigte fid) jebt der Schein von Liefes Laterne. Anna griff nad) Hut und Mantel, nahm ihr Reiſetäſchchen zur Hand. Das übrige fonnte man ihr nad): idjiden nad) Königsberg. Denn jebt hatte Jie aud) bie Luft auf Berlin verloren, wo ja niemand fie erwartete. Einen Augen: blick ftand fie noch, den Kopf ernithaft ge: jenft, den Mund verzogen wie bei einem Menſchen, der Bitteres |d)medt. So einfam war fie nun. Und es war doch traurig zu denfen, daß man überall Teuer entzündet hatte, an denen fid) nun andere heimifch machten. Und wenn fie 108 ESSSSSSSSISZIZN Unielma Heine: BESGSSSsessesessesssd bann einmal Beranfam und jid) wärmen wollte, — dann war für jte fein Bla mehr da. Oder man rüdte aujammen, um ihr Raum zu jdaffen, ganz nahe aneinander und [djuf ftd fo ein neues, heißeres Glüd unter den Augen der Abgejonderten. Reife fchlich fie bie Treppe hinunter, forgfältig acht gebend, daß bie Stufen nicht fnarrten, bann nod) eine Treppe tiefer, ins Gouterrain hinab. Unten blies fie bas Lampden aus und ftellte es auf den Eis- ſchrank. Dann ſchlich fie durch die Servier: türe, bte Lieſe bereits aufgejchloffen hatte, nach dem Hof hinaus, ging um die Haus: ede herum, übergab Lieje die Tajche und Schritt [djmetgenb mit ihr durch bie Heine Zauntüre hinaus, am Borlenhäuschen vorbei, ben Badeltrand hinab. Die beiden Frauen gingen mit ebenmäßi- gen Schritten bald auf glattem Moos, bald burd) ftruppiges Heidefraut und bald über blanfen Gand. Das Wafler blinfte ſchwach, durch Röhricht und Weiden: gebüſch zu ihnen herauf. Verſchlafene Enten ſaßen im Schilf, bie bunten Köpf- den unter die Flügel geltedt. Ganz laut quaften bie Fröfche. Einmal jprang ein großer Fiſch ganz hoch in die Höhe, dak es klatſchte. Der Gerud) der Vergißmeinnicht vom Waffer her war fajt betäubend. Liefe büdte fid) bin und wieder und pflüdte irgend etwas, einen Pilz, ein Sträußchen SRreiBelbeeren, eine fpdte Erdbeere. Das Nicht ihrer Laterne bildete eine grelle, farbige Straße vor ihnen. Alles, was in den Umfreis biejes fünjtlichen Lichtes fam, jah unnatürlicd) aus und übertrieben wach, wie aus dem Schlaf gerillen. Anna jab mit erjdjredten, aufgewachten Augen, wie es von Heide, Sand und Rafen alle Schleier nahm, mit denen die milde Nacht fie um: hüllt hatte. Und wie fie |o gingen — zu beiden Seiten Dunfel, und nur flar, was bas unbarmbergige Licht betajtete — da entgötterte fid) aud) ihr bas eigene Bild, bas [ie bisher jo ſchön mit Eigenlob um: fponnen hatte. Ellys Mitleid hatte fie be- lehrt. AN ihre Freude an fid) jelber war ihr gujammengejunfen. Sie fam fid) vor wie verirrt. Jetzt war fie zur Chauffee hinaufgelangt, die fandig und breit zwilchen den Feldern lag, hellſchimmernden Haferfelder, bie fich im Gternenjchein hin und her bewegten, wie ein Meer, bagwi|djen bie runden, dunklen Häupter ber Lindenbdume. Dann Stoppelfelder, auf denen bie Morgenfonne zu liegen jd)jien und auf denen fchlafende Schafe rubten, wollig aneinandergedrängt, wie ein hellerer Teppich zwilchen bem roja Syelbfraut. Dann trat der Wald wieder näher heran; es wurde von neuem dunfler unb feuchter, und dann ja) man von brii- ben bie Reihen ber Obftäder auftauchen, Baumreihen, unbeweglich und gleichmäßig mit emporgeredten, fruchtbeladenen Zwei: gen, die gegen den Himmel eine zadige Silhouette bildeten. Anna jab nad) der Uhr. Wenn Her: mann nod) ben Abendzug benußt hatte, wie fie vermutete, würde er etwa in einer halben Stunde in den Objtfeldern jein. Dort aljo würden fie zufammentreffen. Und während fie, nun ruhiger, weiter: Ichritt, überlegte fie, was fie Jagen wollte. Cie dachte fcharf und unerbittlid) nad. Co wie man eben in der Nacht denkt, wenn man gang allein ijt und Niemand da, dem wir uns überjeben müljen, oder vor dem wir glänzen wollen. Niemand, deffen Bild von uns in feinem Innern wir nicht verlegen wollen. Niemand, deifen Gedanken über uns mitjdjmingen in un: fern eigenen. Meit drüben ratterte ein Eifenbahnzug. Mtan jah ganz fern die Lichter Durch bie Bäume fliegen. Nicht mich verlaffen die Dinge,‘ badjte Anna, ‚nein, fo tjt es nidt. Ich bin es, bie bie Dinge verläßt. Esijt, wie wenn man im Eifenbahnzuge [ibt unb bie Bäume an einem voriiberfliegen. Aber man jelber iit es, der reift.‘ Schweigend ging [te ber ſchmalen, gelben Furche nad, die bie Laterne bes Mäd- dens burd) bie unerhört dunkle Stille binburdjaog. Ihr Schleier war betaut, bas Geſicht feucht von Tränen. Da wo ein Fußweg abging, blieb fie ftehen. „Ich will hier weitergehn, Liefe, ber Weg iit etwas länger, aber angenehmer. Du fannjt mir ingwijden bie Tajche zur (tation bringen. Gleich wird bie Sonne fommen, unb ich weiß dort ein Plätchen, wo id) warten will.” Lieſe löfchte bie Laterne. Und auf einmal verjchwand bas Grelle, Lidhtbegrengte, und der hohe, jtille Wald FSSSSSSSSHSSsF Der eine fat, der andre erntet. BSSSSSSsasa 109 erhob fid) beruhigend und Heilig. Anna jtand einen Augenblid tief atmend jtill. Dann bog fie in einen nod) [djmaleren Pfad ein, jah jid) um und fand das Bant: chen unter der großen Tanne, auf bem [ie neben Duſchis Kranlenwägelchen damals gejeflen hatte, als Hermann zum erftenmal nad Rothaide fam. Hier wollte jie warten. Nun war fie allein. Gie hatte einen wundervollen Sonnenaufgang erwartet, aber gerade im Oſten hatte fid) der Him: mel mit einem gleichmäßigen Grau be: bedt, bas fid) nur fchwad) entzündete unb erhellte, jo bap man bie Sonne erjt be- reits gelb unb ziemlich Bod) zu Gelicht befam. Wher hell war es geworden rings, Tau funtelte überall, und Annas Geele Ichwieg jebt, wie ein Kind, bas nad) Trä- nen und Schauder feine Worte zu finden vermag, jondern nur ſchaut und [dut und darin Troft findet. Alle Unruhe fiel von ihr ab, und eine Klarheit, die nicht webe tat, breitete jid) in ihr aus. Ganz jtille war fie nun. — Ein Werlden noch, und fie hört Pferde- getrappel auf der Chaufjee. Sie biegt lid) vor. Ein Reiter. Hermann Weißmann. Er läßt fein Pferd im Schritt gehn, den Kopf hat er hintenübergelegt. Es eiltihm augenjcheinlich nicht jehr, nad) Haus zu fommen. Nach Haufe, wo er Anna weiß. Cie fieht ihn näher fommen und näher. Gein Gelicht, das ihr fo lieb war, fieht nachdenklich aus, etwas verlegen. Da verfteht fie, daß er fich ſchuldig fühlt. Und mit einer ganz mädchenhaften Be: wegung erhebt fie jid) und läuft zum Rand des Weges. „Hier bin ich!” ruft fie ihm fait atemlos entgegen. — Hermann von Weißmann [tubt. Cr hält fein Pferd an. Gr erkennt fie nicht im erjten NAugenblid, wie fie ba jteht, halb verborgen in den Zweigen. Dann aber Ipringt er ab, bindet das Pferd am Haupt: wege an eine Bude und fommt heran. „Wie fommen Sie hierher? Es ift bod) in Rothaide nichts pajjiert?^ (Xr ijt nod) ganz verwirrt. „Sit etwas vorgefalleu zwijchen meiner Frau und Dir?” fragt er, immer erregter. „Sie weiß nod) nichts von frii- her. Ich Hatte ihr nichts gejagt.“ „est weiß Elly.” Er erfdraf. Wher Anna befdwidtigte rafh. „Nein, jie war gut zu mir.“ Und leijer, wie zu fid) felber nur: „Sie hatte Mitleid mit mir." Er nahm ihre Hand, ohne recht zu ver- jtehen, was [ie zuihm jprach, einzig erfüllt von dem, was ihm die ganze Beit her auf der Geele brannte: „Bott. jet Dank, daß id) Dir endlich einmal jagen Tann, von ganzem Herzen lagen: Berzeih mir! Du bijt ein großer SUtenjd), Anna, und wenn ich das vielleicht nicht immer jo gewußt babe — nidjt |o bedacht, jebt werde ich — “ Sie jab ijn aufmerfjam an. „Vielleicht ilt es Dir gar nicht recht, wenn id) Deine demütige Danfbarfeit nicht annehmen fann, Hermann? Denn es liegt ja etwas Befreiendes darin, fid) an[djulbigen zu fónnen. Nicht wahr? Dan fauft jid) los damit.” „Laß uns ein wenig liben hier,“ [prad) jie wetter, da er unruhig fdyweigend vor ihr ftand. „Und laß mid) Dir alles fa: gen, was id) erlebt habe heute nacht, als id) burd) den Wald hierher ging. Weg von Deiner Frau. Denn id) konnte es nicht ertragen, daß fie mich bemitleibete. Das ijt es, was mich zuerit erjchüttert hat. Und dann, fiehlt Du, in biejer Nacht habe id) bas Geheimnis verjtanden: Der eine jit — der andere erntet! Einfach weil man fo ijt." Hermann jab fie iiberrajdt an. Gie war auf einmal jebr [djón geworden. Ganz groß unb einfad, und fie |prad) mit [tarfer, gläubiger Stimme. Go als hätte fie eine göttliche Botjchaft zu überbringen. „Du meint —“ Cr verjudte, fid) in thr zurechtzufühlen. nasa, alles das, worauf id) ftolz war, und wofür Du mid) jest lobſt, ijt wahr: Icheinlich nichts als eine jonderbare Treu: lofigfeit meiner Natur, die immer nur aus: geben will. Nichts feithalten.“ „Uber bebenfe bod), Anna, was Du mir gemejen bijt, was Du aus mir gemadt haft!” Sie jab ihn einen Augenblick ladelnd an, ganz Frau, ganz eingetaucht in Erin: nern und Verjtehen. „Ach, Hermann, daß Du Dich verwandeltejt an mir — bas war wohlnur, weil ich mirnahm, was Du nod jelber nicht an Dir fanntejt. Ic) lebte bod) die ganze Zeit vorher nur unter Kranken. Mein ganzer Lebenstrieb jtürzte fid) auf Did. Nicht weil Du mid) braudftelt, gab id), Jondern td) braudjte ein Gefäß für 110 ESSSSSZIFIE U Heine: Der eme fat, ber andre erntet. BESSSSSESSI meinen Überfluß. Alles bas hat jebt an- gefangen jid) zu entwirren in mir. Und nadjber —" Gie [ab ibn mit dem Stillen, beißen Beficht an, bas er aus vielen Liebes» jtunden fannte, mit halbgefchloffenen Augen unb vorgewölbtem Munde — „dann Her: mann — dann liebte id) Dich einfach. So wie frauen eben lieben.“ Weißmann war erblaßt. Auch in ihm war die Vergangenheit wieder jung gewor: den. Aber nicht als Erinnerung nur. Mit dem (eufaer eines Menjchen, ber dürltet, legte er den Arm um Annas Schulter und rubte feinen Kopf an ihrer weichen Bruft. Co lag er eine Weile und blidte mit offe- nen träumenden Augen in bie Wipfel ber Bäume. Anna regte ftd) nicht. Cs war, als gónne fie der Stunde, was man ihr nicht ohne Roheit hätte entreigen fónnen. Aber es lag etwas von mütterlicher Dul« bung inihrer Haltung. Nichts von Leiden: (daft und Hingabe. Das war nun aus. Abgeblüht für fie. Ein welter Kranz, der fein Begehren mehr wedt, auf ben man mit Lächeln unb mit Tränen jdjaut in den Zwilchenaften des Lebens. „Warum bift Du von mir gegangen, Anna?“ murmelte Hermann. Und es war feltjam, wie die Trage, bie er richterlich unb zornig hatte jtellen wollen, nun fid) in bie Klage eines Siebenben verwandelt hatte. „Warum tatejt Du das? War das wirflid) grau: jamjte Selbftverlengnung ?" „War es bas, Hermann? ch habe es lange geglaubt, ‘aber id) bin jo zweifelhaft geworden in alledem. Ach, Hermann, war es nicht, weil ich es nicht ertragen fonnte, jeden Tag wieder mit Dir über Elly Krey zu reden?. Zu fühlen, daß fie Dir mehr wurde und mehr?” „Aber, wenn Du geblieben wäreft, Anna —” „Ic weiß, ich hätte Dich halten fónnen. Und id) bin die ganze Beit über febr [tola gewejen darauf, daß ich fortgegangen bin. gortgegangen, damit Du fret werden foll- teft von mir. Sd) babe ja auch wirklich viel gelitten. Die erften Jahre befonders waren ſchrecklich für mich. Ich lief ruhe: los von einer Aufgabe zur anderen, um mid) zu betäuben. ,€s ijt wohl bod) ver: meſſen, Schidfal [pielen zu wollen,‘ jagte ich mir. Bis endlich bann, im dritten Jahre, Dein Töchterchen fam. Und bann, bann Hatte Hermann Weißmann feinen Sohn, feine Zufunft. Ich habe aud) viel gelitten in ben lebten Stunden, Hermann. Schon allein die Kinder zu jeben, Deine Kinder, die nicht meine find.“ Er ftreichelte mit bebender Hand ihr Geſicht. „Siehſt Du, ich hätte Dich ja damals halten können, mit einer einzigen Bewe⸗ gung meines kleinen Fingers. Aber, Her⸗ mann, das iſt es eben: Ich habe es nicht wollen können. Ich kann nicht kämpfen um das Meine, ich kann nicht feſthalten. Was Luſt hat zu entgleiten, laſſe ich los und glaube dann, ich hätte geopfert. Mir fehlt die geduldige Selbjtverleugnung, bie fid) hundertmal nieberbeugt, um einzujam- meln. Das habe id) heute gelernt, als ich bei Deiner Frau war und ein Stüd ihres fleißigen Tages mit anjah. Sie verfteht zu ernten, gu ordnen und zu nüben, id) fann nur ausftreuen, mid) verjchwenden. Uber weißt Du, Hermann, id) flage nidjt mehr an. Das ijt vorbei. Nicht andre unb nicht mid) jelber. Und ich glaube bet: nah, bie ganze Lebensfunft bejteht darin, dak man zuleßt endlich lernt, fid) jelber zu verzeihen, wie man ijt." Leije vibrierten bie Worte, die fie ſprach, burd) ihre Bruft und drangen fo hinein in ben Herzichlag bes Mtannes, der an ihr lehnte, laufchte und träumte. Endlich er: bob er jid). Ihm war, als hätte Anna thm wirklich ein Geheimnis enthüllt, ibm den Schlüſſel in bie Hand gelegt für alles un- begreijfid) Unguldnglide. Er wiinfdte, fid) biele Klarheit, bteje Überlegenheit be: wahren gu fónnen, aber er wubte, ber Tag würde fie thm verflüchtigen. „Und bann dürfen wir wieder zu Dir fommen," jagte et jcheinbar zufammenhanglos, „und uns in den Sonntag heben laſſen.“ Cie [ab zu ihm auf, ber vor ihr jtanb, braun und elajtijd) und wie zum Sprunge bereit. „Du fommit mir vor wie der Rit: ter," jagte fie Iad)enb, „der von weiten Reifen hetmfehrend, ein wenig jehnjüchtig, ein wenig bange an der Schwelle jeines $jaujes zögert, das helle Fenſterchen an- idjaut, hinter bem all fein liebes Alltagss glüd auf ihn wartet, und fid) nod) einmal bebadjtlam nieberjebt, um fid) aurüd3u: träumen in all bas Buntere und Kühnere von unterwegs.“ BSSSSSISSSITFZN Will Vesper: Gr füpte thre Hand. Schweigend faßen fie dann eine Weile beijammen, als hätten fie fid) gar nidts mehr zu jagen. Die Sonne |djien, bie Bögel fingen an zu fingen, unb alles duftete ringsum von Kraft und Friſche. Anna fing an von Praktiſchem zu reden. Davon, dak Hermann jebt bald jem Geld in die Hand befam und daß aud) fie es deshalb richtig für ihn fände, die Pacht nicht zu erneuern, fondern gleich fein Leben einzu: richten, wie er es bis in fein Alter hinein führen fónnte. „Es ift aud) bejjer für die Kinder. Sie haben bann nahe nad) Frank: furt zur Schule.“ Klar und ruhig begeg- neten fid) ihre Blide. Keine Bitterleit, feine Verlegenheit zwijchen ihnen. Hand in Hand, wie zwei Kinder, bie fid) wieder: gefunden haben, gingen fie den Fußweg zurüd, bis zu der Stelle, wo Hermanns Pferd angebunden [tanb und in den Mooſen grajte. Dort trennten ſich ihre Wege. Ohne Abſchiednehmen faſt gingen fie voneinander. AS DSPs DSSS SPS SSS Ss SSS =>2>-2>2>2>2>2>2>2>2>2>2>2>2>2>2>2>2>2 > 2225225 25^ 2) L] h 4 +? ^ Sahresiprüde. Silvefter: Giner Schlange, bie fid) in den Schwanz beißt, Gleidjt das Leben, und des Jahres Glang gleiBt Immer wieder, und der ewige Kranz reißt Nie. — Es ift bir dienlich, wenn du ganz weißt, Daß dein Abjchied nicht ber Schluß vom Tanz heißt. Aſchermittwoch: Die Schellen, die geklungen, Die Schellen ſind zerſprungen. Der Narr an ſeinem Glücke Leimt weinend Stück zu Stücke. Dezember: Wenn Sturm und Schnee am Fenſter um die Wette Wie Katzen balgen, lieg' ich gern im Bette, Und von der Decke ringelt blaue Kette, Halb Traum, halb Rauch erloſchner Zigarette, 4 Und Träume und Gedanken ziehen heiter vi Sich auf und nieder an der [uftigen Leiter, Will Besper. Jahresiprüde. BSSSSSSS334 111 Hermann [ab ihr nad, wie fie mit wind: bewegten Kleidern groß und erwartungs- voll in den Morgen hineinwanderte, mit fichern, regelmäßigen Schritten. Ihre Ge- ftalt hob fid) feltjam hoch ab in der flachen Landjdjaft, von den bradjigen Feldern, zwiſchen denen jie ging, und von bem Del: len, nun ganz reinen Himmel. Ab und zu bob und fentte jid) thr Arm, um den wehen- den Schleier feitzuhalten. Für ben auf: merkſam Hinüberjpähenden aber machte es den Eindrud, als jd)ritte ba zwilchen den wurden eine große fäende Frau, bie in die gerne Dineintpanberte. Langjam, lang: jam verjdjwand fie zwilchen ben Feldern. Hermann wandte fid. Gr blickte nad) Rothaide hinüber, def: jen Schloßgiebel burd) bie Bäume Iugten. Er badjte an Elly und daß es nun flar war gwijden ihnen, Har und warm. Mit glücklichem Belicht [chwang er fid) auf bas Pferd und ritt nach Haufe. Ganz befreit und dankbar. SIESEIESESSSESESEIE 1$33£34333333333G)3GGGOG GG GGGIGGGGGO SCR F< SSE Een > < Se [12124949£(19€(3433(3(333334343343333934334334333333933343393333233333233323333923332:3333418 (2 R 2i Ü N Sahreswende. Bon E. — —A —— = J L en — C — <= pom —— Hans Caspar Starken. Wir hatten ſo viel von ihm gehofft, Vom alten Jahr — nun iſt es dahin! Es war wie ſo oft: Schmerzen ſtatt Freuden, Verluſt ſtatt Gewinn, So furchtbar viel Schatten, So wenig Licht, Was wir zur Wende im Traume geſehen atten, pa - — SS A un u _ —— = ITA m, qu. - Ld — = EEE a er va ne sm ran — <= Es wurde uns nidt; Gs blieb uns ein Wunſch — ein Traum! Dod wir fühlten es faum, Denn wir fteigen auf unferer Lebensletter Bon Sproffe zu Sproffe und hoffen weiter... Nur Narren Glauben, daß alles Hoffen und Harren Vergeblich, tórid)t und tindlic fet... Laßt uns die Hoffnung! — Ift fie dahin Dann ijt es vorbet, Dann ift bas Leben aud) Narretei Und ohne Sinn. j Dod) fo lange wir hoffen, b Vom Jahr zum Jahr, Vom Frühling zum Sommer, vom Sommer zum Winter, Co lange [teen die Tore nod) offen, Und ganz ferne dahinter Weit, weit zurüd Liegen bie Träume, wohnt unjer Blüd. N Dod) über Dem Tore wunderbar MAI f Stehen die Worte in leuchtenden Zeichen: YılYııY „Ihr werdet’s erreichen.“ ENET- we > Darum haltet bie Herzen weit, weit offer Sum neuen Jahr Und laffet uns hoffen. — wno °° ——— De ee —— - on N —— - Ca» IE STA | X Lam —————S——————d/"Hm————————————————————————— A à pu— — € Ü——— ——— —— U FI Pen nm ln Be nnn nnn eee ee id ae C MC M ee eee ee ee eee ee ae ~ " Ban FEIERN. PM P 0 ED 6 cqE» 0 ug» Odi)» 0G 0 AE 6 AS 6 AE 9 ED P BP O ES 0 AS 0 GP D SHE 0 SH OAS OSS OES T EZ »: 9 73 d Su M » x, we L4 > ES E P e, u— 9 du CEE o get «ER» 0 ED O «MD» 6 SD 0 GD O I «QU» O AE DI -QU- O «BB» c AP > IT OE DT OP 0 29 OE ORO gue 0 ene 0 appe Q uq o QR O OP 6 DI GSO «AP 0 SSE 0 «REP O APS DI EE 0 9 ED > O DE AS O I SS O SS D ede 1 APS IES 0 «PE IGP o n Abend. Marmorrelief von Emil Epple. OA 0 SR 6 ee ae AO 0 anie 9 AR O wd» O hue 0 HE 9 AS 6 AEP C3 Be 6 aU 0 AI O GD 9 GE 0 a 0 üt 6 De 6 He D AS 6S pt It MS 06 Ee OG dq ee BD 3 BE 6 DH 0 «M o der SS 6 et AS 0 GW D REOR O ES 0 AD OAS O IE OO QS FAH 0 AS 6 AP O SS OAS O IS Q AS OS D che O ad e O dE 6 AES Donner und Doria. Von 95. Horjtel in Genua. Andrea Doria unb Gianettino, JM 3 durch dejjen gefliigelt geworde: A nen volltönenden Gefiihlsaus- mas Ww brud) „Donner und Doria” mit jetner ſchönen Wlliteration Schiller unjern Cpradj|dja& bereichert hat, Jowie Gian Luigi Fiesco find uns burd) unjers großen Dichters Drama Syugenbbefannte; bod) ijt naturgemäß aus Wahrheit und Dichtung gemi|djt, was wir von ihnen gehört haben. Denken wir nur an den Tod des Fiesco! Kein dramatijdher Dich: ter fonnte bas Trauerjpiel mit dem aller: dings tragijchen Unfallendenlafjen, ber dem Gian Luigi durd) das Abgleiten des von ihm betretenen Brettes von der Galeere den Tod bradjte. Diejes unbotmäßige Brett paBte nicht auf die Bretter, welche die Welt bedeuten, und höchitens für ein Üüberbrett’Ijtüd wäre ein jolches Fiasco des Fiesco und ber Abſchluß brauchbar: „Jun, wenn das Brettel fällt, muß aud) der Herzog nad.” Schiller jelbjt jagt bar: über: „Die wahre Sata|tropbe des Romplotts, worin ber Graf durch einen unglüdjeligen Zu: fall am Biele feiner Münjche zugrunde geht, mußte durch— aus verändert wer: den, denn die Ratur des Dramas duldet den Finger des Un: gefährs oder der un: mittelbaren Bor: jebung nidt. Cs jollte mich fehr mun: Dern, warum nod fein tragi|d)er Did) ter in biejem Stoffe gearbeitet hat, wenn id) nicht Grund ge: EM - — — haben ſich die Geſchichtsſchreiber mit Gian Luigi Fiesco beſchäftigt, und da ein Erfolg ſeiner von Frankreich und der franzöſiſchen Partei in Italien geſchürten Verſchwörung eine politiſche Umwälzung zugunſten Frankreichs nicht nur in Genua, ſondern in Italien nad) fid) gezogen haben würde, nahm aud) das damalige Europa ein großes Intereſſe an diefem mit anjcheinend lächer: lid) geringen Mitteln gewagten Unter: nehmen, das fid) auf den erjten Blic nicht im mindeften von manchen anderen gamilienfámpfen um die Macht in Ge: nua unterjcheidet. Die genuefifden Ge: \chichtsichreiber geben aber im großen und ganzen fein wahres Bild jener Vor: gänge; die älteren, weil fie abhängig find von der herrjchenden Doriapartei, die neueren, weil [ie nur mit dem Auge bes Demokraten und Frangofenfreundes zu jeben vermögen. Heute haben fid) bie Archive geöffnet, jo dak man ein un: parteiijcheres Urteil gewinnen fann. Ih erfülle hiermit eine Pflicht der Dankbarkeit, wenn id) bie mir bei met nen Studien bird) Herrn Marcheje Giujeppe Peſſagno, Archivar desStaats: ardivs in Genua, zuteil gewordene liebenswiirdige Un: terftiigkung hervor: bebe. — Andrea Doria jtammte aus einem bis dahin weniger hervorgetretenen Sweige der berühm: ten Doriafamilie, E , . J 1LL ; “4 nug in eben Diejer undramatijchen Wendung fände.” Um [|o eifriger Der nad) ber Voltsiiberlieferung aus den Steinen des nad) ber Verſchwörung zeritörten Fieschipalaſtes erbaute Dot in Dem jid) heute bie Dienftraume des D utigen Generalfonjuls befinden. — ie von Karl Schmolz in Genua. Velhagen & Klaſings Monatshefte. XXIV. Jahrg. 1909/1910. II. BD. unter deren Füh— rung die Flotten Piſas und Venedigs beſiegt worden wa: 8 114 peSeeeeeeeee—--) 35 Hörſtel: — -— Wo Uum «ee u; — Der Palazzo Doria in Genua, zur Zeit der re, von Andrea und Gianettino bewohnt. Aufnahme von Hofphotograph F. ren und die für Genua eine ähnliche Bedeutung hatte wie für Rom die Ya: milie der Scipionen. Der Mame bes Gefdhlechts fnüpft jid) nod) heute an manden Bau, von denen neben den Genuejer Paläſten als bie be: fanntejten die Burgruine Dolceacquas unb die Doriagruft aus bem XIII. Jahr: hundert in St. Frut: tuojo erwähnt feien. Andrea hatte jid) nacheinander im Dienite bes Bapites, Neapels, vor allem aber im Dienjt der Republif Genua als Seeheld ausgezeid): net, batte bas Meer, wie Arioſt rühmt, von Sorjaren ge: jdubert und war, als in Genua wie: der einmal die ihm verhaßten, |panijd) geſinnten Adornians Ruder kamen, mit ſechs Galeeren der Fiſcher in Genua. ner dem am Golde hängenden, nach Golde drängenden genueſiſchen Admiral die ver— ſprochenen goldenen Berge vorenthielt; womit der Wettſtreit Spaniens und Frank— reichs um die Vorherrſchaft in Italien zugunſten des erſteren entſchieden war. Nad Vertreibung ber franzöſiſchen Be: ſatzung gab Andrea Doria im Jahre 1528 ſeiner Re— publik Genua eine oligarchiſche Verfaſſung, die Schiller ihn das ſchönſte Kunſtwerk der Regierung nen— nen läßt, das er ſelbſt den Genueſen vom Himmel geholt habe. Dadurch wurde die ſeit 1339 beſtehende Volks⸗ herrſchaft beſeitigt, und die Leitung des Staats den Patri— ziern zurückgegeben; doch fügte Andrea den damals nod) be: aa Republif zu rang I. jtehenden 24 alten übergegangen, Familienverbänden ſpäter aber ebenſo vier neue hinzu und miteinigenGaleeren — . —— T 60 gab außerdem durch Portal des Andrea Doria von der Republil ge: des Königs zu Rai: jer Karl V., als je: ſchenkten Palajtes an der Piazza di C. Matteo. Aufnahme von Hofphotograph F. A. Filcher in Genua. tragung von zehn die jährliche Ein: SESS SL ISIS SSIS ISIS era neuen Namen in das Goldene Buch den hervorragenden Familien des Volks die Auslicht auf die Aufnahme in die herrjchende Klafje. Er jelbjt lebte in Genua als ungefrönter Fürft, als faiferlicher Ad: miral und Minijter für Italien, mit Gold und Ehren überjchüttet. Man nannte ihn „Befreier der Republic” und „Bater des Vaterlandes”, gab ihm als Ehrengejchent jenen Palaſt mit dem vielbewunderten Portal auf der Piazza bi Gan Matteo, gab ihm den Ehrenplaß neben bem Defan der Senatoren und ftellte [don bei feinen Lebzeiten fein von Mtontorjoli gemeißel- tes Marmorjtandbild im Dogenpalaft auf. Und wie ein König wohnte Andrea, der zwei Fürſten im Neiche ber Runjt: Mon— torjolt und Pierin del Vaga, einen Schüler Raffaels, berufen hatte, ihm ſei— nen 5Balajt am Hafen umzubauen und zu [d)müden. Als „jein Mtaujoleum, feine einzige Pyramide, in einem halben Jahr: hundert jorgjam zujammengefügt”, läßt Schiller ihn bie Liebe ber Genuejen be: zeichnen. Gr war biejer jo ficher, daß er ohne 9eibmadje jchlief und auf bie Warnung Gonzagas, des Faijerlichen Gouverneurs von Mailand, vor den Um: trieben ber Fiescht am franzöſiſchen Hofe Donner und Doria. Andrea Doria als Neptun im Garten des Palazzo Doria. Wufnahme von Hofphotograph iy. 9L. Filcher in Genua. 2s Ic I I I ZI 115 erwiderte: „Solange ich Iebe, ijt feine Ummwälzung zu befürchten.“ Aber die Unzufriedenheit mit feiner Staatsordnung, bie der bis dahin von Barteifämpfen durchwühlten und zerrij: jenen Republif eine wohltätige Ruhe gab, \chlich nicht nur unter einigen einjt mad): tigen, nun aber von der Regierung aus: gejchlojjenen Familien des Volfs, Jondern aud) unter den neuen PBatriziern umber. Sie ftanden den alten Gejdjledjterm wie ein feindliches ager gegenüber und jud ten, da dieſe mit Andrea zum Kaiſer Diel- ten, ihre Stüße in Frankreich, bem jeder 8 Aufruhr ein willkommenes Mittel war, den kaiſerlichen Einfluß zu brechen und die alte Macht wiederzugewinnen. Die Unzufriedenheit wurde noch ge— ſchürt durch das mehr ſpaniſche als genue— ſiſche Auftreten Gianettino Dorias, des Adoptivſohnes und Vetters des Andrea, der zur Zeit der Verſchwörung des Fiesco bereits das vierzigſte Lebensjahr über— ſchritten hatte. In ſeiner Jugend hatte er Seide gewebt, ſpäter aber auf den Galeeren des Andrea einen löwenkühnen Mut bewieſen und ſeine reichſten Lor— beeren durch einen glänzenden Sieg über den gefürchteten Korſaren Dragut ge— 8* 116 BeSSesseissssesssssessse] W. Höritel: erntet, ben er gefangen nad) Genua ge: Ichleppt hatte. Der jähe Auffchwung zu Ruhm, Macht und Reichtum war ihm zu Sopfe gejtiegen, und herrifch war fein ganzes Auftreten geworden. Bon ber jüngeren Generation ber alten Patrizier als die aufgehende Sonne umjchmeichelt, wurde er von den neuen gebapt, und allgemein witterte man in ihm nicht nur den Erben des Reichtums, des Womiral- tabs und der Macht des Andrea, fon: dern ben fiinftigen Tyrannen Genuas unter |panijdjem Schuße. Auf diefem Boden waren daher Ver: \hwörungen gegen Andrea Dorias Staat und Familie in damaliger Zeit das Na: türlid)ite von der Welt. Die gefährlichite aber war die bes Gian Luigi Fiesco. Er entitammte der wahrjcheinlich langobar: dijden Familie ber Grafen von Lavagna, bie ſchon im XI. Jahrhundert an der Riviera di Levante zu großer Macht ge- langt waren und, nachdem die Gemeinde Genua fie im Jahre 1198 gezwungen hatte, ihre Bürger zu werden und in die Stadt zu ziehen, fid) mit ihrem Taten- drang und ihrer Unruhe in die inneren Kämpfe warfen. Mit den Grimaldi ftanden fie an ber Spike ber Welfen, während die Doria mit den Spinola die faijerliche Partei leiteten. Die Doria führten ben ſchwarzen Adler im Wap— pen, bie Fieschi bie Papitmüge, und ihr nach Torriglia benannter Zweig, dem Gian Luigi entjproß, wählte fic) außer: — — 8 Fieschiburg in Torriglia, nach der phd i eset zeritört. Aufnahme von Julius Haag BSSssssssssssessd dem eine Rage, ben in Genua am metrjten geliebten Bierfüßler, zum Wappentier. Mit Recht läßt Schiller Gian Luigi zu feiner Leonore jagen: „Zwei meiner Ahnherren trugen die dreifache Krone”: es waren die Päpſte Innocenz IV., ber Feind Raijer Yriedrihs IL, und Hadrian V. Der Großvater Gian Luigis war mit fran: zöliicher Hilfe wieder in den Belit feiner 33 Burgen gefommen, hatte die Republif unter den Schu König Ludwigs XII. gejtellt, von diefem den Orden des Dei- ligen Michael und jährlich 6000 Skudi erhalten und die Ehre gehabt, den König in feinem herrlichen Palajte auf dem GCarignanohügel zu beherbergen, ber bem König ben Wusruf entlodt hatte: „Die Paläjte der Genuejen [inb ſchöner als mein Königsſchloß!“ Gian Luigis Vater Sinibaldo durch: brach bie Überlieferung jeiner Familie: er wurde Ghibelline, weil bie mit fran- zöliicher Hilfe in Genua herrjchenden Fre: goji einen feiner Brüder ermordet hatten; \päter aber hielt er zu Andrea Doria, als Diejer bie franzöliihe Bejagung aus Genua vertrieb, und opferte aus jeinem Reichtum für ben befreiten Staat. Arioft erwähnt ihn in feinem „Rajen: den Roland“. Nachdem er mit fürft- lihem Aufwand in ber jyamiliengrujt im £orengobom beigejebt war, zog jeine Witwe, Maria bella Rovere, eine Nichte bes Papftes Julius II., nad) der Wpennin- burg Montoggio, wo unjer Gian Luigi im September 1522 das Licht der Welt , erblidt Hatte. — Gr | wurde nicht nur in den Waffen, jonbern aud) in den Willen: \haften unterwiejen, und als er 18jährig nach Genua fam, ge: wann er durch feine Schönheit und Lie: benswürdigfeit im Fluge die Herzen. Nun galt es, eine Gattin für ihn zu finden. Cajont erzählt in jeinen Annalen, als ſolche fet ibm Bi: G3 netta Centurione be ESSISSIIIITITIIIZI fttmmt gewejen, aber der reiche unb mächtige Gbibelline Adam Centurione habe auf Andreas Wer: bung hin fein jchönes Töchterlein dem Gianettino zur Gemahlin ge: geben. Gian Luigi führte die junge ſchöne Leonore Cibo aus der Fa— milie der Markgrafen von Maſſa heim und lebte mit thr in glüd- licher Che. „Da er nod) tesco war," läßt Schiller fie ihren Rammermädchen gegenüber |djmermütig |chwärmen, »dabertrat im Pomerangenhain, wo wir Mädchen lujtmanbelnb gingen, ein blühender Apoll, ver: idjmolgen in den männlich) jdjónen Wntinous. Stolz und herrlich trat er Daher, nicht anders als wenn das durchlauchtigſte Genua auf feinen jungen Schultern jid) wiegte ; unjere Augen jchlichen biebijd) ibm nad) und zudten zurüd, wie auf dem Sirdjenraub ergriffen, wenn fein wetter: leuchtender Blick fie traf! Und nun mein ihn zu nennen! Berwegenes, entjegliches Glück! Mein Genuas größter Wann, der vollendet |prang aus dem Meißel ber unerjchöpflichen Künjtlerin, alle Größen feines Gejchlechtes im ItebItdjjten Schmelze verband.“ (Cie fann in ber Tat |o ge: \hwärmt haben, denn fie machte Berje, von denen einige 1573 in Turin gebrudt worden find, und ihr Fiesco war gewiß der ſchönſte Jüngling Genuas. Wenn er auf reich geſchmücktem Pferde in fónig- licher Haltung durd) bie Straßen ritt, blidten alle Augen auf ihn, und von allen Seiten flogen ihm Grüße zu, bie er liebenswürdig erwiderte. „Ich jah ihn durch bie Stadt galoppieren,“ berichtet die Bella ihrer Herrin Leonore; „nie jab id) unjern gnábigen Herrn jo jchön. Der Rapp prahlte unter ihm und jagte mit hochmütigem Huf bas andrängende Volk von feinem fürftlichen Reiter.” Aber feine Klugheit und fein Ehrgeiz waren nicht geringer, als jeine Schönheit und Seutjeligfeit, und als ber Machthunger und der Neid gegen Gianettino in jeine Bruft gefallen waren, bewies er ein Schau: fpielertalent, bas jeinesgleichen judjt. Nad dem Beltändnis bes mitver: Ichworenen Notars Sacco wurde er in Donner und Doria. BSSSSZ3I3Z333Z3I 117 Die Sortafirdje (Dr — Matteo), in be Gianettino und beigelegt wurd Photographie von Sciutto i ‘Genta; Rom durd) Papjt Paul III. und bie Kardinäle Farneje und Trivulzio für den Plan gewonnen, mit Hilfe Frankreichs unb bes Neffen des Papſtes, bes Herzogs von Piacenza, bie Herrjdaft der Doria und Spaniens in Genua zu jtürzen; er jollte die Republif dann unter dem Schuße Frankreichs regieren, dejjen König ihm durch Orden und Jahrjold danken wollte, wie Ludwig XII. einjt jeinem Großvater Gian Luigi gedankt hatte. Vorher hatten freilich [djon Berhandlungen mit Fran: reich durch Vermittlung Pier Luca Fiescos jtattgefunden. Der in Rom vereinbarte, in Piacenza vollzogene Anfauf der päpitlichen Ga: leeren und die Ausrüjtung einer derjelben durch Luigi fonnte feinen 93erbad)t er: regen, ba jchon früher ein anderer ($e: nueje jid) um jene Schiffe bemüht hatte, unb bie Wusriijtung von Kriegsjchiffen durch Patrizierfamilien in Genua alte Gitte war; außerdem aber ging Fiesco Tag für Tag im Doriapalajt am Ha: fen ein und aus. Gr erwies dem alten Andrea, dem Freunde jeines Va: ters und [einem eigenen Gönner, ber Vater und Sohn die Failerliche Beſtä— tigung ihrer Lehen erwirft hatte, find- liche Verehrung und Zuneigung und ver: fehrte aud) mit Gianettino auf freund: \chaftlichem Fuße. 118 besssSocssssssSsaq] 3». Hirjtel: EICH HH — Der Dom (San £orenao), in bem bie Vorfahren Gian Luigi Fiescos beigejegt wurden, während feine Leiche ins Meer verjentt wurde. Photographie von Sciutto in Genua. Mit Berrina, Sacco und Calcagno, deren Namen wir von Jugend an fennen, beriet er die ihm in Rom gemachten Vorichläge und ging dann ans Werf, bie neuen Patrizier und das Volk auf jeine Seite zu ziehen. Mit dem Zauber jeiner Perjönlichfeit und mit offener Hand bublte er um bie Volfsqunjt. Wlan er: zählt, er habe von der Höhe der beiden Türme [eines *Balajtes um die Abendzeit nad) den Volfsquartieren aus|páben lafjen, um in bie Hdujer, deren Schorniteine nicht rauchten, Unterjtiikungen zu jenden. Tatjahe ijt, daß er ben Konjul ber Seidenweber in feinen Palaſt entbieten und jid) von ihm über die Damals trau: rige Lage diejer einjt blühenden Zunft berichten liek. Er zeigte tiefes Mit: gefühl mit den Bedrängten und [penbete den ibm genannten bedürftigjten Zunft: genofjjen mit der Bitte um Verjchwiegen: heit Brotforn in Fülle, das für ihn zus gleich Gaatforn war, aus dem der neue Herr und Herzog Genuas hervor: gehen jollte. Nachdem jo außerhalb wie innerhalb der Mauern alles für Dieje Ernte reif war, wurde die Nacht bes 2. Syanuar 1547, eines Sonntags, zur Ausführung des Wagniſſes gewählt. Im Laufe des Tages famen Durd) bie verjchiedenen Stadttore aus ben Fieschi— burgen mehrere Hundert Soldaten einzeln und in lei: nen Gruppen, als Bauern und Hirten verkleidet, man: che aud) in Ketten als Ga: leerenjträflinge. Ihr Biel war neben ber Galeere Gian Luigis defjen Palaſt auf dem Carignanobiigel. Am Nachmittag ritt Fiesco nad) dem Palazzo Doria, wo gerade Yiqueroa, der faijerliche Vertreter bet der Republif Genua, bem An: drea eine Warnung Gonza— gas vor einem jungen Fiesco überbrachte. Als der jo Ber: dächtige mit Jonnigem Lä— cheln in der Tür er|djien, flüjterte Andrea dem Warner zu, er möge jid) mit jeinen eigenen Augen überzeugen, daß biejer heitere und ſorgloſe Jüngling eines fo ſchwarzen Verrats unfähig jet, und Gian Luigi lieferte denn auch durch jeine Ehr: erbietung und Zärtlichkeit den Beweis, daß er den Grets wie einen Vater liebe. Dann ging er in Gianettinos Gemádjer, ihm zu erzählen, daß er nun aus jeinen Burgen die nötige Mannſchaft für jeine Galeere herangezogen habe, die gegen die Türfen freuzen und nod) in ber fom: menden Nacht die Anker lichten folle, wobei es wohl nicht ohne Geräuſch ab- gehen werde. Er fügte die Bitte Hinzu, jein Fürjprecher bet Andrea zu fein, damit biejer der Ausfahrt des Kriegs: \chiffes aus bem ihm unterjtehenden Hafen feine Hindernijje bereite. Und Gianettino Ichrie nicht: „Donner und Doria”, jonbern verjprad) ihm jeglichen Beiltand. So SS S555 5555555555 5>5>>>>3. Ichteden |ie wie zwei gute Freunde, und als bem Fiesco bie beiden Cóbndjen Gianettinos, Gian Andrea und Pagano, in ber Säulenhalle bes Palajthofes ent: gegenjprangen, nahm er fie auf den Arm und füpte fie zärtlih. Wer hätte ahnen fónnen, daß es Judasküſſe waren? Gianettino aber befiegelte fein eigenes Verderben, indem er den ohnehin ver: trauensjeligen Andrea beruhigte, als die Meldung einlief, es hätten viele Solda- ten beim Appell gefehlt, und durch Nach: forjdjungen wäre fejtgejtellt worden, daß jie im Fieschipalaft jeien. Nachdem fid) Fiesco fein Opfer im Doriapalajt gejichert hatte, ritt der Treu: loje zu Thomas Aljjereto, wohin bird) Verrina etwa dreißig ber neugebadenen Patrizier gujammengetrommelt waren. Er [ub fie zum Wbendejjen in feinen Balaft, wo er den Überrajchten dann feinen Plan enthiillte, wie es Schiller gejchildert hat. Dieje Szene war ja aud) [o dramatisch, daß fie nicht vieler Ergänzungen be: durfte. - Den Auftritt mit Julia freilich hat der Dichter aus feiner Phantaſie ge: \chöpft, in der bieje Schweiter Gianettinos T P | | | | * 8 Donner und Doria. Portofino. Ehemalige Benediktinerabtei mit Grabkapelle der Dorias. Photographie von Sciutto in Genua. BRA 119 und der Mohr, der ſeine Arbeit getan hatte und gehen konnte, ihren Urſprung haben. Auch war Fiesco nicht in der Lage, eine Liſte der von Gianettino dem Tode Geweihten vorzulegen; dagegen be— hauptete er, Beweiſe zu beſitzen, daß Gianettino ihn töten laſſen wolle. Aus den Armen ſeiner Leonore, die, ſeine Kniee umklammernd, ihn anflehte, von dem — ihr erſt jetzt enthüllten — Plane abzuſtehen, riß ihn Verrinas Meldung, daß alles bereit ſei. Leonore teilte nicht ſeine Zuverſicht, der Schiller ihn Ausdruck geben läßt mit den Worten: „Gehen Sie zu Bette, Gräfin, morgen will ich die Herzogin wecken!“ Ihr ſagte eine Ahnung, daß fie bet Tages: anbruch nicht die mádjtigite, |onbern bie unglüdlichjte Frau Genuas fein werde. — Die Verſchworenen gingen nun an bie Ausführung ber ihnen zugewiejenen Rollen. Verrina jollte mit ber Galeere die Aus» fahrt ber Darjena verjperren, in ber die Schiffe der Doria abgetafelt und mit \hwacher Bejakung im Winterquartier lagen. Dann follte er durch einen Ranonen- \huß das Signal zur Bejeßung der bei nz 190 BESSSSSESS SEES SS See den wichtigjten Stadttore und zum An: griffe auf bie Darjena vom Lande her geben. Es verging aber lange Zeit, bis der Schuß erjchallte, denn die Galeere war auf den Sand geraten, und es hatte viele Mühe gefojtet, fie wieder flott zu machen. Inzwijchen war das Andreas: tor ohne Schwertjtreich genommen, und nun wurde aud) das tapferer verteidigte Lhomastor von Gerolamo und Ottobuono Fiesco, den Brüdern Gian Luigis, bejebt. Von dem nächtlichen Lärm ermadjt Gianettino, und in der Annahme, feine Nuderfnechte jeien im Aufruhr, bricht er — ganz Donner und Doria — eilig auf, der Bitten und Marnungen [einer Böſes ahnenden Gattin ebenjomenig ad): tend, wie Fiesco ber Tränen Leonorens. Vom Thomastor — das in der Nähe bes Palajtes unweit des jebigen Haupt: bahnhofs lag — will er jid) Bewaffnete holen, um die Ordnung wiederherzuftellen. Vor ihm [d)reitet ein Diener mit einer in San Salvatore (Lava Haus der Giles 3n. Höritel: -— beut ein Bauernhaus. botograpbie von U. Moa enua, [24252:24243424242$25253$24252525$ Tadel, in deren Scheine ihn bie Ber: \chworenen erfennen. Ruhig laſſen [ie ihn in thr Net laufen und ftreden ihn mit Flintenſchüſſen zu Boden, als er in bas ihm geöffnete Tor eintritt. Otto— buono Yiesco führt nod) einige Schwert: Itreiche gegen den toten Feind jeines Bruders. Aber zu derjelben Stunde, vielleicht in derjelben Sekunde ereilt auch biejen das Verhängnis, und zwar in der Dar: jena. Hier war Thomas Aljjereto durch bas Landtor eingelajjen, als man aber beim Blic auf jein bewaffnetes Gefolge Verdacht jchöpfte, wieder zurücdgeworfen worden. Er eilte zu Fiesco, der voll Ungeduld auf das Gignal PBerrinas wartete und dem Borgognino befahl, fid) auf den bereit gehaltenen Barfen der Darjena zu bemddtigen, während er jelbjt fid) deren Landtore näherte. End: lich ertönt der erjehnte Schuß, und in: gwijden ijt u Borgognino |djon in die Darjena einge: brungen. Das Tor wird geöffnet. Fiesco tritt ein. Gein Blan ijf gelungen. Mit ber Darjena und den Galeeren Dorias ijt Genua fein! Der Dogenpalajt wird ohne Mühe genom: men werden, weil die Miliz nur wenige hundert Köpfe [tart und mit Berrätern durchſetzt ijt. Durch das Andreastor wer: den feine Krieger, werden der Markgraf Cibo und anderegroße Herren aus dem Magratal, werden die Hilfstruppen des HerzogsvonPiacenza einziehen und ihm bas im Fluge Erwor: bene behaupten Del: fen, und für das wei: tere wird der König von Frankreich [orgen! Sa, feine Leonore ijt nun Herzogin! — ——— 2 ee = 11118 Donner und Doria. ra Inneres der eae Matteo), von Montorjoli geihmüdt. fiber pe Altar ber Ehrendegen ndrea Dorias, in ber KR Photographie von Dod) was ijt bas für ein Tumult auf ben Galeeren? Es |d)reien und |pringen die von Bewaffneten über: fallenen Wtatrojen, und bet dem Rufe „Bolt und Freiheit!” judjen die Ruder: Inedjte ihre Ketten abzujtreifen unb zu fliehen. Fiesco will die Ordnung Der: jtellen und tritt auf das Brett, bas zu Dorias Galeere ,Capitana” führt. Diefe ſchwankt infolge der Unruhe ihrer In: Be Darunter fein Grab. Noad in Genua. ſaſſen bin und Ber, jo dak bas [chlecht gelegte Brett ins Waſſer gleitet — und mit ibm Fiesco! Im Dunkel der Nacht wird er nicht gejehen, fein Hilferuf geht in dem herrichenden Ldrme unter, bie Riijtung hindert ihn am Schwimmen: er verjinft im Schlamm und ertrinft. Bielleicht ijt er bei feinem al mit ber Schläfe auf das Brett gejtürzt und betäubt worden, denn er foll eine Ropfwunde gehabt haben, 199 LSSSsSsSsSsssSssssSsSsSss| bie ihm aber auch ein fliehender Galeeren- jflave beigebracht haben fann; bod) ſpre— Gen nur wenige Wusjagen von einer jolden. Berrina fommt, ihn zu judjen; als er ihn nirgend findet, fehrt er be- unruhigt auf bie Galeere zurüd. Ruder: fnedjte plündern die Schiffe und fliehen, es entfliehen auch dreihundert türkische Sklaven der Republik auf einer Galeere Andrea Dorias. Parteigänger Fiescos durcheilen die Stadt mit den Rufen: „San Giorgio, Volf und Freiheit!” und „Kate (— Fiescht) und Freiheit!” Immer größer wird ihr Anhang. Andrea Doria hört mit Schmerzen die traurige Botihaft, und da er jdjublos ijt in jeinem Palajt, bas Bodogra hat und nicht breinjdjlagen fann, da er aber bem Fiesco, in dem er fid) getäujcht Dat, wie Gájar einjt in Brutus, nun alles zu: traut, läßt ber leidende, nahezu achtzig: jährige Greis die Frauen und Kinder nad) nahen Klöjtern fchaffen; er felber reitet, gefolgt von wenigen Dicnern, auf einem Maultier nad) Sejtri Ponente, dann läßt er fid) nad) Boltri rudern und von hier in einer Gdnfte bergauf, bergab nad) dem Apenninfajtell Maſone, einer Be: fikung Adam Genturiones, tragen. Diejer, einer der wenigen mutigen Die Doriaburg in Dolceacqua bei Bordighera. Photographie von A. Noad in Genua. 3B. Hörftel: IH ICH ZH Ze ZZ ZZ ZZ ZZ] Männer Genuas, ijf in den Dogenpalajt geeilt, wo jid) allmählich einige Gena: toren und eine Anzahl Patrizier ver: jammeln. Die von ihnen zur Wieder: eroberung des Thomastors ausgejandten 50 Krieger hielten die Flucht für den bejjeren Teil der Tapferkeit und ebenjo ein Teil der PBatrizier, die ausgejandt waren, um mit Gian Luigi über Nieder: legung der Waffen zu verhandeln. Gie fanden ftatt jeiner jeinen Bruder Gero: lamo, der auf die Frage nad) bem Grafen die törichte Antwort gab, der Graf jet er, und er werde den Sogenpalajt nehmen. —.. — SEM Daraus |djlojjen die Senatoren auf den Tod Gian Luigis, und der ihnen in bie Schuhe gefallene Mut ftteq wieder, Zu: mal die Reihen ihrer Getreuen fid) mehrten, bie Gerolamos aber jid) gewaltig lichteten; denn er flößte ein weit ge: ringeres Vertrauen ein als Gian Luigi; aud) fiirdjteten die Handwerker und Bürger auf feiner Seite, da das Tages: licht anbrad), erfannt und ſpäter beitraft zu werden, jo daß er binnen furzem nur nod) feine Vajallen und bie defertterten Soldaten der Republif um fic) verjam: melt jah. Mit ein wenig Tapferkeit hätte man diejes Häuflein aufreiben und zum Tore hinausjagen fónnen; man 309 SSSosceosesssssese] Donner und Doria. BSSSSSssssssd 123 aber vor, defjen ungejäum: ten Abzug nad) Montoggio dur) 9[mnej|tie für alle Teilnehmer an der Ber: \hwörung zu erfaufen. Ver: rina, Sacco, Calcagno und Ottobuono Fiesco fuhren auf Gian Luigis Galeere nad) Marjeille, von wo die drei Erjtgenannten mit reichen franzöliichen Ver: \prechungen fid) durch das unter franzöliichem in: fluffe jtehende Piemont ebenfalls nad) Mtontoggio begaben, während Otto- buono die fürjtlichen Ver: bünbeten jeines Bruders an ihre Berheißungen erin: nerte. Um 4. Januar wurde der neue Doge gewählt, am 6. fehrte Andrea, mit fürjtlichen Ehren empfan- gen, in jeinen Palajt zurüd, und nun fam Donner und Doria über die ganze Sippe des treulojen $Berrüters. Rache brütete Andrea, Rache für bas vergofjene Blut leines Gianettino, auf Beltrafung der Hochverräter drang der faijerlidje Ge: janbte, und Andrea bewog den Senat zur Zurücknahme ber, nur durch ben PR Die von dem nachmaligen Bapit Innocenz IV. (1943—1954) — Sinibaldo de’ Fieshi — erbaute Kirhe San Salvatore in Lavagna, bem Stammfits der Fieschi. ^ * - rn . E | F — — M. > Nd ates a aos E wa - E £ > nn . A, | à | ^ botograpbie von A. Noad in Genua. Doriagraber aus bem XIII. und XIV. Jahrhundert in ©. Fruttuofo (Bortofino). Photographie von A. 9toad in Genua. bleichen Schreden den nicht einmal in gejeglich gültiger Sitzung verjammelten Senatoren abgepreBten Amnejtie. Die Brüder Gian Luigis und die Sjdupter der Verjchworenen wurden für immer verbannt, ihre Güter eingezogen, an: dere Aufrührer auf längere oder für: aere. Zeit des Landes permiejen. Der Yieschipalajt auf bem auslichtsreichen Ga: rignanohügel, ber wie ein Königsichloß über dem Meere und ber „majeltätijchen Stadt” lag, über die Fiesco ,gleid) bem fóniglidjen Tag em: porzuflammen“ wünjchte, wurde zer: jtórt. Neben den Trümmern wurde ein Schmähjtein ange: bradt, ber außer einem Lajfterfatalog Fiescos das Verbot enthielt, je wieder an jener Stätte zu bauen, wo ber Batermord und Berrat an der Republif bejchlofjen 194 PSSSsSsssessssssq] MW. hörſtel:: worden fei. Diejer Stein ijt im Wn: fang des XVIII. Jahrhunderts ver: \hwunden, und heute erheben jid) mo: derne Häuſer an der Stelle bes [tol zen Palajtes der Fieschi. In Genua erzählt man, feine jchwarzen und weißen Steine feien zum Bau des *palajtes verwendet worden, der heute die Dienjt: räume des deutſchen Generalfonjulats birgt, bod) ijt biejer ſchöne Spinolapalaft viel früher erbaut. Cin weiteres Mär: chen, das Haus, in dem jid) bie Räume Des beutid)en Klubs befinden, jet der Fies— chipalajt gewejen, in dem jid) bie von Schiller gejchilderten Szenen abgejpielt hätten, erklärt jich aus der Tatjache, daß jenes Haus in der erjten Hälfte bes XIX. Jahrhunderts im Belit eines Fiesco war. Der echte Fiescopalaſt alfo ijt in ber Tat Wappen der Fieschi und der in ihrem Clan vereinigten Patriziers amilien. Aufnahme des Marcheſe Giujeppe Peffagno in Genua. zerjtört worden, und jeine Steine wurden verfauft, während die nod) nicht begabIten Bildhauer ihre Werfe und die Republif die Kojtbarfeiten an fid) nahmen. Wud) viele $yiesd)iburgen an ber öjtlichen Riviera und im Alpennin fielen der Zerftirungswut zum Opfer, darunter die große Burg in Torriglia. Verſchont blieb dagegen das Haus der Fiescht aus bem XIII. Jahrhundert in San Salvatore-Lavagna mit jeinen |chwarzen und weißen Cteinbánbern, mit feiner Säulenhalle und jeinen durd) Säulen: ftäbchen geteilten Fenſtern — Triphoren —, das heute, von Bauern bewohnt und für ihre Zwede umgebaut, in reben: und baumreidjer Cinjamfeit von feinen einjtigen Bewohnern träumt. Ihm gegen: über fteht die jchöne, von Ginibaldo be Fieschi, Dem nachmali- gen Papſt Innocenz IV. er: baute, heute zum National: denkmal erflärte Kirche mit prächtigem Radfeniter, wei: Ben Säulen unter dem Spitturm und einer gut erhaltenen $yresfomaleret über der Tür, welche die Züge Sinibaldos nod) deut: lich erfennen läßt. In Chia- pari dagegen wurde jogar eine njchrift, bie einem Bardone Fiescho die Grün- dung einer dortigen Kirche zujchrieb, öffentlich abge: riſſen und ins Meer ge: worfen. Ins Meer wurde aud der Leichnam Gian Luigi wiescos perjenft, nachdem er in der Darjena aufge: funden war; denn — fo jagte Andrea Doria — da er fid) jelbit diejes Grab aus: gejucht habe, jet es aud) recht und billig, daß er es behalte. Dem Raijer jd)rieb er, er habe mit Zujtimmung der Signoria jo gehandelt, um den erregten Gemiitern feinen neuen Zündjtoff zu geben. Dtan kenne die Zahl der Anhänger Fiescos nicht und habe verhindern wollen, SS SLSLSL SLL LLL FLIES — daß unter bem Vorwande eines feierlichen Seidjenbegángnil]es eine Kundgebung ge: gen die Republik peran|taltet werde. (Sia: nettino wurde in ber Krypta ber aus dem Anfang des XII. Jahrhunderts jtammen- ben Familienkirche der Dorias beigefest. Nad längerer Belagerung wurde die Wpenninburg Montoggio erobert und geichleift ; bie gefangenen Mörder Gianet- tinos wurden ohne gerichtliches Verfahren hingerichtet, Gerolamo Fiesco, Berrinaund Gangialasca dagegen nad) einem ſolchen und mit Zujtimmung der Signoria, bie urjprünglich für Milde gewejen war, aber vor des Andrea Donner und Doria zum zweiten Male umfiel. Im Verhör äu— Berte ber Verſchworene Sacco bie Ber: mutung: Berrina, Republifaner und ge: Ichworenen Feind des Adels, habe im Schilde geführt, mad) ber Ermordung der Dorias und anderen PBatrizier aud) den giesco zu töten, um nicht einem jolchen Tyrannen bie: nen zu miijjen. Was würde bieler Sacco für Augen ge: macht haben, wenn es ihm vergönnt gewejen wäre, den Schlug des Schillerichen Trauerjpiels zu lejen! Wud) an Ottobuono $yiesco, ber nod) gegen die Leiche Gia— nettinos Schwertjtreiche ge: führt hatte, vollzog Andrea im Jahre 1555 feine Rache, als jener Seeräubern in die Hände gefallen und an ihn verfauft worden war; er ließ ihn wie eine Rage in einem Sad ins Meer werfen, bas ihm für Verſchwörer bie pajjendjte Grabj[tátte zu fein chien. Che bie Raben — bie Fieschi — nidjt aus: gerottet jeien, werde Genua nicht zur Rube fommen, das war jein ceterum censeo, und ficher hat er, jo oft er an dem pradjt: vollen Renaijjancefamin im „Bigantenjaal” feines Paz lajtes ſaß unb zu Pierin del Vagas prächtigem Decen- bilde aufblictte, fid) in der Donner und Doria. BSSSssssssss49 125 Rolle Jupiters, die Fiescht dagegen als bie zerjchmetterten Giganten gejehen, gegen die er [eine Blige, feine Donner und Doria Ichleuderte. Der jüngfte der Brüder Gian Luigis, Scipio, machte vergebliche Wn- jtrengungen, in den Beli der alten Lehen jeiner Familie zurüdzugelangen, bie vom Raijer unter Andrea Doria, bie Republif, Gonzaga und einige andere @bhibellinen verteilt worden waren, wäh: rend der Herzog von Piacenza die in jeinem Gebiet gelegenen eingezogen hatte. Wud) an diefem und am Papjt hat Andrea fic) gerächt; an dem lebteren, indem er deſſen Beileidsichreiben an: läßlic) der Ermordung Gianettinos un: beantwortet aufbewahrte und nad) dem ebenjo jähen Tode des Herzogs Pier Luigt Farneſe mit ent|predjenber Ände— Wappen der Doria und der in sheen Clan vereinigten Patrizier: milien. Aufnahme des Marcheie Giujeppe Pelfagno in Genua. 126 YW. Hörjtel: Donner und Doria. EET au Iit xv m a —F ETT | 1 177 j * x 2 1 — ann | [15 ‘pital IF — mm Dogenpalaft. Die Poftamente — dem Bl. uy en bis zur Revolution von 1797 bie Mtarmorjtand: Andrea u ian Andrea Dorias. Beotograbie —* Sciutto in Genua. rung der Namen nach Rom zurück— ſandte. Gr ſtarb im Alter von 92 Jahren und wurde neben Gianettino in der Yamilienfirhe bi Can Mtatteo be: jtattet, deren äußere weiBe Steinjchichten bis hod) hinauf mit Injchriften zum Ruhme der Dorias bebedt find. fiber bem Altar hat ber vom Papft ihm einjt ge: ſchenkte Ehrendegen feine Stätte gefunden. Sein Marmorjtandbild von Montorjoli fand |páter vor bem Dogenpalajt Auf: ftellung; als aber 1797 Andrea Dorias Verfaflung fiel, mußte auch fein Stand: bild nad. Die Republikaner ftürzten beide Statuen von ihren Poftamenten, Die jeither verwaijt bajteben, während bie Familie Doria die Torji, die aud) in ihrer Zerjtörung nod) bie Riinjtlerhand verraten, in den jtimmungsvollen Kreuz: gang neben ber Doriafirche rettete. Doch fónnen wir troßdem nod) heute bie Züge Andrea Dorias unverjehrt im Marmor \hauen, denn auf den Schultern des Neptun über dem Brunnen des Palajt: gartens thront Andreas Haupt. Leonore endlich, bie Schiller in Gia: nettinos Scharlachmantel von der Hand ihres ahnungslojen $yiesco einen echten Bühnentod Sterben läßt, fehrte nad) Gian Luigis jähem Tode trauernd in ihre Heimat aurüd. Es ijt eine Bittjchrift von ihr an den Raijer wegen Wieder: erlangung ihrer Mitgift erhalten ge: blieben. Sie hatte denn aud) nod) ein: mal Berwendung dafür; denn nad einigen Jahren hatte fie fid) jo weit getröftet, dak fie fid) mit Chiappino Vitelli in zweiter Ehe vermählen fonnte, einem in vielen Schlachten bewährten faijerlichen SHeerführer, der ſich jeines ungeheuren Körperumfangs und jeiner Wunden wegen in einer Sänfte auf bas Schlachtfeld tragen lajjen mußte. Nachdem ihn bie mürrijdjen Träger von der Höhe eines Walles hinuntergejchleudert hatten, trat Leonore ins Klojter delle Mlurate in Florenz ein, wo fie 1564, aljo 17 Sabre nad) ihrem Tode auf der Bühne, bie Augen ſchloß, mit denen fie einjt jo jelig auf ihren Fiesco gejchaut hatte, und aus denen fo heiße Tränenjtröme um ihn geflojjen waren. EO $8.8 8 8.8 8 8 8 8 8 8 8 8 8 8 Barijer Bo BOO OOO OOOO 8 8 78 8 2 FIR enn Ihr biele Aberſchrift left, haltet Ihr dann nicht inne mit PRY dem Blättern? Wird nidt in IM Gud) eine Sehnſucht Iebenbig, III) (todt nicht Euer Atem? Parifer Boheme! Ihr jungen deutichen Bürgerjöhne und Bürgertöchter, feufgt Ihr nicht zuweilen in Eurem ftillen und warmen an benft Ihr nicht, wenn Ihr Dielen il nennen es ‚Das ijt ber herrlichite un vollendetite Wusdrud des Lebens, die Bor: bedingung n alles große künſtleriſche Schaffen! reibeit, Schönheit, fibermut unb Leidtfinn in qtebe unb Kunft: bas tit bie Parijer Boheme. Wie oft blidt Ihr febnidjtig und verlangend über den Rhein gu der großen und wundervollen — die ſo viele Himmel und Höllen in h vers eint. Und mand einer unter Eu ält’s nicht mehr aus; er ſchnürt jein Rangel und fährt hierher, jeiner Sehnſucht wünjchwerteftes Ziel tennen zu lernen. Er jteigt in einem ber kleinen, unjcheins baren Hotels ab und müht fid) nun eifrig, fid) die Welt zu erobern, die Paris heißt. Er ſchaut fid) bie Sehenswürdigleiten an, bejucht die Theater und Konzerte, er bummelt in Montmartre umber und lernt alles bas fennen, was Wilhelm Fred vor zwei Jahren an diejer Stelle fo ptttorest geichildert hat; aber bie Parijer Boheme bleibt ihm verfchloffen. Die Partjer parue it nicht fo leicht gu: dnglid) und auffindbar wie bie Bobet in erlin oder in München, wo bie Bohemiens jid) täglich und nächtlich in beftimmten Cafés, die aller Welt befannt find, Stel didein geben. Vor zwanzig, dreißig Jahren — ja da war es noch anders in Paris. Damals war das Quartier latin das Stadtviertel, das einzig und allein der Riinjtlerbohéme gehörte, und der übermütige, romantijde Beift, den Murger durch jeine Schilderungen in aller Welt be: tübmt gemadt — frohlockte durch alle Gaſſen des linken Seineufers. Dann fand 1881 die veil Ara ber Bohemiens nad) Mont: martre jtatt unter ber Führerjchaft bes Generals der Bohemiens, Lyon Rodolphe Calis, auf deffen Grabjtein zu ve ſteht: „Gott hat die Welt erſchaffen — Napoleon ane die Ehrenlegion gegründet — 36 Babe ontmartre gemadjt.^ Armer Rodolphe Calis! Würde biejer groteste Don Quichotte er Montmartre fennen, er wiirde Die rabjdaft, bie er M m wieder tilgen! Schon vor feinem Tode fielen einige der Rabarets, bie er mit feinen Freunden ges pee hatte, in bie Hände faufmannifder nternehmer und wurden indujtriell aus: ebeutet. Nach feinem Tode im Jahre 1897 ob bie Schar Jeiner Freunde auseinander; einige ftarben wie er, andere gingen im Elend zugrunde, und andere wiederum eme. Bon Otto Grautojf. 1 wie 3. 9B. Maurice Donnay, reiijfierten in der großen Welt. Montmartre ijt heute ein Vergniigungspart für burd)reilenbe Fremde geworden. Miele ber Bohemiens zogen wieder aufs linfe Geineufer zurück ins Quartier latin, verteilten jid) im fletnere Griippdhen und Kreije; denn es fand [id) fein anderer Generalijlimus, der bas unjtete Völkchen zufammenhielt. Auch Verlaine, der Gott ber Parijer Boheme, war geltorben. Die Bohemiens löften jid) auf als Gemein: Ihaft und veritedten fid) zwilchen den Ber: gnügungszirkeln der Halbwelt und ben ehrjamen franzöfifchen Bürgerfamilien. Aber wenn fie jeBt aud) im Pariler Leben fait ang verjdwinden und feine Rolle als taat im Staate jpielen, jo haben fie bod) bas ruhmreiche Verdienft, das ganze fram: zöliihe Leben wie mit einem Gauerteig durchſetzt zu haben. Im vorigen Sommer hat Willy Rath in bieler Zeit] on geiftreiches und amiijan: tes Bild der Münchner Boheme gezeichnet. Bohemiens gibt es in München nur in Künftlerkreijen, und diefe Künftler-Bohemiens haben in Münden [fait alle einen harmloss liebenswiirdigen, grotesf-fomijd)en Charalter. Die Münchner Bohémiens haben durd) ihre bramarbafierenden Allüren etwas heraus: fordernd Erheiterndes. Die Barijer Bohémiens haben alle 9[jpirattonen. In feiner Stadt der Welt jind Welt und Halbwelt fo ge: miſcht wie in Paris; in feiner Stadt ber Welt find deshalb aud) bie Bohémiens ge: jelljdhaftsfabig wie in Paris. In Paris leben ber Mtarden|taat ber Bohémiens und ber Rechts: und &apitalitaat nicht in en miteinander. Das liegt im lateiniichen Cha⸗ ratter begründet. In Paris gelten nicht Titel und Orden; es gilt der Geilt, bie en des einzelnen. Mer es veriteht, jtd) durchzuſetzen, der erringt den Beifall der Bejellichaft und ber Mtenge. Wer etwas gut und elegant zu jagen weiß, kommt obenauf. Paris tft darum bas Dorado ber Bohemiens. Man bat nicht nötig in Paris, wie Baedeler es vorjdretbt, von feds Uhr abends an einen Zylinder zu tragen und {id den zahlreichen Paragraphen des bürgerlichen Standes ein: ufügen. Wenn man etwas leiltet, etwas tn var nr legt, ift man ein Abgott biejer Stadt. Der Imprejfionismus, ber lett vierzig bis Tünfatg, Jahren bie Kunftauffallung der bildenden Künſtler Frankreichs bildet, ijt einer der natiirlidjten und elementarjten Wusdriide der franzöfilchen Volksſeele. Die Smprelfton und Improvijation beherrjdten bas gefamte Leben bes franzölilchen Volles im XIX. Jahr: hundert. Napoleon I. war der erfte und größte Impreflionift und Improvijator Frank: reihs. Und find die Impreilion und bie Improvifation nicht aud) bie beiten und 198 ESSssesesssscocscsy Otto Orautoff: BSESSSeesesesseseseesse4 itärtiten Talente ber Bohémiens? Es wird aljo leicht verjtändlich, daß in einem Rande, in bem bie IJmpreffion und bie Smprovijation eine fo nuper große Rolle jpielen, fid faft in allen ?Beru[s: Ihichten Bohemiens finden. Uber der wahre und überzeugte Bohemien ijt fein Freund der Arbeit, tein Freund einer regel» mäßigen Tatigfeit; darum [djalten fid) natur» emäß viele Berufszweige von vornherein ir ihn aus. Überhaupt fant man das Wort msi mit einem echten Bohémien midyt in Zulammenhang bringen. Denn Beruf a Regel und Ordnung. Und fie find des obémiens grimmig[te Feinde. S gibt in Paris zwei Arten von Bohe: miens. Die eine bejchäftigt fid) mit Finanz- jpefulationen oder Sport; fie iff an ber Börle unb am Rennplag zu treffen und führt ein wildes Leben, ein ewiges Wechſeln wilden Befig und Schulden. Gie treffen ih im den Pillen der Halbwelt in der Avenue de la Grande Armée, in manchen Spielzirteln und Reftaurants der Boulevards und führen ein rubelojes, ausjchweifendes Leben. Doch bieje Bohemiens mit Hod: ftaplerallüren, oft von jehr zweifelhafter — intereſſieren uns hier weniger. ie erforderten auch ein ganzes Kapitel für ſich, das von anderen Dingen handeln würde, als von dem — glitzernden Zauber, der bie Kunſt umgibt. Nur bie Künſtlerbohẽme iſt ja auch dasjenige Element des Pariſer Lebens, das die Herzen ſo mancher deutſchen Jünglinge ſehnſuchtsvoll ſchlagen läßt. Das Hauptcharakteriſtikum der ‘ &ünjtlerbobéme find Einfachheit, lichkeit und Wnjprudslofigfeit. Man fühlt fid) in Paris nicht als Bohemien; man tjt es einfad). Die Bohemiens in Paris haben aud) feine bejonderen Abzeichen, als da und lange, ungelämmte Haare, Rembrandt: lite, Kniehofen, Mancheiterhüte. Und bie weibliden „Vohemiennes“ tragen feine 9teformtleiber und feine Sadgewänder, feine Sjerrenbüte und ſeltſam |tilijierten ger Cie feben aus wie andere enjchen, find nur ein wenig jchmußiger, ungepfiegtet und haben als einziges Abzeichen fait alle Trauerränder unter den Nägeln. Ste wollen aber gar nichts anderes jein als andere Ptenjden. Das beweilt fchon, daß es unter den Parijer Bohémiens mehrere Dugend gibt, die Ritter, und wenigftens ein Dugend, die Offiziere der Ehrenlegion find. Gie tragen das Bändchen oder die Rofette im Rnopflod ihres modernen Anzugs und — im Café, ihnen zu Seite ein ſündhaft önes Mädchen, das auch auf den roten Schmuck im Knopfloch ihres Mannes ſtolz iſt und ſich kokett und elegant über Kunſt und Literatur unterhält. Kein Pariſer Bo— bémien ijt jo frevelhaft, allein zu ſein; er hat immer eine „Madame“ zur Seite; und dieſe Madame vergöttert ſeine Gedichte und Novellen; ſie iſt ſein Reſonanzboden. Jean Moréas tft der König ber Bohemiens im hatte. Quartier latin; er refidiert in einem Café am Boul’ Mich’ (Boulevard St. Michel), und jeden Dienstagabend fommt er in Die Cloiserie des Lilas am Boulevard Montparnaffe, wo die Freunde ber Zeitichrift „Vers et Prose“ fid) vereinen. Dort fommen aud) Redafteure und Mitarbeiterzahlreicher fleiner Zeitjchriften ujammen, die tm Ausland unbefannt, in Baris jelbft fo unendlich ſchwer zu finden jind. „La Phalange“, ,L'Occident", ,,La Revu edu temps present“, ,,Le Feu“, ,,Poésie'', „La Revue des lettres et des arts und wie jie alle heißen. Sede diejer Zeitjchriften hat eins bis zweihundert Abonnenten und einen Kreis von zwei Dugend Mitarbeitern, die meiltens im Alter von zwanzig bis dreißig Syabren ftehen. „Vers et Prose“ ijt unter allen biejen Zeitichriften bie befannteite und bebeutenb|te. Sie ent[pridjt inhaltlich und äußerlich etwa den „Blättern für bie Runft“, bie Stefan George in Deutichland heraus» ibt. Aber gwijden den Herausgebern und ttarbeitern jener deutſchen und dieſer fe eee Revue befteht ein großer Unters djieb. Stefan George, Karl Wolfstebl, Carl Bolmiiller, Hugo von Hofmannsthal Jind vornehme, biirgerlide Herren. Jean Moréas aber und Paul Fort, Lucien Galmon Jind echte, unverfällchte Bohémiens, bie ihr Leben in den Cafés hinterm Abfinth vers bringen, babet aber bod) große Dichter eworden find. Der fünfaigjährige Dichter ean Moreas ijt heute eine Weltberühmtbeit, und Paul Forts franzöfiiche Balladen find, wie man E zu jagen pflegt, Markſteine in der franzöliichen £tteratur. Tit damit nicht bie moralijde und Joziale Bedeutung der Bohemiens erwiejen? Der Bohemien Dat daher wohl aud) bas Redt, niemals vor drei Uhr morgens zu Bett zu gehen und niemals vor d Uhr morgens ben Tag zu beginnen, ein Hedt, auf bas ein tier Burger verzichten muß. Geld hat ein edter Bohemien niemals. Aber man hat in Paris einen jo unerichöpflichen Kredit, wenn man Künftler ijt, daß man ganz gut ohne Geld leben fann. Ein Maler nahm eines Abends einmal einen Wagen und fuhr in ein Cafe. Als er einjtieg, merfte er, daß er fein Geld Der Kutſcher fagte: „Aber bas madt nichts. Gie find befannt im Quartier. Ges ben Sie morgen bas Geld Ihrer Concierge; id) werde es mir dort abholen.“ „Sind Cie aud) ficher, daß id) bas tun werde?“ —F der Maler. „Aber natürlich; Sie ind ja Maler,“ gab der Kutſcher zurück. Wie viele Künſtler ſind in Paris aus der Vohẽme hervorgegangen! Berühmte Bild: hauer Frankreichs, ja ſogar der berühmteſte Bildhauer unſerer Zeit, Maler, Schrift. jteler und Muſiker. Und haufig iſt es das Verdienſt der Frauen geweſen, die bte Riinft: ler aus dem Elend, aus dem finnlofen Vers Ichwenden des Geldes retteten, wenn fie gerade an bie 9tedjte famen, Die fleine Grijette Iebt, allen gegenteiligen Behauptun: gen zum Troß, aud) heute nod, bie Not unb OS 9 AS 0 AE 0 AS 9 «A» 5 IS O ME 0 «m O AS OAS P «MD 6 AS 0S IS SBP 1 SP 0 cR 6S 6 SP 6 -9 9 0 et 90 o AP OAS OAS O «E» OG | ' Der Gjelreiter. i Gemälde von Robert Weile. ! | | | | ! — em 6 at BS 6 E> 6 «DE 6 AS 0 AS 0 «CE» 1 «ZR 6 ASE 6 AP 6 «pe 9 > AS SP 0 AS O AS o HS 0 «ER da 0 Gh Oh OA Oe o PET OK 0 «e O0 aue PLSSsSsSSSSSsSsSssesssy Parijer Bohem. BSseVeeesessesesssd 129 Elend mit ihrem Liebjten teilt und ihm immer zur Geite |tebt. Cie führt den Haushalt, macht felbit die aróbjte Hausarbeit, kocht und nábt unb ijt obendrein nod) das Modell ihres Auserwählten. Des Abends geht fie dann mit ihm ins Café, jpielt die Ma: dame, ift Iuftig und vergnügt und |pricht oft recht gejcheite Dinge über Kunft. Aber bat es nidyt [don einen etwas bürgerlichen Ans ftrich, nur daß diefem Bunde der Gegen bes Staates feblt ? Cin echter Bohemien läßt fid auf ſolche, Gemütsathletik“ nicht ein. Ein echter Bohemien liebt die Freiheit. Er abenteuert durds Leben ohne — und ohne Ziele. Er ſchließt keinen Bund fürs Leben und flieht ängſtlich jedes Bers mone bas eventuell zu einer Ehe führen önnte. Er nimmt die Mädchen, wo er fie fiebt, und füpt fie nur im Boriibergebhen. anchmal gefällt man einander, und dann bleibt man halt ein wenig länger gujammen. Und oft verlieben fid) ja die heißen, ſchlanken Parijerinnen in die feurigen, jungen Idea: liften, bie für bie Kunſt barben und hungern. Es gibt junge Dichter, bie bes Morgens —— austragen, es gibt Maler, die tadtreiſende für —— ſind, Bild⸗ hauer, die Modell ſtehen. Aber wenn ſie auch niemals Geld haben, um the Atelier zu bezahlen, im Reftaurant auf „Pump“ ejjen: für irgendeine TFröhlichleit ijt bod) immer noch Gelb da. Sch habe einmal ein XUtelier- eft mitgemacht, weit Hinter Montmartre, art an den Äußeren Boulevards in einer anjarde, in der man mit der Hand falt an die Dede reichte. Vier Lampions hingen an den Eden. Auf dem einzigen Ctuble jag ein budliger Dtaler, ein unglüdliches, fleines Männchen, und fpielte den ganzen Abend ununterbroden Gitarre. Er madte ein ernites, in fid) verfuntenes Geſicht und |djaute alt niemals auf von feinem Inftrument — ich werde ihn nie vergellen, diejen blajjen, ver: wadjenen, fleinen 3Dtaler, der jo unfaglid arm war und bie Freuden Dbieler großen Stadt nur an fid) vorüberziehen jehen durfte. In der Heinen Manſarde tanzten vier Paare non ilden Walzer, Cancan, Matchitche. te Mädchen waren [ujtig und ausgelafjen, obwohl es nur gefaljdten Wein zu trinfen ab, ber nad roten Rüben und Pfeffer Pamedte, Wenn man miide war, jekten die einen jid) aufs Bett, bie andern auf bie Roffer an den Wänden; aber Jeanne, die feine, braune Jeanne jebte (id) immer mitten ins immer auf die Erde und fchlug Purzels dume aus lauter Bergniigen. Gie war nicht tot zu friegen; jo temperamentvoll war fte. Als die Nacht verblid) unb die Damme: rung die fühle Morgenfrijde in bie Manjarde webte, polterten wir bie jechs Treppen Din: unter und zogen Arm in Arm alle mitetn: ander men bie äußeren Boulevards Din: unter. ir fauften uns frijdes Brot und tranfen in einer fleinen Kneipe Kaffee. Luſtig und ausgelaffen find bie Meinen Parijer Bohémewetbden, und dabei jo ge: niigjam. Ein paar Glajer Wein, ein bißchen Schofolade, ein verjtimmtes Klavier — und bie Fidelität tjt ba. Das größte Felt ber Parifer Bohémiens ift Der Ball ber Quatre-z-arts in ben erften Tagen bes Maimonats. Gegen gweitaujend Bobémiens fommen auf diefem Feſte zus en alle in bunten, phantaftilchen Ro: tümen, bie oben und unten, linfs und rechts möglichft kurz fein miiffen. Die einzelnen Gruppen treffen jtd) am Abend diefes Bites in ver|djtebenen Cafés von Paris und er: regen durch ihre romantifche Kleidung, burd) ihre Ausgelajjenheit bas Herz ber Bevölke— rung. Auf biejem Balle geht es bunt zu. Um Mitternadht findet ein Umzug [tatt. Born irgendein jfagenhafter Raifer, Bo gu Rok, ber nur einen Helm auf dem Kopf unb ein Schwert umgegürtet bat, und bie Kaijerin ibm zur Geite trägt aud) fein reidjeres Koſtim; ja fogar viele aus dem fatjerlidjen Hofſtaat erjdeinen eben|o — Ihmudlos. Es wird getanzt, Muſik gemadt, efdrien, getrunten und gefüpt. Gegen edjs Uhr morgens zieht ber ganze Zug burd) bie Champs Elysées bis zur Alademie. Wer diejen tollen Sexenjabbat einmal bie Champs Elysées hinuntertollen fab, bat einen Eindrud empfangen, den er wohl niemals wieder vers geilen wird. Dergleichen gibt es ja nicht in einer anderen Stadt der Welt. Einſt fam gerade ein deutjches Ehepaar auf der Sod): geitsretje im Maienmonat nad) Paris. Gre hörten von biejem berühmten Ball unb woll: ten „zu“ gerne an bielem Felte teilnehmen. Cie gingen von Pontius zu Pilatus, E li elamen fie für 100 Frank ein Billett. Als fie abends im Kojtiim vor der Caaltür eridjtenen, wurde bie junge rau zwar Dineins elajjen, bem Mtanne aber ſchwapp vor ber ale bie Tür gugejdlagen. Der Mann rang verzweifelt die Hände; aber es half ihm nidts. Die Bohémiens hielten bie junge Frau bis vier Uhr morgens in ihrer Mitte; ie haben ihr aber nichts Böfes getan, fon: ern fie vortrefflich bewirtet, jo daß fie fid) ausgezeichnet amiijierte. Die Franzojen find immer vitterlid) und nage alld niemals Die Achtung vor der Frau. Das trifft aud) für die franzöliichen Bohémiens zu. Iber fie lieben nicht Neugierige in ihrer Mitte aufs zunehmen. Ste wiinjdhen nit, daß irgend etwas über ihr Trühlingsfeft in bie Preſſe gelangt; fie wollen unter fid) bleiben. Auf bielem Felte wird nicht halb fo viel getrunten wie auf ähnlichen Felten in Berlin oder München. Der $yrangole verträgt nicht viel Alkohol. Bier oder fünf Glafer Wein, und er hat „einen figen’. Aber, aber, es ds aud) andere. Und gerade unter den ohémiens derer bod) recht viele, bie an ber ,,correspondance pour Charenton“ zus grunde gehen. „Umiteigebillett für bie Irren⸗ anitalt ın Charenton“ heißt ber Abfinth im Volkswitz. Gang in der Nähe der Cloiserie des Lilas Belhagen & Klaſings Monatshefte. XXIV. Jahrg. 1909/1910. II. Bd. - 9 130 ESSSSSEET $. Federer: Beatrice Gencis Bruder. BSsssesssssss am Boulevard Fatal: ijt das berühmte Café du Dome, der Treffpunft ber deutichen nom. MWochentags ijt ber Dom faft ausidjlteBlid) von deutiden, englijden, ame iver unb rulliihen Künſtlern bes völtert. er Schriftſteller Wilhelm Uhde unb Bater Levi haben vor Jahren den Dom begründet als Zentralftelle ber aus Deutjch- [anb nad) Paris eingewanderten Bohemiens. Der Maler Howard war einige Zeit lang Präſident bes Domes, bis er fein Hoflager nad) Montmartre verlegte. Nachdem Ubde d —— bat, womit er in den ehr» amen 9ied)tss unb Kapitalftaat zurüdtehrte, tft Water Levi ber bedeutendfte und würs biglte Domberr, um den e. bie jüngeren Künftler wie um einen Heerführer fcharen. Er gibt ben Ton an, madt bie beiten Gtreiche, jet bie amiifanteften Wie in Um: lauf unb DEDERE im Pofer am metjten. Es gibt unter ben Domberren einige, bie ,foloffal” arbeiten und vom Ertrag ihrer Arbeiten Ies ben, einige, die vom Bump leben, von denen einer einmal den genialen Ausſpruch tat: „Dan muß nur anftdndig gekleidet fein, alles andere fommt dann von felber;^ end» lid) einige — und das (as bie ftärfiten Mas turen —, bie es grundjablid) perab|djeuen, irgend etwas gu bezahlen. „Es ift ein Stans dal,“ jagte einer von ihnen, „man fann alles in Paris umjonft haben; man fann umfonjt wohnen und ejfen, kann fid) umfonft eile aber Briefmarten, die muß man bar egablen i^ Dod) bie Bohemiens find nicht fo ſchlecht wie ibr Ruf. Als einmal einer ber beut: den 3Bobémiens franf wurde unb in tiefe ot geriet, veranjtalteten feine Rameraden unter fid) eine Auktion jeiner pone Und in diejer Auktion, bie unter Vater Levis Leitung in einem Atelier ftattfand, brachten bte jungen Deutjchen in einem Vormittag vier: undert Frank aujammen. Das war ein dines Zeichen von Rameradichaft, das nicht nur mande tolle Ctreidje ber Bohemiens verzeiht, jondern bie ganze Boheme vers oldet. Ein bischen Verwahrlojung in den ugenbjabren tjt oft jebr romantiſch, vor allem wenn der Übermut unb die Skrupel⸗ lofigteit der Jugend hin und wieder durch ein fo ſchönes und gerades Kameradſchafts⸗ gefühl verjddnt werden, Beatrice Cencis Bruder. Von allen [hönen Knaben zu Rom, Die fred) ftolgieren am Petersdom, Vor holden Frauen das Haupt nur leicht, Dod) tief vor dem Heiligen Vater geneigt, Glangt unerreidt Der Cavaliere Bernardo. Bon der Mutter hat er bie weiße Haut. Das Aug’, bas wie gliihendDe Gommernadt blaut, Hat er vom enthaupteten Schwelterlein. Dod die Lippe fo rot von Kuß und Wein Gehört ihm allein, Dem Cavaliere Bernardo. Geine Fingerſpitzen find rofenrot, Geine lange Lode wie Feuer loht. Die Wange brennt, in totem Samt Gein Mantel und fein Wamslein flammt, Drum ift er benamt Der blutige Knabe Bernardo. Was bift bu fo rot, was fo erbibt? Weil die Sonne Roms fo gefährlich ligt? Weil du fo gern in Rofen wühlft? Oder Lippe auf brennender Lippe fühlft? Und nie vertiibl[t, D Cavaliere Bernardo? Einft Hodt? im Stühlen auf fchwarzem Schafott Das todblaſſe Bübchen, du lieber Gott! Sah Mutter und Schweſter unter dem Beil Und den Bruder erdroſſelt vom Henkerſeil. Und ein heißes Teil Ihres Blutes beſpritzte Bernardo. „Ihr ſeid begnadigt!“ der Henker ſprach Und raſch das Kettlein am Knöchel erbrach. Dann ſank der Knabe ſinnlos hin. Rote Schlangen durch ſeine Fieber ziehn, Umringeln ihn, Klein Cavaliere Vernardo. Er geſundet, vergißt und lacht und liebt Und reitet und tanzt, daß es Funken ſtiebt. Doch ſah er Rotes: ein Röslein quoll, Eine Wange glüht, eine Lippe ſchwoll — Heiſcht er wie toll Sie alle für Ritter Bernardo. Er weiß nicht warum. Weiß es vielleicht Die Roſe, die vor ihm erbleicht? Hat ein römiſches Mägdlein, das er knickt, Beatricen in ſeinem Auge erblickt, Wie ſie Rache nickt Aus Cavaliere Bernardo? Heinrich Federer. ODP er ava sz uas Gajtmabl war beendet, bie [ebtet Sänften batten bas ay BÉ ften B aS 4t, Goldene Haus Neros verlajjen. eine ‚ Brüftung von gelbem, ſyriſchen Mar: mor, die einen Ballon umgrenzte, und ließ fid) ab und zu burd) bie Hand eines Sklaven mit einem feidenen Tuche bie Schweißtropfen von der Stirn und vom 9taden wilchen, während ein anderer lang: Jam einen großen Fächer aus Pfauen: federn über feinem Haupte hin und Der bewegte. Denn es war heiß. Der Kaifer hatte viel getrunfen, und ber cyprijche Wein be: idjwerte feinen Kopf. Uber drinnen in den fühlen Hallen bes Palaftes, neben den toftbaren Brunnen oder im Schatten feiner Garten, behauptete er, nicht frei atmen zu fónnen. Darum hatte er fid) auf einen der Giller tragen laſſen. Warum hatte ihm das Gaſtmahl heute feinen Genuß bereitet? Der Rod) hatte ftd) wieder einmal überboten in Jeltenen Berichten, und bie neue Cpeije aus ben Gehirnen fizilianifcher Wachteln tonnte nicht vortrefflicher munden. Die Sunjtitüde des indischen Gauflers hatten alle Gäfte verblüfft, jelbjt ben arabifchen Arzt, der umſonſt nad) einer Erfldrung judte, und bte jungen Tänzerinnen ausSpanien waren Ichön gewejen, wie lebendiger Marmor. Gejungene Lieder hatten die Ohren ergößt, — und bod) war Nero unzufrieden. Der Plab, an dem font fein alter Freund Gejon gelegen, war leer geblieben, und eine gedrüdte Stimmung hatte an der Tafel geberrjd)t. Diesmal Hatte fein lautes, leichtjinniges Lachen bie Räume bes Palaftes durchhallt. Der Kaiſer zwinterte mit den Augen, die über bie weißliche, jonnenbe|djienene Stadt Binaus|djauten. Drunten ftand über einem Sodel von buntfarbigem Dar: mor fein eignes Standbild als Sonnengott mit einem goldenen GCtrablenfrang auf bem Sjaupte, der den Glanz bes Gejtirns funfelnd zurüdwarf. Der Kaiſer hob ein wenig bie fette Hand, RI) Der Kaijer lehnte träge über bild III TEE u e te Rcg Eg e Ere Ir Eg Die $yadeln bes Galilaers. Bon Georg von ber Gabelen$. & an der ein großer Ring mit einem grünen Smaragd prangte, wies hinüber und rid: tete feine ſchläfrigen Blide auf das Stand: „Es ijt ſchön!“ jagte er voll 3Begeijte: rung. Tigellinus, der Präfeft, ber neben ihm auf einem niederen Seſſel fag, begnügte fid) ſtumm zu niden. Da fehrte ihm Nero den Kopf ein wenig zu, und aus [einen müden, gelblichen Augen jchoß ein jäher Bligh, wie eine Heine Schlange unter einem Steine hervorgiingelt. „Findeſt Du etwa nicht, bag es fchön ijt?” fragte er, unb jeine Stimme, die eben nod) gleichmutig und janft geflungen hatte, befam einen gifdenden Ton. Tigellin fuhr gujammen und beeilte jtd) das Standbild und feinen Schöpfer zu Ioben. Da jtübte ber Kaifer bas Kinn wieder mit halb gejchloffenen Lidern auf bie über ber Brüjtung zufammengefalteten Hände unb murmelte, ohne jid) barum gu kümmern, daß ber Freund und die Cfílapen es hörten: „Er ijt ein Schmeidhler, wie fie alle! — Nur Seſon war feiner." Tigellin zudte verddjlid) mit den Achfeln und lächelte häßlich. „Sefon nannte Did), o Kaıfer, einen Narren, einen eitlen (eden, einen feigen Mörder. Gewiß, er war fein Schmeic): ler! Gs ijt gut, daß er heute im Birfus verbrannt wird, denn feine Zunge war ge: fährlicher, als ein Dolch.“ Der Präfekt fagte die Wahrheit. Sefon, einjt ein Freund Neros, hatte fid) almäh: lid) voll Grauen von ihm abgewandt und war zu den Anhängern jenes jeltjamen Galilders gegangen, bie in unterirdischen Räumen ihr geheimnisvolles Wefen tries ben. Cr follte heute mit anderen im Bir: lus verbrannt werden, jo hatte es ber er: zürnte und beleidigte Raijer felbjt bes foblen. „Wann beginnt das Spiel?” fragte Nero und gähnte laut. Dann tippte er mit dem Finger auf bie Hand eines der beiden SHlaven. 9% 132 KSVSsSSsesesesesesyy Georg von der Gabelenb: „Meine Sänfte!“ Der Kaijer langweilte fich. Seit eini- ger Zeit gingen ihm nur bóje Nachrichten zu, bitterbóje. Der Wufftand Galbas breitete fid) aus, felbjt fein ehemaliger Freund Salvius Otho erhob die Waffen gegen ihn, die Prätorianer murrten und wurden von Tag zu Tag unbotmäßiger, bas niedere Volk felbit fluchte thm, denn er hatte feine Wohnungen zerjtört. Wie ein unterirdijches Grollen ging es durch Das ganze riejige Neid). Wie war das alles fo langweilig und häßlich! Es verdarb ihm die frohen Feſte und brachte ihn aus der Stimmung, wenn er dichtete. Die äthiopiſchen Leibſklaven ſetzten die vergoldete Sänfte vor ihn hin. Sie war innen mit Purpur ausgeſchlagen, ge— ſchnitzt aus feinſtem Zedernholz und hatte Einlagen aus Elfenbein und edlen Steinen. Der Kaiſer aber, ſtatt einzuſteigen, winkte Tigellin heran. Er ſchob ſeinen rechten Arm in den Arm des Günſtlings, und wankte langſam, denn er hatte einen unſicheren Gang, die Linke auf dem Mar⸗ morgeländer entlang ziehend, einigeSchritte zur Seite. Halblautes Lachen kam aus ſeinem Munde, ein Kichern, das wie leiſe, unreine Flötentöne klang. „Weißt Du auch, mein Tigellin,“ bes gann der Kaiſer mit heiterer Miene, „daß id) heute mid) einmal wieder ſelbſt über- winden will? Es ijt der Gipfel der Lebens: funft, fid) felbjt zu überwinden. Schon Cejon jagte bas. Ich will heute Seſon im Birfus verbrennen fehen. Ahnſt Du warum? Weil man mid) davor warnte!“ — Der Kaifer wurde plóblid) wieder ernjt. „Geſtern abend, als id) mir von dem Ägypter den Stand ber Geftirne er: flären ließ, fie blißten wie funfelnde Edel: fteine am Himmel, da jdjlid) fid) plöglich Veſpaſians alte jiidifde Wahrjagerin an mid) heran. Gie frod) ganz nah, die hagere Hexe, und raunte mir ins Ohr: ‚Hüte Did), Cäſar! Du zündeſt dem Galiläer Tadeln an! Ihr Fladern wird bas Auge Jehovahs aus dem Schlafe weden!‘ Sie haben eine feltjame, dunfle Sprache, dieje jüdischen Wahrfagerinnen. Aber id) verjtand fie wohl. Man jagt, fie Tefen die Zufunft aus ben Gebeinen von Toten unb bem Dampfe blutgefüllter Keffel. Schredlich foldje SUten|djen! Mir würde jogat ein Gericht indifcher Pfauenzungen verdorben, wenn neben meinem Teller ein zerquetjchtes Infekt liegen würde, unb biefe Leute jptelen mit ben Bebeinen von Toten, wie mit gejchliffenen Gemmen. Wlan fagt, fie beten in ihren Höhlen einen Ge — freugigten an. Sie haben feine Schön: heit. Ihr Tempel zu Jeruſalem ſoll ge: ſchmacklos fein. „Du ſchweigſt darüber, Tigellin! Nie mand fol willen, was die Alte mir jagte. — Jd) aber will nod) mehr lebende Fackeln anzünden, daB ich jehe, ob jener fremde [djlafenbe Gott erwachen wird. Es wäre |chön, einen neuen Gott zu finden! — Die unferen find alt geworden. Mir Icheint, Venus jelbjt befommt Runzeln im Gelicht, und ihre Haare werden grau. „Die Menſchen lernten das Spielen mit den alternden Göttern und [udjen frampf: Daft nad) neuen, bie fie mit bem Glitter: tanb ihrer Gebete müjten wollen. „Ich bin ihr neuer Gott! „sch will morgen vor meinem Standbild mir felber opfern! Verfünde bas der Stadt! Die Senatoren follen den Purpur ihrer Logen auf ben Blak vor bem Altare breiten, damit mein Fuß nicht den Staub tritt, den ihre Füße berühren!“ Der Kailer [djwieg. Cr wandte fid, unb um bie biden, roten Lippen grub [ich ein Zug von Mißtrauen und Menſchen⸗ veradtung. Der Präfelt winkte den Sklaven, Nero ließ fid) noch einmal den Schweiß von ber Stirn tupfen und janf dann ächzend auf bas Kilfen, bas den Gib der Gänfte bedte. ,Jtad) bem Zirkus!“ befahl er. Tigellin begleitete die Sänfte. Lautlos, taftmäßig [d)ritten die äthiopi⸗ idjen Sklaven mit ben nadten Sohlen über die Marmorplatten des Bodens, und ihre dunflen Schatten Hufchten gefpenftijd nebenher. Die Muskeln ihrer jehnigen Arme ftrafften fid) unter der Laft der [chweren Sänfte, und bie braune Haut ihrer Balb: nadten, mit duftendem SI gejalbten Glie: der glüngte in der Sonne wie Bronze, über die Der Regen läuft. ESSSSSsSesessssss Die Fadeln bes Baliläcrs. 133 Cie trugen ben Kaifer durd) offene Hallen und Säulengänge, durd) Gärten und über breite Treppen. Noch war der Riefenpalaft des Herrjchers nicht ganz vollendet, an vielen Stellen lagen gewal: tige Werkſtücke aufgejchichtet, Säulen und Rapitäle, dagwijden buntfarbige Mar: morplatten aus Briechenland,, Wfrifa und Kleinafien für die Vertdfelung ber Wände und Böden, polierte Ballen aus Bedern- und Ebenholz, fojtbare DMtarmor- Bild: werfe und Bronzen, zum Teil nod in firobgefüllten Rijten, wie fie zu Schiff aus Griechenland gefommen waren. Witten unter diejer Hellen Bracht lehnte an ber Wand aud) ein ftarres, faft unheimliches Bild, die Statue eines Pharao in ſchwar⸗ gem 3Bajalt. Man hatte fie aus einem ber Felſentempel Oberdgyptens hervorge: wiiblt. Nero betrachtete flüchtig alle Ddiefe Schäße, die feinen Palaft zum herrlichiten der Welt machen follten, und feine Mienen Härten fid) auf. Die Menſchen follten nichts Schöneres fennen, als dies Haus! Das follte bie Paldjte der Pharaonen, die hängenden Bärten ber Semiramis, bie Sale Sardanapals verdunfeln. — Er trieb einen Kultus mit dem Schönen und lechzte nad der Pracht unerhörter Märchen. Darum waren ihm aud) alle bieje Bettler, Sklaven, Ausſätzigen, alle diefe Kranken und Elenden, bieje Schwärmer und tyana: tifer, bie im Dunklen bem gefreuzigten Gotte zuftrömten, ein Greuel. — Der Glanz des Junitages brannte auf bie Dächer bes Palaſtes. Wielgeitaltig warf bie glühende Sonne bie zadigen Schatten der Säulen und Bebäudeteile und ber künſtlich zugejchnittenen Taxushecken über den Weg des Raijers. An einer Stelle, wo ein nieberer Obelisf aus totem Porphyr ftand, lag der Schatten bejonders Ichwarz unb ſcharf queriiber wieein Schlund, den ein Erdbeben in den Mtarmorboden gerijjen, und in biejem Schatten fag ein junger Menſch am Boden, ein Knabe falt. Gr hatte bie Hände über bie feinen Knie gefaltet, bas von braunen Locken umgebene Haupt an die Wand gelehnt und [d)ien mit gejchloffenen Lidern zu träumen. Als ihn bie leifen Tritte der Athiopier aus feinem Sinnen wedten, öffnete er die dunklen Augen und [draft zufammen. Cr erfannte die Sänfte des Ratjers, jprang auf unb wid jd)eu in bas Dämmer eines Ganges zurüd. Neros mißtrauischer Blid war überall, er ftreifte 9Intfi& und Geftalt des Jing: lings, und wie ein Blitz bufdte es über die gelblichen Augen des Kaifers. Er fand die Züge und die Glieder diefes Knaben [djón. Sie erinnerten ihn an die Statue des Adonis, bie in feinem Cpeije: zimmer ftand und der Schule bes Phidias entitammen follte. „Diejer Burjche gefällt mir," fagte er zu Ligellin. „Er fol in meiner Mabe bleiben.“ Der Präfekt wandte fid) nod) einmal nad) dem Jüngling um, und über jein Ant: lik glitt ein fonderbares Lächeln. Der Kaijer wollte ben jungen Menjchen in jeiner Nähe haben, gerade diefen Men— iden? — Der Kaijer hatte wahrlich zus weilen jonderbare Einfälle — Neros Sänfte hielt am Eingang zum Birfus. Die 9itbiopier wollten thn nad) feiner Loge tragen, er aber befahl, thn in der Arena felbft abzufegen. Auf bem Wege Hatten fid) ihm einige Senatoren und Offiziere der Prdtorianer angefchloffen, aud) einige jyreigefajjene und Sklaven batte Tigellin Berbeigewinft und ein Dubend Söldner aus Germanien, deren ftrobblonbes langes Haar, von feinem Helm gebrüdt, in ber Sonne einen Sdim: mer von poliertem Meffing hatte. Ein unbejchreibliches buntes Gewimmel füllte mit Schreien, Zanken, mit Lachen und einander Suwinfen bie emporjtreben: den Range des Gebäudes. Die hellen, vielfarbigen Gewdnder, aus denen ber Purpur der Senatoren bejonders hervor: tad), bedten fo vollfommen den Marmor der Site, daß man den Eindrud hatte, als befände man fid) nicht in einem Gebäude, jonbern in einem langen Tale, deffen Ran: der von ber aufgeregten Menge einge: nommen wurden. Alles war in Bewe- gung, man fprad) über Politif und von Geldgefchäften, man erzählte fid) ſchaurige Geſchichten von diefen Anhängern eines Gefreugigten, bie wie Maulwürfe in den Katafomben haufen jollten, man unterhielt fid) lebhaft über bie Bauten bes Kaijers, die neuen Straßen und Tempel und vor 184 EüREEESSE Georg von bet Gabelen$: §ISSSssseeseeess” allem über feinen Palaft, man ſchloß Wet: ten ab auf bie Namen berühmter Gladia- toren. Mit quietfchendem Geráu[d) wur: ben inbefjen von Maſt zu Malt fchwere Beltleinen an eifernen Ringen ausgefpannt. Cie wehrten von ben Zufchauern die Sonne ab und wurden durch einen fünjtlidjen, feinen Sprühregen feucht und fühl gehalten. Nero hatte feine Sänfte in der Arena nieberjeben laſſen und entjtiegihr, auf ben Arm des Präfelten gejtiibt. Man bemerfte es wohl, aber gegen bie jonitige Bewohn- heit fdjien heute niemand dem Raifer Be: adjtung zu [djenfen. Durch dies Larmen von taufend Mten- fchen und ben Dunjt, der von ber gujam- mengedrängten Menge ausging, waren die “wilden Tiere in ihren unterirdifchen Käfi⸗ gen unruhig geworden. Ein immer mehr anjchwellendes Brüllen und Fauchen Klang aus dem Boden empor. Die großen Raben witterten die Nähe warmen menjchlichen Fleiſches und bilfen gierig in die rajjeln- ben Eifengitter der Käfige. Man hatte Pfähle in den Boden ber Arena gerammt, je drei auf jeder Seite des Eingangs, und lange, unfirmige Bal: len an fie geld)nürt, aus Stroh und Teer geformt. In jedem ftedte ein Menſch. Nero ließ fid) den Pfahl bezeichnen, an dem Sejon angefejjelt war, und ftellte jtd) vor ihn. | Zu unterjdjeiben war nichts, man hatte jogar den Kopf bes Mtannes mit Stroh umſchnürt. „Erkennſt Du meine Stimme, Seſon?“ fragte der Kaiſer. Das Stroh rafchelte feije, und halb er: itidt fam eine Stimme daraus hervor. „sch erkenne Did, Cäfar.“ Ein Lächeln umfpielte die Lippen 9teros, denn bie Worte tönten wirklich [ehr fomifd aus dem redenden Strohbündel, unb er legte fid) in einer einftudierten Bewegung bie infe mit ge|preiaten Fingern auf die Bruft. ,Cag, daß ich größer bin als Dein Gott, Sejon, unb Du bit fret! Cin Wink meiner Hand und die tyadel verlöfcht, bie Dich bedroht — Du Ieb[t!^ Dumpf Hang die Stimme wieder: ,, Sd) will nicht mehr leben!“ Der Raifer wandte jid) ab. Erblinzelte mit den Augen, denn der gre bejonnte Staub der Arena blendete ihn, und fagte lächelnd zu feiner Umgebung: „Es find bod) Narren!” Auf den Arm des Präfelten geftüßt, ging er einige Schritte weiter, und fein Gefolge drängte fid) um ihn, denn er gab einige Bemerkungen über den Wert des Lebens unb den Unwert des Todes zum beiten. Nichts liebte ber Kaifer mehr, als burd) geijtreid)e Ausjprüche und [pibfin: bige Fragen bie Umgebung zu verblüffen, unb er lachte jedesmal, wenn feine Philo⸗ ſophen um eine Antwort verlegen waren. Das fam häufig genug vor, denn es war nicht ungefährlich, eine Anficht zu äußern, bte fein Mipfallen erregen fonnte. Der Borjteher ber faijerfid)en Küchen, ein graubaariger Gallier, machte Nero auf eine Welle dunklen Frauenhaars auf: merfjam, Die aus einer anderen biejer Ichredlichen Strohpuppen hervorquoll. „Ei, feht bod), dies blaue Haar!” be: merkte ber Herrfcher. „ft es nicht ganz blau?“ „Blau wie das Meer,” beftätigte ber Vorfteher ber faiferliden Küchen unb ver: neigte jich. „Du Tintenfilch, dies Haar ift Schwarz!" rief Jtero. Als die germanischen Leibwächter ſahen, daß ber Kaiſer, ftehen bleibend, länger auf dies Haar fdaute, trat einer heran, faBte an die Stelle, wo er das Gelicht ber Ge- fellelten vermutete, und rif das Stroh aus: einander, bas Antlib eines jungen Mäd- dens fret machend. Der Kaiſer mufterte eine Weile die blei- chen Züge, während ihm Tigellin ins Ohr flüfterte: „Die Tochter Gelons." Mit einem leifen Uusruf bes Bedauerns wen- bete er fid) ab. Er rief einen kurzen und bar[djen Be: fehl, ohne fid) an eine bejtimmte Perfon gu wenden, wie es jeine Art war. Einige Knechte des Zirkus traten mit Bechfadeln an bie Pfähle heran, und die Flammen fuhren fnijternb am Stroh in die Höhe. Die Menge ber Zufchauer wurde rubi- ger, man jebte fid), alles [djaute auf die lebenden Fadeln. Da lief fid) der Raifer eine Leier reichen, unb in einer jener plöß: lichen Anwandlungen, die all fein Tun fo unberechenbar machten, fang er ein felbft: 2.253525 2,252 2. 2) 2) 25) ee gedichtetes Lied, einen Hymnus auf bie Größe unb Schönheit bes Sonnengottes. Der Raifer hatte einjt eine wohlflingende Stimme gehabt und ihre Ausbildung den eriten Sängern anvertraut, aber fie war nicht Stark unb feit einigen Monaten durch den Genuß bes [djmeren jami|djen Weins, den er [o liebte, rauh und fladernd ge: worden. Und während er fang, wälzte fid) ber Rauch der brennenden Strohpuppen über den Sand der Arena, denn die Sonnenglut drüdte ihn herab. Aus der Tiefe drang bald dumpf grollend, bald laut anjchwel: Tend bas Gebrüll ber Dungrigen Tiger und bas Geheul der Wölfe, bie ben Gerud) verbrannten Fleiſches witterten, und mijdjte fid) mit dem Geflirr ber eijernen Käfig- türen und dem Rnijtern bes brennenden Strohs. Manchmal verjtummten pie Be: (tien plóblid) wie auf Kommando, um dann ebenjo unvermutet alle auf einmal von neuem zu toben. Männer und Frauen ftrecdten die Hälfe vor unb ftarrten auf die Feuerfäulen, Fun: fen flogen aus dem dichten Qualm. In einem Augenblid, als Nero zwijchen zwei Strophen eine Pause machte und die Tiere mit ihrem Larmen innehielten, hörte man die Stimme eines fletnen Mädchens: „ach, wie [djabe, dak man die Belichter von biejen [chredlichen Menſchen gar nicht jeben kann.“ Der ftaijer hatte die dritte Strophe feines Liedes beendet. Cr [djaute fid) im Kreije um und mufterte Iauernb die Ränge des Birfus. Nur wenige Hatjchten ihm Beifall, und auch diefe Itegen ſchnell und verlegen ihre Hände wieder in den Schoß jinfen. Da gab er bie vergoldete Leier einem der Diener zurüd und unterbrüdte die vierte Strophe. Gelbe Flammen ent: zündeten [id) in feinen Augen, feine Stirn rungelte fid) böfe, jeine Zähne prebten jtd aufeinander. Der Präfekt bemerkte bieje Anzeichen eines drohenden Ungewitters und trat Ichnell zu ihm mitdem Ruf: „Die Bewun- derung macht fie ftarr! Mean jollte Dir ben Lorbeer des Dichters reichen, o Cäſar!“ „Barum flat[djen fie nicht ftärfer Bei- fall?” zijchte Nero. „Hat die Bande mid) nicht gehört ? Hätten fie alle nur ein Paar Hände, fo ließ ich es ihnen auf der Stelle Die $yadeIn des Baliläers. SESZFZZEZZZZEZEZN 135 abhauen, denn fie wiffen nicht, was fie mit ihnen zu tun haben!“ Ingrimmig zudte es auf feiner niederen Stirn, über bie das Haar in bidjtem Ge- lod hereinhing. Indem er fid) mit einem feidenen Tuche bie Stirn und bie gejd)mint: ten Wangen abwifchte, wandte er fic) ber Sänfte zu. Einige teerbe|pribte Strohrefte lagen auf dem Sande des Bodens, Nero hob mit gezierter Bejte bie purpurumjäumte Loga und ftieg vorlichtig darüber hinweg, Jo daß man bie roten Stiefel jab und die hohen Abſätze, bie er trug, um größer zu erjcheinen. Aus den Kellern herauf lärmten jest wieder bie gefangenen Tiere, während bro: ben auf den Cibreiben die Menge jchrie und ungeduldig verlangte, ber Raijer möge in feine Loge fommen, damit enblid) bie Spiele der Bladiatoren ihren Anfang neh: men fónnten, denn man begann fid) zu langweilen. Bon ben glimmenden und balbverfohlten Pfählen rollte ber Raud) wie eine graue Schlange auf den Herrfcher und fein Gefolge zu und verhüllte fie einen Augenblid ganz mit feinen beißenden Nebeln. Nero hielt die Hand an die Male und Ichloß bte Augen. Da verfing fid) fein Fuß in den Falten der Toga, der Saum des langen Gewanbdes rif ab, und ba der Kai: jer furg vorher jid) vom Arm des Präfelten losgemadjt hatte, ftolperte er und fiel in die Knie. Das Gefolge richtete den ſchweren Mann wieder auf. Das war ein böfes Vorzeichen, und Nero, ber troß feiner Spottjucht febr abergláubijd) war, Jah erjchroden um fic). Da trafen feine Blicke bas häßliche, fal: tige Gejicht der alten Wahrjagerin, deren Augen aus dem wallenden Rauch hervor: jtad)en, wie bie Augen einer Rage im Dunfeln. Niemand hatte bemerkt, wie [ie fid) her: angeichlichen. Sie jtredte ihre fnodjigen Arme bejchwörend gegen den Kaiſer unb taunte: „Die Gadeln bes Galiläers!“ Dann jdjmanb fie. Als Nero rief, man follte die Hexe ein für allemal fortjagen, war jie nicht mehr zu finden. Übelgelaunt ftieg der Kaijer in feine Sänfte und befahl den Äthiopiern, ihn zu: tüd in ben Palajt zu tragen. Das Spiel [odte ihn nicht mehr, und feine Augen 136 Bex) Georg von ber Gabelen&: RBBBSSSSSSGSSSA hatten mandjerlet entdedt, bas ihm nicht gefiel, ja ihm Sorge bereitete. Es ‘ging etwas vor in Rom und in fet: nem Reiche. Bis jebt hatte er es nicht jeben wollen. Niemand hatte fid) vom Sis erhoben, als man ihn in die Arena hereintrug. Die Prätorianer, diefelben, die ihn zum Herr: cher ausgerufen, die ihren Herrn jonjt mit Heilrufen zu begrüßen pflegten, hatten finjter gejdwiegen. Die Senatoren hatten ihm den Rüden gelehrt und weggefehen. Die Freunde, bie fid) fonft um ihn zu ſcharen pflegten, waren fajt alle fernge- blieben. Sollte Sefon recht behalten, ber ihn ge: warnt, er ftehe vor einem Abgrund? Und was war das? Als man ihn durch die Hallen bes Palaftes trug, begegnete er mit einemmal nur noch wenig Dtenern und Soldaten. Sie lehnten nicht mehr wie Jonjt in Gruppen unter den Toren und an den Treppen, fie drängten fid) nicht wie fonft herbei, ihm den Saum ber Toga zu tüjfen! Auf feinen Wink hielten bie Athiopier und jebten bie Sänfte zu Boden. Es war in einem der Fleinen Gärten, bie bie ftei- nernen Maſſen des Palaftes anmutig unter: brachen. Die feltenften Blumen und Büfche dufteten in ihnen und erfüllten bie Luft mit dem Geruch ihrer wunderbaren Rnoj- pen. Da waren in fünftlichen Waſſerbecken Lotosbliiten von den Ufern des Nils, auf fruchtbaren Beeten wucherten grellfarbige, inbi|dje Gewächſe, bleiche, perfifde Rojen und roter Mohn aus Thrazien, und um dunfle Marmorfäulen fchlangen fic) die blauen und gelben griedjijd)en Winden. Der Kaiſer vertaufchte er[t die zerrijfene Toga gegen eine neue, und während die Vthiopier neben der Sänfte ftehen blieben und fid) in ihrem fremden Kauderweljc) flüfternd unterhielten, fchritt er einer [tei- nernen Rubebank zu und ließ fid) ächzend auf ihr nieder. (Yr war durftig geworden unb rief, daß man ihm gewürzten Wein bringen folle. Tigellin trat in eine der nächiten Türen und fam bald darauf mit einem Syüngling zurück, ber einen goldenen Becher auf gol: dener Schale trug unb fic, bas Rnie beugend, mit gejenftem Haupte bem Cajar anbot. Nero [tredte die fleifchige Hand nad) bem Pofal. Da er aber Gift fürchtete, wandte er fid) an ben Präfekten und befahl biejem, guer[t aus dem Becher zu trinfen. Tigellin lächelte verfchmigt und nippte von bem Beine, bann tranf Mero mit haftigen Zügen den Becher Teer. Seine Hand, die das Gefäß auf das Brett zurückſtellen wollte, blieb plößlich in der Luft ftehen, feine Heinen, zufammenge- Iniffenen Augen faugten jid) fejt am Ant- lig des Knaben, der fid) eben aufrichtete. „Bit Du nicht ber, dem id) don vor einer Stunde begegnete?” fragte er. Der Knabe nidte ftumm. Er trug ein furzes, weißes Gewand, bas ein Gürtel über den |d)fanfen Hüften mit einer bron: zenen, jilberbejchlagenen Schnalle feftbielt. Ein furges Schwert hing an diefem Gürtel. Der Kaifer ließ den Becher auf das Brett niederfallen, bas gab einen [o harten Klang, daß bie Äthiopier im Hintergrund die Köpfe erhoben und zu ihm hinüber: blidten. Nero wilchte fid) mit den diden Fingern die Lippen. „Diefe Züge [ah ich heute [chon einmal," jagte er jtodenb, ohne ben Blid vom Ant: lig des Jünglings abzuwenden. Tigellin nidte. „Bewiß! Wir begegneten dem Knaben, als Du Dich in der Sänfte nad) bem Bir: fus tragen Tießeft.“ Doch die Worte verflogen ungehört, der Kaiſer achtete nicht auf fie. „Sc [af bieje Züge [don einmal,“ wie: derholte er diifter. Dann plóblid) machte er eine erfennende Gebdrde, und fable Bläffe überzog fein (De: fict, aber nur für einen Augenblid. Gleich gewann Mero feine Selbſtbeherrſchung wie: der. Er gog den Smaragdring vom Finger und warf ihn flappernd auf das Goldbrett. „Da, Knabe, nimm den Ring für den Wein! Er macdıt Dich reich.“ Der Jüngling hatte bisher jdjeu und ehr: fürd)tig vor dem Herricher der Welt ge- jtanben, als er aber ben gleißenden Reifen über das Brett rollen jah, zucte er zuſam⸗ men, als habe er einen Streich empfangen mitten ins Gejidjt. Seine Hände bebten, unb feine Augen wurden dunfel. „sc diene Dir, o Raifer,” fagte er mit zitternder Stimme, „denn id) ver|prad) es FSscscessssessaesy Die Fadeln bes Galilders. BESGSSSssessd 137 meinem Vater, ber Dich liebte. Du aber warfit ihn ins Gefängnis, id) nehme feine Gefdenfe von Dir!“ Der Sohn bes Sefon kannte die Wahr: heit nur Balb. Er wußte nod) nicht, daß jein Vater und feine Schweiter eben auf Befehl Neros getötet worden waren. Den: nod) fapte er ben Ring und — warf ihn bem Herrfcher zu Füßen. Tigellins Fault fuhr nad) dem Schwert, aber Nero wehrte ihm. Über fein feiltes Geficht zudte es jeltjam, halb grimmig, halb verddtlid. Den Ring, der vor bem Purpurfaume feiner Toga im Sande fun: felte, fchleuderte er mit dem ube lächelnd leitwärts in ben Rajen. „Du bijt febr ftolz, Knabe,” fagte er mit feiner hohen, etwas [charfen Stimme und lehnte jid) in die Banf guriid. Dann zudte er die Achſeln. „Die Sperlinge |pielen vor dem Rachen des Löwen. — Geh! Es macht mir feine Freude, Dich töten zu Tajjen." Der Jüngling entfernte fid) eilenbs, und ein Blick aus den gelben Augen Neros traf den Präfelten. „Du batteft es mir vor einer Stunde jagen follen, daß dies ber Sproß Cejons ijt. — Gr gleicht feiner Schweiter. Das find diejelben Augen, der gleiche Mtund, biejelbe Naſe. — Menjchen, bie ich einmal genau anjab, erkenne id) nod) nad) Jahren wieder,” lebte er jelbitgefällig hinzu. Tigellin wollte antworten, aber lautes Lärmen in der Halle, bte ben Garten auf der einen Seite abjdjloB, enthob thn ber Mühe fid) zu rechtfertigen. Cin Dann ftürmte herein, unangemeldet gegen bie ftrenge Sitte des Hofes, und beugte ein Knie vor bem Kaiſer. Zwei Legionare der Palaſtwache, die ihn hatten zurüdthalten wollen, blieben am Eingang des Gartens (teen, unb einer zeigte lachend bem Kame⸗ raden ein Ctüd vom Ärmel des Fremden, bas er diejem im VBorbeiftürmen abgeriffen. Der Fremde mußte von weither fom: men, denn er trug Sandalen, wie man fie in Gallien fertigte. In Rom galt dtefe Art von Schnürung für veraltet, und ber Kaiſer bemerfte bas jofort. Er war in ber Tat mit ber Eilpoft von der entfernten Provinz nad) Rom gejagt und brachte Runde von dort. Die Feld: herren (Galba und Otho marjchierten gegen den Kaiſer und verhandelten offen mit bem rebelliichen Senat. Auch die bisher treu: gebliebenen Legionen und ihre Offiziere verweigerten den Behorfam. Die Provin- zen verlangten nad) einem anderen Herr: ſcher, ja felbjt in Rom — — Der Präfelt hatte aufgeregt zur Seite gejtanben. Jet aber [türate er fid) auf den Boten. Er unterbrad) feinen Wort: jhwall, indem er ihn am Arm padte, Ichüttelte und ihm zufchrie, zu [chweigen. Die Soldaten fprangen herzu, und er bez fahl ihnen, ben irrjinnigen Gefellen, ber nur gefommen fet, die Ruhe des Herrichers gu ftören, aus bem Palajt zu jagen. Das alles gejdjab fo rajch, bap Nero nicht Zeit fand, fid) Hineinzumifchen. Vielleicht aud) wollte ernicht. Als Tigellin, der mit den Soldaten und dem jid) jträubenden Boten hinausgegangen war, endlich au ibm guriidfehrte, fag ber Raijer noch immer auf der Gartenbanf, indem er unruhig mit bem roten Zeberjdjul) auf den Boden flopfte. Nun aber erhob er ftd), und ohne fid) ber Sänfte gu bedienen, fchritt er einer Treppe gu, bie zu einem anderen Teil bes Palaſtes leitete. Raum hatte er mit bem Präfekten ben Garten verlaffen, als die Äthiopier fid) an den Boden warfen und um den Smaragdring des Raifers balgten. Ä Während Tigellin voll Eifer diefe böfen Nachrichten bes Boten für eitles Geſchwätz und Schwarzieherei erklärte, [tieg Nero eilig die Stufen der Treppe empor. Gie führte auf einen Soller, über ben von ver: goldeten Holzfäulen aus bet Sonne oder Regen ein Dad) aus bejtidtem Stoff ge: jpannt werden fonnte. Jetzt war der Vorhang zurüdgezogen, denn ber Tag näherte jid) feinem Ende. Ein leifer Wind hatte fic) erhoben und be- wegte bie Wipfel der Zypreffen auf dem Palatin in den Palajtgärten der Cajaren. In einer Ede ftand ein elfenbeinernes Lager mit [eibenen Kiffen bebedt, auf deren einem nod) eine vergoldete Leter bes Rai: fers lag. Nero bejaß eine ganze Gamm: lung davon, in jedem Saale mußte eine hängen, unb es machte ihm Freude, immer wieder auf einer anderen ben Berfammelten feine Gedichte vorzutragen. Diefe ftammte aus Athen. Sie war der jagenummobenen Leier bes delphifden Apoll nachgebildet unb ein Geſchenk ber griechijchen Künitler an den Saijer, den größten lebenden Did): 138 ESSsSesesessssq Georg von ber Gabeleng: BEIIIIZEZIZIZIZIZZA ter, wie in griechiſcher Sprache auf ihr ein: graviert [tanb. Nero hatte fie auf feiner abenteuerlichen Kunftreije erhalten. Als er fie erblicdte, hob er [ie eilends auf. Seine Züge erbellten fid), er griff einige Akkorde auf ihren Saiten, febte ftd) dann auf bas Rubebett und wolltefingen. Aber jeine Stimme war ganz heijer, wie es ibm immer gejdah, wenn er aufgeregt wurde. Da lehnte er das Inftrument weg und be: merkte plößlich: „Welch ein Künftler jtirbt in mir." Tigellin erftaunte über bas Wejen des merkwürdigen Mannes. Konnte er nod) an Geſang benfen, während rings das Reid) in allen Säulen wantte und taufend Ge: fahren fein Leben bedrohten? Aber als jet dieje Rube nur äußerlich und fünjtfid) erzwungen gewejen, jo veränderte fid) Ne: ros Art mit einmal, unb feine Augenbrauen zogen jtd) büjter zufammen. Die Nachrichten des Boten hatten thn aufs tteffte er|d)redt. Einen einzelnen Gegner hätte er nicht gefürchtet. Ein einzelner ließ lid) töten. Seinem Mißtrauen und feiner Feindſchaft waren [djon jo mandje geopfert, Britanni- cus, Pijo, Lucan, Geneca, feine Mutter, jetne Gemahlin Octavia, hundert andere. Und er hatte nie gezaudert und nie bereut, auch wenn er bedauerte. So trug er zum Beifpiel am Hale eine foftbare, gefdnit: tene Gemme, die ber Lieblingsjchmud jeiner Gemahlin Octavia gewejen war, und bie jie bet fid) getragen, als die Abgejandten bes Raifers fie töteten. Cr legte bteje Er: innerung an die [d)óne und unglüdliche rau nie ab, und Tränen traten ihm fogar zuweilen in bie Augen, wenn er fie be: trachtete. — Nein, vor einzelnen Menſchen bangte er nicht. Aber verderblich, furchtbar war diefe Macht eines ganzen Volfes, nein von hun- bert verjchtedenen Volfern, bie aus bump: fem, gärendem Haſſe [tieg, wie der Fieber— bunjt nachts aus den pontinijdjen Sümpfen fodjte. Das war wie eine Hydra, der man umfonjt die Köpfe abjchlug. Nero wijdte fid) von neuem über bie ſchweißfeuchte Stirn, er öffnetedas Gewand über feiner weißen fleifchigen Bruft, die der 3Brujt einer Frau glich. . „Wo tft die Kaiferin? Wo ijt Poppda Cabina ?^ fragte er. Tigellin lächelte verjd)mibt. „Die Kaijerin ijt feit mehreren Tagen in Gampanien. Gite wollte — der Hike der Stadt entfliehen.” Die Athiopier, bie den [trengen Befehl batten, bem Kaiſer [tets mit feiner Sänfte - zufolgen, erichienen wieder im Hintergrund. Sie hatten den Smaragd Neros gefunden und [id) geeinigt, thn für gemeinfame Rech— nung zu verlaufen. Beim leijen, jchlürfenden Geräufch, den thre nadten Füße machten, blickte fid) der Kaiſer miBtrauijd) nach ben bunflen Ge- Jelfen um, dann ftredte er jid) lang auf bas Rubhebett, ſtützte das runde Kinn auf die über die Lehne gelegten Arme und [chaute nach dem Himmel. Vom Meere her quollen Wolfen auf. Sie waren [djmer von dunklen Farben und famen wie ein wanderndes Gebirge mit tiefen Schluchten und aufgetürmten 9Dlaj- fen. In fablem Licht ftand der Himmel, und bie weißen Mauern vom Tempel bes fapitolinijden Zeus, bie Paläſte der Gd: jaren, die Säulen der Bajilica Julia, das Haus ber Beltaprieiterinnen und die Tem: pel bes Forum wurden bleich im Dämmer: Ichein, als feten [ie aus Totengebeinen er: richtet. Vom Forum herauf drang dumpfes Ldrmen. Ab unb zu fdwieg es, und man unterjd)teb undeutlich einzelne Stimmen, als hielte jemand laute Reden ans Volt, dann brad) bas Befchrei von neuem los unb immer lauter als vordem. Soweit man die Straßen überjehen fonnte, brüng: ten fid) bie erregten Mtengen hin und her auf ihnen, wie Ströme, die in einer engen Bucht durcheinander fluten. Mtan jab unter den hellen Togen ber Männer und den bunten Gewdndern von Frauen aud) hier und dort bie eijernen Schyulterringe und Helme von Offizieren und Soldaten auftauchen, Als die Dämmerung wuds, hujchten brunten die matten Lichter Keiner Olam: pen und bie raufchenden Flammen von Fadeln Hin und wieder wie bie Glüh— inürmdjen tn einem Gebiijd. Der Präfekt hatte das Treiben nicht ohne Gorge erblidt. Gr rief einen Sklaven an, ber für den Kaiſer eine Schülfel frifcher Datteln auf einen Marmortiſch ftellte und verlangte den Befehlshaber ber faijerfidjen Palaftwache zu fprechen. Dann wandte er fi) an Nero. „Es wäre vielleicht gut, die Stadt gleich: falls zu verlajjen. Poppäa Sabina wird fid) nach ihrem Gebieter jenen." Der Kaijer hatte unausgejebt auf bie jteigenbe Wolfenwand gejtarrt, bie über ben Whendhimmel empor[türmte, wie ein Ichwarzes, langmähniges Rok. Und ber Sturm ritt auf diefer Wolfe und griff rüt- telnd in das gujammengerollte Seltbad) über Neros Haupt, daß die goldenen Tra: ger ächzten und die Enden der Leinwand flatterten. Schnell erhob fid) ber Ratjer. Da flammte ein Blit hervor aus tiefem Wolkenſchlund und warf prafjelnd feinen Donner über Rom. Die Augen des Kaiſers zudten geblen- bet von bem grellen Schein: Auch ber Präfelt bedte bas Geſicht mit der Hand. „Dieſer Bli glich einem ungeheuren Schwert,” ftammelte er. „Bas jagit Du?” ſchrie Nero. „Einem Schwert? Das war die Tadel des Bali: läers!" — — Eine [djfanfe Beftalt wurde in der Tür zum Söller jichtbar, mit leijen Schritten trat zwijchen bie beiden Cejons Knabe, beugte fic) an das Ohr Tigellins und raunte ihm eilig etwas zu. Da [tubte ber Präfelt, dann warf er eine furge undeutliche Be- merfung bin und rannte an ben Athiopiern vorbei hinaus. Der Knabe blieb wenige Schritte hinter bem Raijer ehrerbietig ftehen. Beide beobachteten jtumm das Gewitter. Wieder zerrig ein blendender Blit die Wolfen, und fein Licht jagte ge|penjti[d) über ben Mtarmorboden, als [djójje eine Welle flüffigen Silbers über bie Duadern. Schwere Tropfen fielen Hatfchend auf bie Steine, ba ſchlug der Kaifer fic) die Toga enger um die Schultern und verließ den Siler. Er rief nad) den Athiopiern, fie waren nicht mehrda. Unbewacht jtanb bte Sänfte. Waren die zeigen vor bem Ungewitter ent: flohen ? Nero durchſchritt einen Gang und betrat einen fäulengefchmüdten Saal, — er war leer. Sonit trieben fic) in ben Borzimmern bes Raijers immer eine Mtenge Männer umber, Beamte, Dichter, Philofophen, Die Fadeln bes Galilders. ISQGesesessssd 139 Dffiziere, reiche Batrizier und Senatoren, fremde Abgefandte, angefehene Männer aus allen Landern von ben Küjten der Atlantis bis zu den indifchen Strömen, die im Pas laft eine Audienz, eine Einladung zum Gaſtmahl erwarteten oder irgendwie Wert darauf legten, in der Nähe bes Herrſchers zu bleiben. Noch vor furgem mußten Men: ſchen im Saal gewefen fein, denn auf bem Moſaikboden, ber einen Gladiatorenfampf zeigte, lag eine vergejjene Pergamentrolle, und über einem Brongefeffel hing ein gel: ber hilpanifcher Mantel. Auch ber nád)ite Raum war leer, und Jo die folgenden. Den einen ſchmückten nod) die Lieblingstrophden bes Herrfchers, Lor: beerfränze aus Gold, Silber, Bronze. Nero eilte weiter, er rief nach Tigellin, es fam feine Antwort. Da nahm er ben Klöppel und [djlug an ben Bronzefchild, ber zwilchen zwei Säulen bing, um feine Sklaven aufmerfjam zu machen. Laut gellte das Zeichen Durch die verlaffenen Ge: mádjer. Der junge Cejon glitt an feine Seite. „Herr, Du befiebI[t?" Der &aijer |d)raf zufammen. Sein Auge ſchielte. Er fchiittelte fid), als fähe er eine Viper neben ſich. „Du? — Wo ijt ber Präfelt? Wo find Die nen Wo find meine Leibſkla⸗ pen ?" „Herr, fie find fortgegangen!” „Rufe fie! Ich habe ihnen nicht erlaubt, fortzugehen !^ Schon wollte der Jüngling fid) entfernen, ba winfte ihn Nero zurüd. „Nein, bleib! Ich will jemand bei mir haben.“ Er madjte mit einmal fehrt und lief über einen offenen Hof, in be|len Mitte ein flacher Walfferfpiegel von einem Bronzedelphin ge|peijt wurde. Rings um bas Beden aus gelbem — griedjijden Marmor ftanden Standbilder. Wud) diefer Hof war leer unb Ode. Von neuem zerriß ein Blitzſchein bie Schleier der Dämmerung. Als habe er einen Schlag befommen, taumelte der Kaijer zurüd. Der Wider: ſchein des 3Blibes flog wie Flammen über bas bewegte Wajfer, und der Donner wälgte jid) über den Palaſt. „Die Fadeln des Baliläers!” [d)rie Nero 140 Basses ©. v. b. Babeleng: Die Fadeln bes Galilders. ise und umflammerte das $janbgelenf bes Siinglings. Dann fchleuderte er ihm ins 9IntIib: „Sag’, Anabe, fie lehren, ber Gott, den ihr in Höhlen anbetet, ber gefreuzigte Gott jet fehr groß, — fet überall! — Sit das wahr ?“ Der Gefragte wollte antworten, aber da brüdte ihm ber Kaifer die Hand auf den Mund und hordte hinaus. Mit dem Dröhnen bes Corners lang etwas anderes, etwas Neues, etwas Furcht⸗ bares durch bie weiten Hallen. Waren es menjdhlihe Stimmen, ober hatte man die Beftien aus der Arena aus: brechen lajjen? Das war ein Schreien, Sohlen, Brüllen, ein Kreifchen von Wei- bern und Fluchen von Männern. Und es wuchs, es ward ſtärker, greller, fürchter: licher von Augenblid zu Augenblid. Waffen Hirrten, und fietdnten wie Mord. Rufe gellten, und fie fangen wie Tod. Jetzt hörte man deutlicher unb immer wiederfehrend Stimmen von Dlännern und rauen, raube, gellende, heulende Stim: men: „Tötet ben Tyrannen! Zertretet den Elenden!" — — Mero verfärbte fid). Aus feinen weit aufgerifjenen Augen ſchoß ein böfes Leuch- ten, Schweiß riejelte thm über bas gebun: jene Antlitz. Cr warf mit der Gebdrde eines verzweifelten Gebetes die Arme em: por, daß ihm bie Goldjpange an der Schul: ter gerjprang und die Purpurtoga zu Bo- den glitt, jtarrte in den Himmel, der aus feurigem Raden Blige zur Erde [pie und flebte: „Jupiter, Dein Sohn ruft! Ber: brenne bieje mit Deinem Feuer! Sermalme fie unter den Mauern — und id) werfe dies ganze Rom auf Deinen Altar!“ Des Kaijers Stimme war gräßlich an: zuhören, denn es war nur noch etnraubes Kreifchen. Cod) Jupiter gab fein Zeichen. Da rif Nero ben Jüngling mit fich fort in einen langen und finjteren Gang, ber von mad: tigen Mtauern überwölbt in einen verbor: genen Ausgang des Palaftes münbete. Uber die Verfolger famennäher. Pld: lich ericholl deutlich bie Stimme bes Prä- feften Tigellin: „Hierher! Da liegt feine Loga! Hier muß er fein!“ Fackeln zudten über den Köpfen der Wiis tenben, eine Schar Prätorianer fudjte in bem Bang hinter dem Fliehenden her. Der Saijer feudjend, erfchöpft von dem Hin: und SHerrennen, bas fein verweichlichter, entnervter Körper nicht aushielt, lehnte fid) an bie falte Steinwand, die Hand aufs Herz gepreßt. Durch fein fieberndes Hirn jagte die Er- innerung an die Worte der jiidijden Wahr: fagerin. Nichts anderes fah er im Schein der Blite, in der wehenden Glut ber Ved): fadeln als immer wieder die gräßlichen gadeln, bie er im Zirkus entzündet und bie den fremden Gott geweckt hatten. Jetzt fand er ihn, ben bie Welt fuchte. Aber er fand ihn im lodernden ‘Flammen: idein, und fein Antli war graulig, wie der Brand einer Welt. Da [djfoB er frampfhaft bie Augen. „Nimm Dein Schwert und tóte mid) !" ächzte er unb rif bas Hemd am Halje auf. Kein Stahl ribte ihn. „Nimm Dein Schwert und tite mid! Ic babe Deinen Vater und Deine Schweiter . verbrannt !^ ſchrie er Dem Jüngling zu. Kein Stahl ribte ihn. Er öffnete bie Augen. Seſons Knabe ließ bas ſchon erhobene Schwert fallen. „Du [olljt nicht töten!” fam es von fei: nen Lippen. Raſch aber büdte fid) Nero, hob bie Klinge auf und fette bie Schärfe auf feme Kehle, bod) feine Hand war ſchwach und attterte. Da ftand ber erfte ber Verfolger vor thm. Es war einer der ergrauten Prätorianer, die ihn einft auf den Schild gehoben und zum Cäſar ausgerufen hatten. Cr jtubte, als er im Salbdunfel fo plößlich ben Rai: Jer vor fid) Stehen fab. Der erfannte ihn, unb es war feltjam, in diefem Wugenblid, da er alles verloren jah, hatte er nur den einen eitlen Gedanfen, vor biejem Knaben, dem er die Seinen ge: mordet, und vor dem fchlachtengewohnten Soldaten als Herrjcher zu jterben. Er trat vor den Prätorianer, redte [id) bod) auf und reichte ihm mit ber großen Handbewegung, die er bei Schaufpielern gelernt hatte, das Schwert hin. „Stoß Du zu, Burrus!” rief er befeh- lenb und breitete bie Arme aus. Der Prätorianer zögerte die Kürze eines Augenblids, ba aber erreichten Tigellin unb bie anderen den Raum. Raſch jtieB er gi. bseee---2] Werner v. D. Schulenburg: Der Marmorfopf. Der Raijer fiel [d)mer zu Boden, Blut quoll aus ber breiten Wunde. Der Präfelt beugte fich über thn, man leuchtete mit Fadeln in fein Gefidt. Da umfpielte ein verächtlicher Zug die Rippen des Sterbenden, er richtete ſeine gelben, [djon halb erlojchenen Augen auf Tigellin mit ben Worten: „Ein Gott jtirbt in mir!“ — — ESSSA 141 Zitternd ftand Tigellin neben der Leiche feines von ihm verratenen Bebieters, die Gladiatoren erfannten ihren Herrn und ſchlichen davon. Eine zu Boden geworfene Fackel jchwelte im Blute des Ermordeten, ber wie ein ge: tötetes Opfertier dalag, und ihr Glanz rubte hell, leuchtend fajt auf ber Gejtalt des Knaben. Der Marmorfopf. Ron YB. von der Schulenburg. Du Schöner Mund willjt endlich [predjen, Shr Lippen, blumenzart und blak? Du willit bas große © — brechen, Du Geiſteskind des Phidias Du will i ag von den Nächten, Wo veildenblau das Meer geträumt, Und wo in tiefen en Das Lodenhaupt 9teptuns gejchäumt? Geit Monden Hagt Dein ftummes Trauern Sn diefem herben — — Daß ich aus den beſonnten Mauern Der Platoſtadt Dich nordwärts trug, Daß aus dem Schutt der Antiquare Ich Dich nee furzem Wägen rif, Aus all der bunten Handelsware Im Schatten der Akropolis. pon gehn wie — Geſpenſter ie Sonnenſtrahlen ein und aus; Sie huſchen durch das breite Fenſter In mein umgrüntes Gartenhaus. Und endlich, nach verhaltnem Schweigen, Das nie bis jetzt Dein Mund — Entſtrömt ihm heut ein Trauerreigen Von Worten, wie ſie Plato ſprach: „Warum haſt Du mir noch genommen Das letzte, was mir teuer war? Warum biſt Du zu uns gekommen, Du junger, forſchender Barbar? Und warum nahmſt Du mir das Glühen, Den ſilberweißen Sonnenglanz, 4 Die Sterne, bie Durchgoldet ziehen Am blauen Himmel § riechenlands ? Das war ber Reft, ber mir geblieben In bieles Lebens Backhanal. Ih durfte meine Heimat lieben In ihrem hellen Lichterftrahl. Ich träumte gwijden Blumentiffen, Und dachte ferner Tage nicht. Nun haft Du mid) dem Glück entrijfen, Du nahmſt das Leben unb bas Licht.“ Ic laſſe meine Augen ruben Auf diefer Züge erniter Pracht: „Sei ftil! Es wird aus fee Truhen Ein Bild erfteigen aus der Nacht. Dann follen Deine Blide gleiten Ho liber biejes Pergament. ir jchweben in durchſonnte Weiten, Ins Land, bas Deine Seele fennt.” CErwadend, durd) das Zimmer flingen Die tiefen Worte, voll und ſchwer. Du wirft den jüBen Frieden bringen, Du Menſchheitströſter, mein Homer. Du läßt uns tief Das Herz erbeben, Du reißt bie franfe Geele mit, Wir müſſen weltentriidt erleben, Was Dein erlauchter Dulder litt. Und langjam, langjam zieht die Trauer Bon diejem Mtarmorangefidt. Es löſen fid) bie bleidjen Schauer Und zitternd dehnt es fid) im Licht. Dann gleitet ein burdjjonntes Lächeln Durch jeiner Züge Rümmernis, Wie Frühlingswogen mild umfächeln Die Eäulen der Akropolis. i Der Hofitaat des Königs von Siam. i Y Perfsnlide Erinnerungen an König Chulalongforn. J Bon Dr. Georg Schulze, Kaijerlicher Konſul a. D. Y ar eS Se ee IE IE IL IE IE IL IT. Is id im Jahre 1903 in Java bie Nachricht erhielt, daß ich an bie deutihe Bejandtichaft — Damals allerdings nod) Ditnijterrefidentur — in Bangfof verlegt fet, war mein eriter Gedanfe: ‚Das nenn’ id) einmal Glüd! Nun werd’ id) König Chulalongforn von Siam fennen lernen.‘ — Die Herrlich: leiten tioptider Lande hatte ich nachgerade fattjam gefoftet. Ich batte in der Wunderwelt Geylons, bem „Paradieje der Erde“, ge: fdjmelgt und wandelte augenblidlid) unter den Palmenhainen des granbiojeiten „Bo= tantjden Gartens“ auf Gottes weiter Welt, wo auf verträumten Weihern bie feujche Lotosblume hi? wiegt, wo bie Riejenfarn- wedel über Rok und Reiter gujammenjdla: en, wo ber Marmorpalais bes holländijchen ouverneurs aus dem fatten Griin raujchen: der Palmenwalder lugt. König — korn! Von dem man im Lande ſoviel ſprach, mit deſſen Namen man die Vorſtellung eines echt indiſchen, dabei für alle modernen Bes jtrebungen empfänglichen, reformfreundliden Herrjchers verbindet, ben Bildungsdrang unb Reiſeluſt ja gerade aud) nad) Java, der bollánbijd)en Muſterkolonie, geführt hatten, wo er mit wahrhaft téniglidem Brunt und orientalifcher Freigebigfeit aufgetreten war. Im Welten madjt man fid) von fold ins difcher Fürftenherrlichteit leicht übertriebene SBoritellungen, zumal wenn man wohl gar von den edeljteinbejegten Schabraden rrefiger Prunfelefanten in ſchwülſtigen Reiſeſchilde— rungen lief. Und gerade um bie — des Herrſchers über Volk und Land des weißen Elefanten und ſeinen königlichen Hof: halt bat jid) in romantischen Curopderfdpfen ein ſolch geheimnisvoller Nimbus gewoben, von dem auch ich vor meiner inbildjen Zeit nicht frei getvelen bin, daß es mir jebt dop⸗ pelt reizvolle Aufgabe bünft, Dichtung von Fer ba durch perjönliche Anfchauung zu eiden. Der Wunſch, auf befdranftem Raume ein möglichſt erjchöpfendes Rulturs und Cha: ratterbild zu geben, nötigt mid), zum befjeren Verſtändnis jener höchſt eigenartigen und immerhin komplizierten Berhältnifjfe einige erläuternde Bemerkungen voraus3zujdiden. — Siam ift ein Land, in bem cine in den tiefen Lehren des Buddhismus wurzelnde, uralte Kultur mit modernen Reformbeſtre— bungen ringt. König Chulalongtorn, der lebte felbjtändige Sjerrider von all ben roBen hinterindijchen Reichen, Die unter der Fxpanlionsluft ehraetziger Rolontalmadte des Wejtens in Trümmer gingen, hat in raftlojer Arbeit ein ganzes Leben der jchier A A. L3 : e EN atte vn e X de» Hortioct ee en AP i AS EN AL opto eden te toto ete t-4 93 uniiberwindliden Aufgabe geweiht, fein Volt ber Gegnungen europdijder Reformen teil: Daftig werden zu laſſen. Entipridt es ſchon an fich bem erhabenen Wefen indijder Ges waltbaber, jid) als m bes Himmels den profanen Bliden des Bolfes wiirdevoll zu entziehen, jo trägt bas ernite Lebenswerf, bem der König von Siam mit hoher Pflicht: auffafjung obliegt, nur dazu bet, ihn ber Offentlidjfeit nod) beharrlicher fernzuhalten. Es ift bezeichnend, daß biefer |o moderne Monard lid) darin ganz als Sohn jeines Landes zeigt, baB er bet den zahlreichen, unter Anteilnahme weitelter Volkskreiſe fid) abipielenben Feſten fait regelmäßig eriheint. Dies iit für bie Europäer, [owett fie nicht in amtlichen Stellungen beglaubigt find, fait die einzige Gelegenheit, mit ihm in nähere Berührung zu fommen, denn in die intimiten (Gemádjer und die tägliche Lebensweife des Königs und feiner — Familien bat bas unbe: rufene Auge eines Fremden feinen Einblid. Sedenfalls fpielt i bas alltägliche Leben des füniglidjen Hofes jehr ruhig ab, und fo oe dieje Tage raufchender Feſte auch für en Monarchen und feine age ung carat: teriſtiſche Höhepunkte dar. Es find Diele gu: gleich ame tnpilche Bilder echt fiames HER, Lebens im Rahmen farbenglühender, mmungsfjatter Tropenpradt, ſchimmernder Prachedien und anderer Wunderwerte eigen: artiger, höchſtvollendeter Baukunſt. Id) habe mand) liebes Jahr diefe Felte eines froben, leichtlebigen Bolfes getreulid) mitgefeiert — mit immer gleidjem Entzüden ... und mit gleidjem Entzüden febrt meine Erinnerung aum Lande des tveiBen Elefanten und zu bem König zurüd, der fid) fern vom lärmenden Gefdaftsviertel, von den engen, ſchmutzigen Eingeborenenbajars und ben freundlicheren Villen der Europäer fein eigenes Riejenboll: wert mit Paläjten, Tempeln und Gtaats= ebäuden getürmt hat. ch meine: bie önigsjtadt. BB 8 a] Wenn id) daran benfe, wie id) Damals meinen „Einzug“ in bie Stadt bes Königs Chulalongforn hielt, bann ift mir, als wäre es gejtern erjt gewefen. Bon ber primitiven Landungsbriide, an welcher ber beutjdje Paffagicrdampfer feitlegt, vorbei an fümmer: lichen Eingeborenenhütten und wenig ein: ladenden Läden chinelilcher Handler, läßt man bet all feinen hochgejpannten Erwar: tungen zuerjt wohl ein wenig enttäujcht den Kopf hängen, bis die Straßen fid) zujehends verbreitern und perjd)ónern, bis zur Nechten ein fóniglid)er Garten an dem flinten von bur: tigen fiamefijden Ponys gezogenen Gefährt EFEEAA Dr. Georg Schulze: Der Hofitaat des Königs von Siam. E2«3«2:243 143 vorüberfliegt und dann bei plößlicher Biegung, gleiBenb im Gonnenlidt, bem grellen Gon: nenlidjt der Tropen, weißjchimmerndes Mauerwer! vor dem [taunenben Blid er: fteht. Dahinter ahnt man wohl eine glans zende Wunderwelt, denn über bas Niejen- emäuer, Das wie ein argwöhnifcher Wächter eine Roftbarfeiten hütet, Iugen verbei: ungsvoll die buntfarbigen und goldenen ürme jeltjamer Tempelbauten, buntglafierte Dächer und Giebel, bie in ben bizarren Linien einer halbchineſiſchen Baukunſt laufen. Plötzlich Jcheint bte Welt mit Brettern vernagelt. (in majjiges, eilenbejchlagenes Bohlentor nötigt zum Halten. Der profane Sterbliche verläßt fein Vehikel. Rnarrend öfmen jid) bie [djmeren Flügel; dahinter wird eine läjlig am Pfeiler jtehende Wache fihtbar: Ein brauner Burjche, barfüßig, mit verwegenem, intelligenten Gelicht, in bas fid) jebt unter ber brüdenben Tropenbibe ein leichter ong vertraumter Müdigkeit ge: ſchlichen hs an befindet jid) in einem ge- waltigen Biered, umjäumt von hochmodernen Bauten ftaatlicher Miniſterien, wechjelnd mit den niederen Baraden der königlichen Leib: arde. Eine breite, von alten Gejchügrohren anfierte Straße führt a ein zweites, gewaltiges Torgewölbe, dann ſteht vor einem bie impojante Front bes fóniglid)en Schlof: fes. Und biele Mtauern bergen den allges waltigen Herricher bes Landes. Als ich zum erjtenmal Gelegenheit Hatte, das Innere diefes Monumentalbaues fennen p lernen — es war bei ber feierlichen Gratu- ationscour zum Geburtstage bes Monarchen — war id) gunddjt überraſcht, denn es mutete einen alles wie in europdifden Königsihlöffern an: Die breite Mtarmor- treppe, die weiten Bänge, eine Flucht von Galen unb Gemddern, alle im moberniten Gejdjmad ausgejtattet. Gelbft die übliche Ahnengalerie fehlt nicht. Aus jchwergols denen Brunfrahmen bliden wiirdevoll ernite Gelidjter vergangener Bejchlechter zu bem Beichauer hernieder. Faſt könnte man fid) in ein deutjches Fürſtenſchloß verjebt glauben, wenn nicht bie braunen Belichter und bie emdartig bunte Kleidung bie Illuſion zer: örten. Als guten Deutjchen hat es mid) fonders erfreut, gerade in biejem Ahnen: faale Gajtgefchenfe von unjeren Hohenzollern: tönigen zu entdeden: Ein Bronzemodell der Berliner Reiterftatue des Großen Rurfiirften nur eine foftbare Vaſe aus der Königlichen orzelanmanufaftur mit dem Bilde bes Babelsberger Cdjlojjes und dem Jahre der Deditation. — (Einige ae ringen aben ihre eigenen Palais außerhalb ber nigsitabt, |o der Kronprinz, bem das un: weit gelegene Garanrompalais angewiejen ift, für deſſen prächtiges Treppenhaus und gelömadtoolte us|tattung ich immer eine ondere Vorliebe gehegt habe. Der Harem jowie bie Bemächer der Königin, ber Prin: ejfinnen und fletneren Prinzen find aber innerhalb der ſchirmenden Mauern geblieben. Das ijt alles modernes Giam. Biel ſchöner und eigenartiger habe ich freilich immer das ur[prünglidje Siam gefunden. Gerade bas Juwel der Königsſtadt ijt der herrliche Wat SBrafeo, ein ftattlider Komplex von Tem: pelbauten und heiligen Türmen — Prache⸗ dien — vol arditeftonifder Schönheit, Eigenart und orientalilher Pracht. Der Sam. ber aus der Fülle ffeinerer nlagen jid wirfungsvoll emporbebt, ijt bte Statte, wo ber Herrſcher bem Gottesbienjt beizuwohnen pflegt unb aud) alljährlich nad) ber Zeremonie bes Wajjertrintens ben Eid der Treue von Jeinen Untertanen entgegen: nimmt. Unwilltürlid hat man den Gin: brud, dab man fid) hier in einer uralten Wunderwelt befindet, und man ijt doppelt liberrafdt, wenn man hört, daß mat nz lagen in ber erftaunlid) furgen Yrilt von drei Jahren, vor fnapp drei Jahrzehnten unter dem jebigen König erjtanden (imb, der Damit das Andenken des Dunbertjábrtgen Beltehens feiner Dynajtie verherrlichte und zugleich bas für Den frommen Ciamelen wohls Sehálliglte Werk eines Watbaues vollbradte. Denn nod) fteht die uralte Glaubenslehre Buddhas in bódjtem Anfehen bet Hof und Volt, und ihr bat die unaufhaltjam vor: dringende europdijde Kultur feinen Abbruch u tun vermodt. Freilich hat weſtländiſche ufllärung mit psi altem Wberglauben aufgeräumt; fie bat N jogar an die göttlich verehrte „Perſon“ des weißen Elefanten Derangenagı und ihm in feinem Anſehen öfe mitge]ptelt. Innerhalb der Königs» mauern fann man [fid bie jchon etwas 2 gewordenen nen ungen ber inf bejabrten Herren in aller Muße an- eben, unb es flingt fajt wie etn Märchen aus uralten Zeiten, wenn man fid) erzählen läßt, daß nod) der jegige König, ber tluge, aufgeflärte König Chulalongtorn, zu Beginn jeiner Regierung vor etwa drei Jahrzehnten ein ſolch heiliges Wundertier mit Riefenpomp unb unter ftrengiter Beachtung des uralten Zeremoniells eingeholt bat. Go oft id an dem Glefantenparf vorüber fam, sole ich mid) eines verjtändnisinnigen Ladelns nicht erwehren fónnen, wenn mid) bie Didhduter aus ihren gelben Albinoaugen melando: Vij) und vorwurfsvoll anjchauten. Oder fie lagen wobl gerade threr Toilette ob, bet der einer ber Wärter ihres Hofftaates ihrem idofolabenjarbenen Außeren durch eine Ab: reibung mit Tamarindenwaffer zu einem mehr albinomäßigen Ausjehen zu verhelfen ſuchte — eine fletne Metamorphoje, bie [ie mit einem ftumpffinnigs behaglidhen Hin: und Herpendeln bes Rüſſels und der Füße begleiteten. — Dies wäre in wenigen, groben ponia. bie Stätte, an ber ber Monarch einen großen Teil feines arbeitsreichen Lebens zubringt, eine Stätte voll jeltjamer Eigenart, in der id) bas myſtiſche Wejen des Orients mit em nüchtern:gejchäftsmäßigen Treiben mos dernifierten Ctaatslebens paart. 144 EEMEESCGEEA Dr. Georg Schulze: BSSSeseseses3ssessssi Eine Gratulationscour zu Königs Vide dedi: Cin Septembertag in ben Tropen — gegen Ende ber Regenzeit, eben nod) erträglich in ber Hike, dieler Geipel Siams. Der 20. September! Königs Geburtstag! Stolz weht vom Maſte bie Landesflagge, der weiße Elefant im roten ‘Felde. Un vor dem füniglidjen Schloß, das ena jo ruhig liegt, die Auffahrt der verjchies deniten oe: denen bie Staatswiirden: träger, bie hohen Offiziere und fremden Diplomaten ent|teigen. In ihren roten Gala: töden pruntt bie lange Front der königlichen $eibgarbe, feitab läßt die Militärlapelle unter ihrem behäbigen Dirigenten, cinem Schüler unjeres allzeit Iuftigen rheinilchen Landsmannes, europáijde Weiſen abwed): jelnd mit der lebhaften pom National: ymne erjchallen; das grelle Rot ber Uni- ormen wetteifert mit bem blendenden Weiß es Balajtes, und das Weiß und bas Rot im Bunde mit der AL gleißenden Cros enlichtes fticht bem Antömmling jchmerz: ba ins Auge und läßt ihn mit langen ritten das ſchützende Bereich der Fühlen a fuden. — Oben im prone bnenjaale empfängt uns ber Wlinifter bes Auswärtigen, offiziel Pring Krom Luang Devawongfe Varoprafar, ein Halbbruder bes Königs, in feinem goldjtrogenden Brofat- rod. ls einzigen Schmud trägt er ben dekorativen Stern des fiamefifden Ordens vom weißen Glefantem an der Brujt; er wird unterjtüßt von feinem o obe die tir Phya Ptpat (oja, ber reichbeitidte Biolomatenunior trägt und in ber Qe: (t nr um eine Nuance heller tit als jein belonbers liebenswürdiger Chef. Denn in den Adern bieler Eugen Exzellenz rollt das Blut einer fiamejijden Mutter und eines portugiejiihen Waters, eine Milchung, bie man übrigens hierzulande are trifft. — Schon ordnet jid) ftreng nad) Rang und Gtellung Sene en der Zug ber Diplomaten und bewegt lich feierlich nad) bem Empfangs: faale, in Dejjen Mitte ber Sjerrid)er bes Landes, in weißer Generalsuniform ganz nad) europäilchem Schnitt, vor einem pur: purnen Thronjejjel fteht und mit gemejjenem Kopfniden die tiefen Merbeugungen der fremden Gejandten und ihrer Suite erwidert. Der König ijt ein mittelgroßer, Tchlanter Herr mit bem typilch gelbbraunen Teint feiner 9tajje. Bor allem fällt die breite, fait "zu hohe Stirn auf, die eine ungewöhnliche d ntelligeng ahnen läßt. In bem dunklen Suge, das fid) mit prüfender Gelajjenheit auf den Eintretenden richtet, paart fid) über: an Ruhe mit dem Bewußtjein ln ürde. Die Referve, die ſein ganzes Weſen atmet, [tebt im nens mit jeinen Deusen Bewegungen, dem leicht zurüdgebogenen Kopf. Und der riejige Pfauenf icher, der fid) mit eintöniger Negelmäßigteit langlam und wiirdevoll an hoher Stange auf: und nieder: Ihwingt, vollendet ben Cindrud majejtätijcher Ber Nur ftört den Neuling die aute Gpredweije des Monarchen — aber man muß willen, daß gerade hierin der Kö: nig ein Vorrecht feiner Stellung fiebt. Das weitere Zeremoniell ijt dem Brauche europäilcher Höfe entnommen. Denn im (Pegenjab zu den Empfängen früherer Zeit, bei denen der König in golb- und edelftein» liberjdten Gewändern gleich einem pagodens haften Buddhabilde erjchien, hat man Hier den Eindrud eines jchlichten, aber abjolut ftrengen Seremoniells. Es folgt noch bie Berlejung einer Adreſſe burd) den Doyen des dDiplomatijden Korps; worauf ber Mon⸗ ard) in fliiffigem Cngltjd) ermibert. Wir traten einzeln vor, ber on dankte jedem leutjelig mit fraftigem Händedrud. Man entfernte fid) Durch einen 9tebenjaal .. . unten beginnt wieder bas haltige Treiben der Ra- rojjen, bie lebten Akkorde ber Kapelle vers flingen ... und bald liegt der Königspalaſt in der toten Rube tropildjer Mittagsglut. Eine nádjtíide Miniſterratsſitzung. König Chulalongtorn liebt es, wie [don jein gelehrter Vater Mongut, bte füblerem Nächte zur Ale ung wichtiger Gtaatss geſchäfte heranzuziehen. Alle offiziellen Bü- ros [inb längjt gejdloffen, und nur vor dem fónigíidjen Palais und feiner Auffahrt werfen einige wenige eleftrijde Bogenlampen en fablblauen Schein in die wiirgige Nachtluft der Tropen. Da gleitet aus bem Torbogen ber und jener Billa, bie hinter artähnlichem Garten jid) birgt, bas flinfe BORD el Den irgenbeines rigen von Gebliit ober eines Gtaatswürdenträgers. Durd) bie weiten Alleen der vornehmen Viertel, bie verddeten Straßen ber Gejdjáftss gegend hujden fie dahin, bis fie vor bem ónigs|djloB halten. $Bergebens würde man unter den Wusfteigenden nad) ben befannten Gefichtszügen eines der zahlreichen, in leiten den Stellungen tätigen europäilchen Rats geber des Königs juchen, denn all bie ins telligenten Befichter weijen unverfennbar den Typ des echten Siamejen mitunter mit einem etwas fremdartigen Einjchlage portugtefijden ober chineſiſchen Blutes auf. Weld wichtige Enticheidung mag wohl in biejer Nacht fallen? Handelt es fid) wieder einmal unt die Schulden des bedrängten Bafallenjultans, des Radjas von Kedah? Oder liegen wieder Klagen eines großen en Syndifats über die Mipwirtichaft in den malaitiden Fürftentümern vor? Oder ift gar unter den Stämmen weit oben im Nor: ben des Landes ein Aufltand ausgebroden? Gang jo ſchlimm ijt es freilich nicht. er wichtig genug ijf bie Gade bod), denn bie alten Widerjacher im Often, bie Frangojen, en eine neue Brenzregulierung vorge: lagen, irgendwo ... ba unten im (5e: biete besalten Kaijerreiches Kambodſcha. Und bas ijf eine rein fiamefijde Frage, in bte feiner Bineingubliden bat als ber König und feine weitere Familie. — — "bui1jj& SauuvgoSY uoa oq]purog) 9 “usuuraspiylGag 9€90900900900000000009000000000000000000000000000000000000000000000000000000000000000000000000000000000000000000000000000 "909090909000000000€0090000000000000060000000000000000000000000000000000000000000000000000000000000000000000000000 ""90900000 Der Hofitaat des Königs von Ciam. BSSSS3S334 145 Und fo fit der Monard im Kreiſe jeiner Bertrauten und liegt emjiger Beratung ob. Darüber fliegen die Stunden der Tropen» nadjt, unb ber gute Mond, der aud ba unten in Bangfof fcheint, verblaßt, und es geht auf den Morgen zu, denn jchon ftreicht die Luft kühler. Das ijt bie Zeit, wo all bte Equipagen mit ihren müden Herren durch die Ichlafende Stadt zu den Villen zurüdeilen. Der normale Europäer, der’s mit dem guten Spruh hält: Mtorgen|tunde je Gold im Munde, geht bann fdon an fein nr erledigt bie eingelaufene Poſt und denft: vest ijt’s allgemad Zeit, zu einer von den einflußreichen Exzellenzen zu gehen, bevor die brüdenbe Mittagshitze anDebt.' B8 Da hab’ id) denn allerdings meine eigenen Erfahrungen madden malen Ich fie und ige im Borzimmer bes Würdenträgers und warte und warte Nichts rührt jid) das ganze Haus ijt wie ausgeftorben, und dabei werde td) von der jtets entgegenlommenden Exzellenz erwartet. Aber io abe ja bem einen klaſſiſchen Croft: bem glüdlichen Oriene talen jdjlágt feine Stunde. Und unten Icharren die A ut und wollen nimmer jtehen. Dann endlich tut fid) bie Tür auf... . halbe verſchlafen, wenn auch frijd) gewalchen, in elegantem Schlafanzuge, bem _ federleichten, weißſeidenen Budjama, jchlürft feine Exzellenz über die Schwelle, wird fofort lebhaft, wie er mid) jiebt, unb meint galant: fein deutjcher Freund — denn jeder Deutjche n jein Freund — hätte bod) nidjt etwa auf ihn warten brauchen? Ich verjtiinde ja... fein intimes Koftüm .. . einem andern gegenüber als feinem bejonderen Freund würde er feines: falls... . Und id) veritebe: es tjt eine Nacht: jigung beim König gewejen... Und td) werde Doppelt liebenswürdig. In ähnlichem alle hab’ ich einen veritablen Prinzen, ber uns Stüde aus feiner wunderbaren Samm- lung — Kunſtgegenſtände zu einem Feſte zur Verfügung ſtellen wollte. einen älteren Herrn mit auffallend häßlichen, dürren und braunen Beinen, achtlos an den ara A in ber Borhalle hodenden und har: renden Beamten vorüber auf mid) gujdretten jehen, und Dabei ijf mir bas eigenartige Roftüm ert nad ftundenlanger angeregter Unterhaltung bet dem — zärtlichen Ab⸗ ſchiede aufgefallen. Aber ſolch intime kleine Intermezzi bekommt der gewöhnliche Sterb⸗ liche nicht zu ſehen. Eine Soiree bei der Königin. Die Königin habe ich nur ſehr ſelten zu Geſicht bekommen. Kaum entſinne ich mich, wann und wo es war, jedenfalls aber bei außerordentlichem Anlaß, wie etwa einem großen Hoffeſt oder einer der grandioſen, äußerſt ſeltenen Elefantenjagden. Selbſt bei den großen Umzügen der buddhiſtiſchen Feſte erſcheint weder ſie noch ihr weiblicher Hof— ſtaat. Zeigt fe lich wirklich einmal in der Offentlichkeit, jo verfdwindet fie in der Schar Velbagen & Alafings Monatsbefte. XXIV. Syabrg. 19091910. 11. Bd. ihrer Hofdamen. Jedenfalls tritt fie weit East dem König zurüd. Im Lande des Buddhismus und ber $Bielmeiberei ift bas ja nid)t weiter verwunderlich, denn in ben Augen des allgewaltigen Königs bedeutet aud) fie nur eine unter vielen, obwohl fie als Mtutter bes defignierten Kronprinzen und als eine rau von bejonderer Klugheit und feinem Tafte fid) eine bevorzugte Stellung gem hat. Diejes bejondere Berhaltnis tellt immerhin eme Konzeſſion an europäiſche Auffaflungen dar. Aber als Königin tritt fie aud) bann nur wirklich in Ericheinung, wenn ein europäijcher i am Hofe zu Gajte weilt. Sonſt lebt jie til und zurüd- gezogen mit den anderen Frauen in en Gemddern ihren Privatliebhabereien. Nach unjeren Begriffen würde man fie faum als eine Schönheit bezeichnen fönnen. Denn fie hat eine furge, gedrungene Figur, dazu ein breites, volles Geſicht mit aufgeworfenen Lippen, und das kurzgeſchorene, hochgebürſtete Haar trägt aud nicht dazu bei, diefen Ein: drud zu verbejlern. Aber aus ihrem Auge und ihren Zügen [pridjt Joviel Güte und Ganftmut, on man darüberleicht das Fremd⸗ artige des erjten Empfindens vergißt. . Sd) Habe es als bejonbers glüdlich emp: funden, einer von den feltenen Feitlichkeiten der Königin im Schlofje beiwohnen zu dürfen. Das war gelegentlich der Anmefendeit eines unjerer deutichen Prinzen. Nur bann er: ſcheint jie aud) in europäilcher großer Toi— lette, während fie ae jehr ftreng auf Be- obadtung altjiameliicher Ctifette halt unb grundſätzlich bas für fie fleibjamere Natio- nalfojtiim bevorzugt: die kurzen, baujdigen pow unb bas jeidene Sädchen mit der unten, breiten Schärpe darüber. Im übrigen ftellen bie anwejende Gelell- haft und oer Rahmen, in dem jte fid) be: wegt, eine eigenartige Miſchung aliatilch- europáijdjer Kultur dar: denn eine Militär: fapelle nad) weltlandijdem Mufter fongertiert in den weiten Gälen, der fteife Frad vers miſcht fid mit dem Weiß der Uniformen und den leuchtenden N en der National: tradt an ben von franzöſiſchen Küchenmeiſtern hergerichteten Biifetts. Typiſch ſiameſiſch mutet die Sängerin an, die joeben auftritt, eine Prinzellin von Geblüt, geid)meibig von Gejtalt, mit einem jungen, feinen Geſicht, aber jteif wie eine ardjaijdje Góttin. Und ihr Gejang...? Da ud des Sängers Höflichkeit. Denn fie fingt ihre Melodien mit Dober, eintóniger Filtelftimme herunter, und dagegen proteftiert das Ohr auch bes fanftmütigiten Curopders, mag er bei: mijden Kunftgenüffen nod) fo lang entwöhnt lein. Doch fieht ſich der gequälte Zuhörer alsbald reichlich Durch bie jet hereinſchwe— benden Reihen jungerTänzerinnen entjd)ábigt. Das ift Genuß, bas tjt vollendete Grazie — und dabei ausgejproden ſiameſiſche Kunft! Denn im Tanz zeigt jid) die ganze gejchmeidige Anmut des Naturvoltes, die bi in jahr: hundertelang geübter exafter Ausführung zu 10 146 S239 Dr. Ceorg Schulze: Der Hofitaat des Königs von Siam. BIII3I>I vollendcter Kunft entfaltet hat. Das ijt ein ruhiges, gemeffenes Gleiten und Wiegen, ein Reihen von Figuren, deren Linien abfolut harmoniſch find... ein Smitieren ſchlangen⸗ artiger Windungen, denn all biele Tange entitammen dem altindijden Schlangenfultus ... und all dieſe Windungen peal hah aus in den fiinjtlid) verlängerten Fingerſpitzen der Ihlanten Hände. Pitan denfe jid) aber nicht ein flinfes Ballett in furgen Ridden — nein, all bieje Tänzerinnen find in überreiche, edel: fteinüberjäte Gewande gehüllt, bie dezent bis auf den Boden reihen. Dazu frónt das junge Haupt wohl nod ein turmartiger, vergoldeter Aufputz. Geitab hodt bie Ra: pelle, die all bieje Schlangenrhythmen mit gedämpfter Mufif begleitet, hervorgebracht von einer Anzahl wohlabgetönter Schlag: beden und Streichinitrumente primitivfterWrt. Danad darf man fich empfehlen, denn das Programm ift zu Ende, und niemand tit wohl frober darüber als die Königin felbit. Der Rloftereintritt bes Rronpringen. Einer der gejdjmadvolljten Bauten nahe der Königsftadt, gegenüber dem prächtigen föniglichen Garten, ijt bas Garanrom:PBa- lais. Darin wohnt der Kronprinz, His Royal S$jigbneB, wie man dort in der „Landes: |pradje" lagt, Somdet Chao Fa Maha Wa: jiravudh. Er ift jebt achtundzwanzig Jahre alt, feit dem Jahre 1895, nach dem Tode bes erjten Kronprinzen, zum Thronfolger Defigniert unb hat in England feine euro: päiſche Erziehung erhalten. Wie fein eigenes Palais, jo hat er auch feinen Hofftaat, und er bereitet jid) in aller Stille auf feinen tünftigen verantwortungsvollen Sjerridjer- beruf vor. Natürlich mag es ihm anfänglich nicht leicht geworden fein, pd einer 9tüd: febr aus England fid) in mand alte Tradi: tion feines Landes hineinzufinden. Denn jo modern der König ijf — er war alleseit ein ftrenggläubiger Buddhilt und verlangt bas leiche von den Mitgliedern feines Sjaujes. nb [o jab fid) der Kronprinz nod in feinem vierundzwanzigiten Sabre ber Rotwendigteit gegenüber, ent|prechend der Gitte bes Lan: des, u einige Monate ins Klofter zu geben und dajelbjt in affetijder Abgeichloffenheit und mönchiicher Beichaulichkeit jid) in die Lehren Buddhas zu vertiefen. Man nennt Bangkok die Stadt der gelben Robe; denn die gelbe Toga ijt bas Kennzeichen der Priejter und SDtóndje, bie dem Straßenbilde ihr djaratterijtildes Gepräge geben. Go ward denn aud) bem fiamefijden Königsjohne zum fidtbaren Zeichen der Nichtigkeit alles irdiſchen Blanzes das Haupt rabefabl geichoren, bie Augenbrauen wurden thm abraliert, bem aljo zur Karikatur entitell- ten jungen Herrn warf man das gelbe Minds: gewand über und hängte ihm den eilernen Betteltopf über die Schulter. Danad erfolgte bie nn Aufnahme in bie Bemeinjchaft der Mönche. Barfiüßig, unbededten Hauptes, bei glühender Tropenjonne mußte auch er von Haus zu Haus wandern, um jid) jeinen Vettel: topfvon gottesfürchtigen ne lidem Reisund Früchten Füllen zu laffen. Denn jo will es die Regel Buddhas. — Meift be- ſchränkt jid) bie Klofterzeit des jungen Gia- mejen auf vier bis fünf Dtonate, die aber jederzeit ade unterbrodjen werden fann. Juſt nad) oem Rlofteraustritt habe id den Kronprinzen gejehen — nadt den Kopf — kahl bie Brauen — in voller Uni: pm Und fein Menſch wunderte fid) über ie alfo verun[taltete Phyfiognomie, am allerwenigiten ber Kronprinz jelber. Er ijt übrigens ein recht liebenswürdiger und ga: lanter Herr. Ich entjinne mich nod) einer Außerung, die er über einen früheren deut: iden Miniſter in Bangkok zu mir tat: „Bitte rüßen Cie Ihren Bejandten von mir unb agen Sie ihm, er möchte mid) aud) mit zum Kreije feiner Freunde zählen.“ — Der Kron: pring ijt nicht febr N wie faft alle feine Landsleute. Wher aud) er trägt jchon jest bie gemejjene Würde des vornehmen Drien: talen zur Schau. Niemals habe ich das ee empfunden als bet ber Gntbüllungs- eier eines Denfmals für bie Königin von England, wo er mit unnadahmlider Selbft: verjtändlichleit auf die Anjprache bes eng: lichen Gejanbten feinen fympathijden Ge- ech für jeine zweite Heimat Ausdrud verlieh. — Ein fürjtlihes Leichenbegängnis. Eines Tages überreichte mir mein brauner Conruo mit tiefer Berneigung ein mit filbernen Hieroglyphen bejchriebenes, mit dem deto- rativen königlichen Wappen geziertes Billett großen Formates, und wie id) mid) ſchon der Einladung freute... fiehe da Tlügelte ich mir die Aufforberun heraus, ber Leichen- verbrennung ber Gemahlin eines fóniglidjen $jalbbrubers beizuwohnen. In CEnropa ein Grund, mehr ober weniger aufrichtig gu trauern — in Siam ber erwiinjdte An— laß lich doppelt zu freuen und entiprechend ber buddhiltiichen Auffaffung an prunfvoller Sdaujtelung jid) zu ergöpen. Ic) entfann mich wohl bes jdjon vor Monaten erfolgten Todes der Prinzeſſin, aber id) wunderte mid) nidt weiter: Denn je höher der Rang des Berjtorbenen, um jo länger muß er darauf warten, daß jeine fterblichen Überreſte end- ültig in Ujche verwandelt werden. Es kin o jchon die Vorbereitungen zu der feterlid) umftandliden MCibrenitun OS Dee geraume Zeit, und dann [oll ja aud der Leib bes Toten vorer|t verdorren. Am frühen Nachmittage fuhren in glühen: der Connenbibe bte endlojen Reiben der Ge: ladenen auf dem derzeit vornehmiten Ber: brennungsplage, dem Wat Thepjorin, vor. In der großen Empfangshalle machte der trauernde Gatte, nad) europäischer Mode in tiefes Schwarz gekleidet, bie Honncurs. Zur Erfrilchung waren falte Büfetts anfgejtellt, an denen ich eine fdywakende und [ad)enbe Wenge drängte. Behende Diener liefen um: ESSSSSSSISSSFITN E. G. Seeliger: Der Alte. 147 Der, während ber Trauerverfammlung, bie in ihren bunten Trachten und ihrer [ujtigen Stinmung mehr einer Feltverjammlung alid), zur Erinnerung jchwarzgebundene *Büd)er überreicht wurden, die Auszüge aus den buddhijtijden Lehren in der heiligen ‘Balt-Sprade enthielten. Das bedeutete gegenüber dem bunten Tand, ber früher ge: \hentt und aud) unter bie taujendfipfige Menge des Draußen harrenden Bolfes gewor: fen wurde, cine Berfeinerung des Beichmades. Sm der Mitte des Tempelgrundes war bas gierlidje Bauwerk errichtet, auf deſſen Höhe unter einem Hügel betäubend duften: der Blumen der eijerne Schrein aufgebahrt war. Bon allen vier Seiten führten Treppen empor, bie mit Stoffen in der Farbe bes gelben WPrieftergewandes ausgelchlagen waren. Neben den Aufgängen Dodten wie eine Weihe lebloler Bögen, mit unterge: \chlagenen Beinen, die fablfópfigen Buddha: priejter und plärrten in gewiljen Zwilchen: räumen ihre monotonen Gebete. Alsbald wurden ben „Leidtragenden“ brennende Kerzen und duftendes Canbelbola in Form von funjtvoll gejchnigten Blumen ausge: handigt, unb dann wartete alles gejpannt des feierlihen Augenblides, ba der König eintreffen follte. Schon haben fid) die Mit: glieder bes Ronigshaujes eingefunden. Da — furg vor Einbrud) der Dunkelheit — erichien ber Monard) in offener Equipage mit fleinem Gefolge. Lautlos neigt fid) bie zahlreiche Menge, während bie verhallenden Akkorde der Nationalhymne zu uns Derüberbringen. Der trauernde Gatte empfindet das Rommen des Königs natürlid als ganz befondere Auszeihnung und geleitet ihn zu bem könig— lihen Pavillon. Und nun — wieder fo recht bezeichnend für bas half and half fiamefifchen Rulturlebens — ein Drud auf bie eleftrijde Leitung, und ſchon reicht fid) ber uralte Ge- bante ‘Buddhas und der geniale —— modernſter Technik die Hand zu feurigem Bunde, der ſich in der Flammenſäule kundgibt, die auf — dem Scheiterhaufen emporlodert. Dann iſt die Bahn frei für die Menge der Geladenen und des hereinflutenden Volkes. Sc ſehe mid) jetzt nod) als trauernben Euro: päer in Gehrock und Zylinder neben meinem luſtigen ſiameſiſchen Freunde in feiner farben: frohen Tracht gemächlich zu dem Totenſchrein emporſteigen, um meine drei ne rde, wollte jagen meine Gandelbolgblume in das Ylammengrab nachzuwerfen und meine Kerze andadjtsvoll niederzulegen, während ſchon das Volt in hellen Haufen den Gchatten= Ipielen und Schauftellungen zuftrömt. — - ... Mir ijt, als ob ber ganze Zauber bteles wunderjamen Landes wieder in mir lebendig würde. Ubermadtig ftürmen bie Crinne: rungen auf mid ein. Sch fehe auf den ruhigen Fluten des majeltätiichen 3Dienams. Pruntboote in Purpur und Gold, von hun: derten flinfer, rotjadiger 9tuberer getrieben, pfeilſchnell vorübergleiten, gefolgt von langen Booten vol buntgeihmüdter Haremsfrauen ... und über allem eine Überfülle flutenden und ee ee widerjtrahlenden Licht: langes. Sd) lebe ven König in offener Gold: änfte, zu feinen Füßen die jüngiten Lieb= lingsjöhnein Aue Prozeffion einhergtehen ; id) höre bas Trompeten ber perángiteten Ele: Ha bie bie aus Dem Urwald hervorbridt, id) in die hochaufſpritzenden Fluten des Me— nam ftiir3t und in Dunkler Waffe auf uns zuftürmt.... in ben fangenben Kral hinein. Ich vermeine wieder unter den Dujten- den Blütenhainen Betjchaburis zu wandeln, jenes wunderlamen £f'ujtidjlolles, bas mit feinen leuchtenden Türmen und Gimjen wie ein boldes träumendes Wunderwerf aus dem weißen ?Blütenmeer jid) hebt ... und Dod) bem Verfall |o unrettbar preisgegebem ijt, ‘Denn einer Laune bes Monarchen ARRAS es wie |o mand anderes reizvolle Luſtſchloß, und eine €aune bedingt jeinen Untergang, denn der König Halt fid) feit langen Jahren bebarrlid fern ... wie von jo mand) ande: rem reizvollen Luftichloß. Und ich fojte wies der den ganzen Zauber einer monddurd)- — ropennacht in dem waſſerreichen dem gewaltigen Trüm: ang Pain — ier | merfeld bes alten Ajuthia — in jenem Lieb- Iingsit& bes Königs, wo zu den ver|d)mim: menden Klängen fremdartiger Weijen unter bunten Lamptons bie Haremsfdinen auf ftillen Fluten dahingleiten. — : Der Alte. Draußen auf dem Scherbenhaufen | ed ein alter, wilder Mann, ill im Dorfe Kinder faufen, Goviel er nur friegen Tann. Und er i unb rechnet leife, 2 fid) jeine Re AR Se ingt bann eine raube Werle Scharf unb hart wie Stahl dazu. Morgen will weitergehn. Ewald Gerhard Seeliger. Rafft bann feinen Wanderiteden, ift bann von Haus 3u Sjaus: ilft fein Sperren, fein Berftecten, Gebt die Kinder mir heraus! Kleine Kinder will ich haben ilft fein Betteln, hilft fein Flehn, leine Mädchen, kleine Knaben, lou LOO 10* BB ESS SE SS SS SEES SS SS SESS SESE SESE ESE SESE SESE SESE Se Dee Se ee Bee DO DO DDE SEHE Jteues vom Büchertiſch. Bon Carl Bulle. Ernit von Wildenbrud, €ebte Gedidte. — Die lekte Partie (Berlin 1909, G. Grote). — Paul He ge: Sjellounfles Leben (Stuttgart 1909, I. (9. Cotta). bendburg (Jena 1909, Eugen Diederids). — Marie von (Gbner-C|djenbad), Altweiberfommer (Berlin 1909, Gebr. Paetel). — N ái à) — Bruno Wille, Die 4 N Conjtant; Paul Wahn, Guy be Ricarda Hud, Der lebte Sommer (Stuttgart 1910, Deutjche Verlagsanftalt). — ) Biographijhes: Max J. Wolff, Shatejpeare; Gofef Ettlinger, Benjamin aupajjant; Eduard Engel, Goethe. EEE Eee] 29494234 SSO 36343438336 ee — ee — 8 En bem zierlien Almanach, ber aa als Samenipenbe bei dem vor: jährigen Fi bes Bereins Ns "d Berliner Prefje verteilt ward, TOY war ein Gedicht enthalten, bas \hon im Saale jedem auffiel, ber bas Bändchen burd)blátterte. Es waren Berje von Ernit von Wildenbrud, und fte —— und rührten nicht nur, weil ſie in öner menſchlicher Wärme ſich fo unver: ba über alle anderen Beiträge erhoben, D ndern auch deshalb, weil fie den allzu üben Ausklang eines Dichterlebens bildeten. ie Hand, die Ye ſchrieb, hat feine anderen mebr — „Wo mich ſuchen ſollt“ lautete die Überſchrift des Poems. Es iſt wert, hier zitiert zu werden: „Wem der Zymbeln und der Geigen older Wettkampf winkt als Ziel, ög' er ſchwingen ſich im Reigen Und gewinne er ſein Spiel. Mich nicht ladet mehr zum Tanze, Denn zum Tanz ward ich zu alt; Nicht mehr greif' ich nach dem Kranze, Allem Wettkampf ward ich kalt. Aber wenn an Deutſchlands Pforte Not und Unheil lauernd ſpäht, Oder wenn mit ſchnödem Worte Läſternd uns der Fremde ſchmäht, Wenn Ihr dann, zum Kampf gezwungen, Einen braucht zu Hieb und Stich, Wo die Jüngſten ſtehn der Jungen, Suchet da, Ihr findet mich.“ Ernſt von Wildenbruch hatte in den letzten Jahren ſeines Lebens mehr en als größeren Dichtern bejdjieben war. Er war bas gute Gewijjen Deutichlands ge: worden wie einjtmals Ernft Mori Arndt. Sn allen entjcheidenden Stunden hörte man feine Stimme. Ein Mahner und Warner, ein NRüttler und Treiber, wies er der Nation die Wege. Bei allen erfreulichen und fdymergliden Ereigniljfen, bie te der lebten dreißig Jahre auf unjer Volt eins (türmten, jtand er als Spredyer auf. Und weil ibn nicht Ehrſucht oder ein anderer felbftjüchtiger Beweggrund trieb, jondern bie lautre Liebe zu dem Lande, das thn geboren atte, jo fonnte aud) nichts ibn in Ddiefem precherberuf verwirren, auer|t nicht ber Hohn der Gegner, zulegt nicht der Jubel der Freunde. Weil er ferner in [feinem Herzen den Kompaß der Fahrt judte und fand, jo traf er aud) immer das Rechte, ag er ftets bie Bejten bes Bolfes hinter ih. Nach bem erjten ftiirmifden Sjubel, den ber junge Poet bei feinem Auftreten erwedte, fam aud) für ihn bie bittre Zeit, da ihm vieles mißlang und hämiſche Schadenfreude ihm den Xorbeertranz fur; und flein zerpflüdte. Nicht genug, dab alle Schwächen jeiner Werke offen verhöhnt wurden, — aud) den Charakter des Mannes griff man an. Er mußte n. efallen laſſen, baB man ihn, den ganz Unhofi hen: einen Höf: ling jchalt, dak 3. B. ein Epigramm von bem Manne jprad), deffen Mame einen „wilden Bruch“ bezeichne, während fein Rüden ewig „zahm gebogen“ fet. Wildenbruch litt ſchwer unter bieler Mißachtung und Berfennung. Ih babe Briefe von ibm aus jener Zeit, in denen man deutlich feine Berbitterung und Relignation fpiirt. Er, der jein Bolt über alles liebte, den feine ganze Art zur Bühne oder Kanzel drängte, konnte ben Rejonangboden nicht entbehren. Und dann — ohne daß cade änderte, ohne daß ftd) jette Wngriffsfldden verringerten — begann bas Blättchen fid) zu wenden. Mehr und mehr |djfug ber Ton ber Hochachtung durch, wenn jeine Name genannt ward. Auch bie fritifchen Gegner erfannten die Lauterfeit bieles Charakters und fenften den Degen vor bem furdtlojen Manne, der fid) jo ehr: lich begeiftern und empören fonnte. Niemand unterjchlug leine Fehler, aber man ſprach lächelnd von ihnen, wie von den Fehlern eines geliebten Menſchen. Geine Werte fonnte man am Ende preisgeben; nicht aber ihn jelbjt, nicht bie Perjönlichkeit, bte e geboren hatte. Alt unb jung war fid) in der Verehrung bieler *Berlónltdjfeit, in der Liebe zu Dicen großen pu zulegt einig. Und jeder horchte auf, wenn bas gute Gewilfen Deutichlands zu mahnen und zu Sprechen begann. Über ganz Deutfchland tönte dann Ernft von Wilden: bruds Stimme. In Worten fonnte er fid) wohl vergreifen, in jeinem Gefühl nicht. Als 1878 nad) Nobilings Attentat ein Denfmal errichtet werden follte, war er es, ber in Berjen, durch welche bie ganze Erregung jener Tage zittert, den führenden Männern zurief, fie jollten als „Brabmal deutſcher Treue, als Brandmal deutjcher Ehr“ des Kailers zerjchojfenen Waffenrocd an bunfle Pfeilerwand hängen und nur m Ichreiben: „Betan von deutiher Hand.” Und ähnlich große Anfchauungen und Gym: bole ſtellten Sich dem Ergriffenen falt [tets peeseeee-EB Carl Bulle: Neues vom Büdertii. BeSsssssa 149 zur Verfügung und verliehen den bloßen ee a einen adligen Zug. Als Kailer Wilhelm I. ftarb und Raifer Friedrich bas Haupt neigte, als Bismard von jeinem Werke ging, als der Reichstag ibm Dant und Grub verweigerte, als ber Tod den Großen dahinnahm, als fid) zum 25. Mal bie Schlachttage bes Ichten Krieges jährten, immer fprang WWildenbrud vor und drüdte aus, was bie Nation bewegte. Er konnte es und durfte es, denn ftarfer als andere erlebte er in jeinem Herzen des Vaterlandes Freude und Trauer. Er war es, ber ben Willlommengruß an Ohm Krüger jaudygte; er warf jid) in flammender Empörung Rudyard Kipling entgegen, ber mit jeinem berüchtigten „Hunnengedicht” die beut|dje e angegriffen hatte; er hat alle Kämpfer fiir Deutſchtum gegrüpt unb er: muntert, die Deutichen im Ausland, bte Balten, bie Prager Studenten. immer nod) tönen bie Worte nad, bie er bem jungen Groß⸗ herzog von Sadfen- Weimar im offenen Briefe urtef, bie Worte, bie ben Fürften an feine idt mahnten; und immer nod) benfen wir der flirrenden Strophen, mit denen er bas „Deutiche Neujahr 1909" grüßte und jene Duntle Stunde heraufbejdwor, bie 1908 I und Volk getrennt hatte. tele von biejen Heroldsrufen, von diefen Mahnworten des getreuen Edarts find nun in den „Letzten Gebid)ten^ von Grnft von Wildenbruds Bruder gelammelt worden (Berlin 1909, G. Grote). Aber gerade Jeitpoelie muß heiß genojjem werden. Cs gehört Dazu bte Erregung der Stunde. Und wenn aud) immer nod das ftarfe Gefiibl ihres Geburtstages in ben Berjen lebt: es lebt darin bod) aud) bie ganze Unruhe und Vergänglichleit des Tages. Wildenbrud) hatte in feiner ganzen Art zu viel Redne: rildes. Das gab jeinen zu großen Belegen: heiten gedichteten Strophen bie rajde und zündende Wirkung, aber es verjagte ihnen die Sutunft. Man hört erregte Worte in unruhigem, haftendem Bersgang,. der wie ein Laufer [d)jnaubt und feucht, der etwas Atemlojes an jid) bat. Diele Worte find aus der (Erregung Berausgejprodjen und boten fid) bem Erregten. Aber fie vermögen nicht mehr, den längft Rubigen wieder in bie Erregung Dineingujübren. Das kann nur bas ruhige Wort, das fic) wie in Marmor grábt. Nur einmal Bat Wilden brud) bieje monumentale Rube gefunden, in jener Inſchrift an Kaijer Friedrichs [ebtem Wohnhanfe, der Villa Zirto in Gan Remo: P „Wandrer, ber Du aus Deutjchland Herlommft, hemme den Schritt. Hier ber Ort, wo Dein Kaiſer Friedrich lebte und litt. Hörft Du, wie Welle an Welle Stöhnend zum Ufer drängt? Das iit bie Jebnenbe Geele Seutidjlanbs, die jein gedenft.“ Hier wählt bas 3eitgebid)t über Zeit unb Gelegenheit binaus; bie Unruhe, bie uns fonft aud) ben Raud und Qualm der entzündeten (Feuer zuführt, bandigte fid) und ward Rube, in der die Flamme rein leuchtet unb wärmt. Gonjt aber ijt in fajt all den vielen Gelegenheitsgedidten, Brologen, Epilogen und (piiteln, bie den größten Teil des Buches ausmachen, ein unverzehrter Erdenreit, ber eine ganz reine Wirkung unterbinbet. Wildenbruch war fein Lyrifer. Er redet zu viel, er ift zu wortreid). Seine Gedichte winden [id in rhetorifden Bes rioden durch eine Unmenge von Strophen und verlaufen breit, er fi eng zus jammenjzugiehen. Das jchädigt belonbers aud die Balladen, Pn es bet ben Liedern auffállt, wie jeltem dieſer Poet einen ftarfen Wnjdlag hat und wie un- bedenflid) er bie alteften Inrifchen Kliſchees benugt. „Wie ein Dieb in der Nacht, lommt die Liebe ganz jadjt", beginnt er zum Beijpiel ein Iyrijches Poem. Oder ein anderes: ,Sord! Die Blumengloden läuten uns den Wee rühling ein!“ 9tad) ar Anfang hat man natürlich feine Luft mehr zum Weiterlefen. Ernjt von Wildenbruch gehörte zu den Dichtern, bie jid) vom erften Tage ihres Auftretens an gleich bleiben. Will man es weniger liebenswiirdig ausdrüden, jo muß man Jagen: die keinerlei Entwidlung durch: maden. In dem Cinleitungsgedidt zu feinem le&ten Versbud) do. er, bap .man jein Singen eintönig : olten habe, weil alle feine Lieder nur dem deutjchen Land erfldngen. Da hätte er lange freudlos bei der per|tummten Harfe geftanden. Endlich hätte he wieder zu flinget begonnen, aber neue Lieder hätte fie ihm aud) jest nicht gegeben, jondern fie hätte immer nur „Deutſchland“ und „Deutichland“ geiprodjen. Aber nicht nur im Stofflichen, aud) in ber Art, wie er biejes Stoffliche formal bändigte, ijt Der Dichter immer ber alte geblieben. Und wie es bem Lyrifer ging, |o ging es sa Rod Erzähler. it zwei Novellen nimmt er von uns Abſchied. Die zweite, kürzere, hat dem Buche ben Titel gegeben: „Die lebte Partie” (Berlin 1909, G. Grote). Sie tit in dem ruhigen Gtile gejchrieben, dem Wilbenbrud) feine Es Erfolge verdantt unb ben er Dod) jo Jelten getroffen Doe Im Grunde weiter nichts als eine der beliebten und |don infolge bes erregenden Gtoffes febr wirkſamen Grulelgeldjid)ten. Zwei Brüder, ein Dberft und ein Beheimrat, bie ftd) allwöchentlich zu einer Partie Billard treffen. Schamhafte Menjden, die fid) egenfeitig mit feinem Blid verraten, wie ehr fie aneinanberbángen. Der Oberft erfranft und ftirbt zu berlelben Stunde, da ihn der abnungslofe Bruder erwartet. Der wundert jid, daß er nicht tommt, wird unruhig, aber als er den Blid hebt, [tebt der Bruder, wie wenn er geräuſchlos ein- 150 ES: 5): Carl Bulfe: BseSeSeSeSessessesse3ssssss getreten wäre, an ber anderen Geite bes Billards. Er nimmt die Queue, fpielt, wortlarger nod) als fonft, Iautlofer, feier: lider, madjt zulest eine Berbeugung und verjhwindet. Dem Gebeimrat i jeltjam, er geht zu feiner alten Wirtfchafterin und hört dort, daß fein Bruder, mit dem er eben gefpielt bat, gar nicht ba war. Und während Dn geheimer Schauer erfaßt, fommt bie achricht, daß der Herr Oberſt vor einer Stunde geftorben fet. — Die vorangehende größere Erzählung ijt Dagegen wieder nad) Stoff und Form eine echte a Hee ae Eins der abnormen Weiber, für die lid) bieler Dichter gern er: hist und für bie jid) kein andrer Menſch lonft eine Vorliebe anzuquälen vermag, fteht im Mittelpuntt der Handlung. Cin Gtiüd Paptermotte, bie ftd) in ben „Beilt“ bes großen unb graujamen Rritifers Peter Wid: ſchnitzer verliebt. Dieje mertwiirdige Heldin mit dem flirdterltden Namen Jouna von Schneideband martert fajt noch mehr, als der budlige Kritilus. Ihre Verlobung, ihre Hochzeit, thre Brautnadt, fie jelbft und thr Benehmen wird man je nach Anlage mehr peinlid oder mehr fomijd) empfinden, während Wildenbrud) die ganze Geſchichte tragijd nimmt. Und ba er jJelbit ea daß er uns nicht überzeugen fann, jo verjudt er uns zu iiberrumpeln und zu überreden. Gein Stil befommt bann bas QGebebte, Hodge- puffte, die Gage jagen, jehnauben, und tm Sturmjdritt verjudt er uns über piycholo- gilche — zu reißen. Aber es gelingt dem Erzähler nur, ſich ſelbſt in Ekſtaſe zu ſetzen. Wir anderen bleiben kalt und |diit- teln über das überſchraubte Frauenzimmer und den dichtermordenden Kritiker höchſtens den Kopf. Wirklich plaſtiſch tit nur die Cins leitung, bie ins Aquarium führt und in bem unheimliden ,&intenfijd", nad bem bie ganze Erzählung heißt, ein wirfungsvolles ymbol aufzuftellen verjudt. „Deine Segel diirjten nod) heiß nad) Bei; Bem Lebenswinde“, hatte der Dichter in einem feiner legten Bedichte gelungen. Der Durſt ijt nicht geftilt worden. Und wenn wir barum Leid tragen, fo benfen wir nicht jo an große Werke, bie uns verloren ge: angen wären, jondern wir benfen an Die er ónlidjfeit, deren warme Stimme wir noch manchmal vermiffen werden. — Während alles andere um ihn herum altert unb ftirbt, während eine jpätere Generation \chon faft ausgeblüht bat, Scheint ber bald acht» zigjährige Paul Heyſe ftd) von Jahr zu Jahr zu verjüngen. Gein neueftes Novellenbuch »Sjellbuntles Leben” (Stuttgart 1909, Sy. G. Cotta) biinft mich lebendiger, wärmer und Jpannender, als mandes Frühere, und wir jolgen ibm Beute wie in jeinen jungen Tagen, wenn er bie rätjelvollen und vernichtenden Gewalten der Leidenjchaft beidjwórt. Sa, hätten fic) bie Zeiten in biejer Beziehung nicht [tart geändert, fo könnt’ id) mir wohl denten, bap ihm gerade auf bas neue Bud hin von empfindjamen Seelen der alte Bor: wurf gemad)t werden würde, jeine edd faifung wäre zu materialijtilch, zu áuBerlid), u finnlid. Befonders in „Rita“ und „Clelia“ * er uns leidenſchaftliche Kinder des Südens vor, die tief Aad von Brand und Flamme nad) den Belegen bürgerlicher Moral nicht viel fragen. Es ijt etwas Ban: taftifh, aber auerordentlid) einpräglam, wenn bie ſchöne Rita fid) bie Kleider vom Leibe reißt und vor bem bebenden Maler, den fie Itebt, auf dem Nüden ihres Hengites in ben mondjcheinübergoflenen Gee jchwimmt. Und es wird noch mehr das Entjegen aller SBbilijter erregen, daß bie [ünfunbbreipig: jährige Clelia fid) jelbjt einem Manne, der thr einen großen Dienft geleijtet bat, an: bietet, um nicht [terben zu miiffen, ohne bas Süßeſte bes Lebens gefoftet zu haben. Aud) bie Liebe Romeos und Julias entſpricht ja fchließlich nicht bem blajjen Ideal Bod): geichlojfener Kleinjtädterinnen, und [ie ijt bod) eine „Flamme des Herrn“, der wir uns hingeriffen beugen. In den drei anderen Novellen des Buches begegnen uns Leute mit zu empfinbjamem Gewijfen: Schranten, über bie eine robujtere Natur hinwegipringt, find für fie unüberwindliche Mächte, und jo bleibt bas Ende vom Liede nur Zuſammen⸗ brud) oder ftille Refignation. Paul Heyfe liebt es, feinen Novellen eine bez ftimmte Eintleidung zu geben. Er tniipft etwa an Herman Grimms heute nur nod wenig gelelenen Roman „Unüberwindliche Mächte“ an und läßt in der Debatte darüber eine Perjon ihre Befchichte erzählen, die bas Pros blem neu beleuchtet und beftätigt. Oder er fommt mit einer Reiſebekanntſchaft ins Be: iprád), bie ibm ihr Weſen und Schidjal ents üllt, Oder riidfdauend berichtet ein alter berft das bedeutjamfte Erlebnis, bas ihm widerfabren. Diefe Stilform, bie Boccaccto ftets anwandte, bie Turgeniew allen an: dern vorzog, bie SDtaupajjant liebte, fura, bie (td gerade bet ben aiusgeiprod)enen ,,Jtovels liften“ immer wieder findet, hat ihre großen Vorzüge. Während fie einerfeits dämpft und entfernt, da die erzählten Begeben- heiten vergangen und Schmerzen und Leiden Ihaften überwunden find, fommt der Daritelung anderjeits alle Wärme des erjónlidjen Vortrags zugute. Durch bie Per: Ton des Erzählers wird ferner ein nattirs licher Mittelpunkt gejdaffen, ber die Gefahr bes Auseinanderfallens der Handlung bejeis tigt oder wenigitens jehr vermindert. Und wer einmal verfudt hat, eine in objeltiver Stilform bar|tellenbe Erzählung in eine Sd): Erzählung u überführen, der dürfte auch erfahren haben, wieviel fnapper und fongentrierter bie Novelle dabei wird. Hätte Henfe 3. 3B. feine , Rita” erzählen lajjen, jo würden wir Ichwerlich erfahren haben, wie ber Did)jter ur „Heimatstunft“ ftcht, denn ber junge aler hätte feine Möglichkeit gefunden, jeinen fleinen Bortrag darüber zu balten. Die Worm an fid) hätte jid) dagegen ge: SESS sSsSsSsSes :—3-3939:-8 Neues vom Biidertifd. Bssseeeseesses4s 151 wehrt, hätte alles Stebenjádjlidje ausge: ſchieden unb bas volle Lidt allein auf das Problem gejammelt: auf die Liebe Nitas. glicyerweile hat aber gerade diejer Stoff ber Ich⸗Form widerjtrebt, hatte er fid) in ihr nit nad) allen Seiten ausjchöpfen lafien. Das tommt natiirlid) vor, unb wir dürfen es bem alten Novellenmeilter Henje wohl glauben, daß er am beiten weiß, wie dem gewählten Vorwurf erzäblerijch beigu- fommen iit. Bruno Wille Hat bie Ich: Form für einen großen Roman benüßt: „Die Abend: burg” (Sena 1909, Eugen Diederids), und diefe ,Chronifa eines Goldjuders” hat von vornherein ein [türferes Intereſſe für jtd) erwedt, als fie den von einem illuitrierten Syournal ausgeldriebenen Zwanzigtaujends mart: Preis für den beften Roman davontrug. Man tann das Urteil der Preisridter auch ehr wohl aegre ent AU die guten Eigen— haften bes menidjlid) jo warmen und ſym⸗ pathijden, [till für jid) bingebenben Einfiedler- Dichters haben jid) in bem Buche gefangen. Und wundert man fic erit, in wieviel Kriegs lärm und Getiimmel, u wieviel bunt: nee Whenteuer der Werjonnene uns ührt, |o empfindet man bald, daß alles Raute unb Außere nur dazu dient, in bem Helden jene inneren Augen und Ohren zu öffnen, von denen der gottjelige Syatob Böhme le ftammelnd und [don redet. Wille führt einen Goldjuder hinaus, um ibn in fid) hineinzuführen; er überbraujt uns mit ber ganzen Unruhe der yet, um bas Herz fein zu machen für Die p der CEwigfeit; er entfacht alle irbdijden Triebe und Leiden: mayen, um uns endlich ſehnlich hineinjchauen zu laffen in den himmlijchen Frieden derer, die überwunden haben. Das falfde und laute, allzu laute Lied der Welt begleitet wie eine feine, oft übertönte, aber immer wieder — Oberſtimme ein ſtil⸗ lerer, unirdiſcher Sang: der Chorus myſticus, der da verkündet, daß alles Irdiſche nur ein Gleichnis fei. Ein Gleichnis iſt die Abends burg mit ihren Schäßen, ein Gleidnis tft der Weg bes Johannes Martinus Tileftus, ber gewinnend verliert und verlierend ge: winnt, der verzichten muß, um ein Gieger zu werden. Aber man darf nun nidt an eine blaffe unb magere Symbolit benfen, die des über: reihen Lebens atmende Fülle in ein paar mehr oder minder enge Begriffe zwängt. Dazu ijt Wille zu jehr Poet, ber jeine Freude bat an ber Mannigfaltigteit ber Erjcheinun: gen, mit jeder lebt und empfindet und feine vergewaltigen will. Ja, es jdjeint falt, als er er in ber Bejorgnis, durch ben [ym olijden Kern und bas Biel ber Faget pon ber Fahrt jelbft und der grünen Weide ab- gelenft zu werden, des Guten zu viel getan unb bie äußeren (reignijje und Begeben- beiten allzu geflijjentitd) gehäuft. Die mo: derne Literatur ijt ja im Durchſchnitt nod . immer bandlungsichen und macht jid) erit langjam von diefem Erbe des Naturalismus ei. Wille dagegen brauchte eine (tarte Fa- el ſchon als Gegengewicht, und man hat, wie gejagt, bas Berit, als hätte er jich felbit zu einer bunten Whentenerlidfeit ber Handlung genötigt. Gern würde man auf ein paar allzu phantaftiiche Verfnüpfungen ver: sichten, und man verträgt fie nur ohne Stillen Proteſt, weil der Dichter bie romantijden Ereignijfe Hüglich in die wilde und vertpil; derte Zeit des Dreißigjährigen Krieges ver: legt hat. Dieſe Zeit dedt alles: Mord und de d läßt man paflieren, und unters irdiiche Günge, geheimnisvolle Gdjastam: mern, geraubte Kinder und ung. Genfas tionen verlieren darin ihre Schreden. Im: merbin ijt Wille in der Gefahr, bie „Hand: lung” mit einer Häufung kraſſer Greignilje zu verwechjeln, und man wundert jid), ge: rade bielem Poeten auf folden Pfaden zu begegnen. Die [djóne und warme Darftel: lung gleicht allerdings vieles aus; man ver: gift feinen Augenblid, daß ein Dichter er: zählt, und folgt willig. Dann fommt etwa mit der une bes märchenhaften Schatzes in der Abendburg und mit dem Plane des Helden, ein „NXichtreich” zu gründen, mehr und mehr eine eae Unflarheit in das Ge: webe, und aulebt flaut auch diejes Werk aus natürlichen Gründen jehr ab. Die irbijdje Luft ijt nun einmal viel farbiger, als die bimmlifhe Wunfchlofigfeit, und ber bejte Prediger ift ein obnmadtiger Stammler egen ben geftaltenben Dichter. Es gelingt We nicht, uns zu feinem höchiten Ideal zu befehren, uns mit dem Glauben und Schauer zu erfüllen, ber uns am Schluffe gue Nachfolge feiner Helden begeiltern könnte. ie himmliſche Gntjagung, bte heilige, un: törperliche , Vtinne”, zu der fid) bie Danbeln- den Perfonen aufjcehwingen, bleiben uns fremd; Notbehelf idjeint uns, was als Ideal wirken fol, und wie der Erzähler jelber nicht ganz fter war, zeigt er in zwei Puntten. Er fann die Predigt nicht ganz mehr in Dich: tung umjegen unb findet nur an einer Stelle ein zwingendes, echt poetilches Symbol: die beiden Raudjaulen, bie hüben und drüben emporfteigen und jid) über Schlüften und Klüften tn der Höhe vereinen. eiter je: dod): er wagt bas angefdlagene lebte Pro: blem überhaupt nicht en, auszutragen. Er biegt lyriſch aus, fogar jehr [din lyriſch, und ruft den Crldjer Tod gu Hilfe, der \chlichten muB, was bas Leben verwirrte. Dadurch, dak Thefla ftirbt, wird es ben beiden Männern, die ein Anrecht auf fie * leicht gemacht, ſich in ihrem Geiſte zu finden und in einer allen Erdenwünſchen entrückten Liebe zu ihr zuſammenzuwachſen. Wäre ſie eſund und am Leben geblieben, ſo hätte ille vor einem verteufelt ernſteren Problem geſtanden, und es hätte einer weit ſtärkeren dichteriſchen Potenz bedurft, um es zu be: wältigen. Denn ein ſo ſchönes Buch dieſe „Abend— burg“ im ganzen auch iſt: daß ſich in ihr 152 BSS See] überragende poetildje Qualitäten dofumen: tieren, fann ich nicht finden. ?Bejonbers bie menjdjenidjópferildje Kraft des Dichters ijt nicht groß. Ich wüßte feine Geftalt zu nett: nen, die fid) mir feit und unverlierbar ein: prägte, feine, bie als poetijdje Leijtung ben guten Durchſchnitt überträfe, feine, bie uns das Herz beiB madte. Verhältnismäßig am linienſchärfſten find die beiden Hexlein geldjilbert, bie SJungfer Sicjatis und bie „Putzkellerin“ Berthulde Aber auch Hier, befonders bet ber legteren, hält bie Durch: führung nidt, was bie Anlage ver|prad). Ta, man fann im allgemeinen von den Per: Jonen des Romans jagen, daß fie uns nicht um on felbit willen, fondern nur wegen ihrer Schicjale interejiteren. Auch in diejem Betracht fpielt bte wilde Romantif ber Hand: [ung aljo eine Nothelferrolle. Daneben ließe (id mandes über bie — id) möchte jagen theologijd gebundene — Phantalie Willes bemerfen. Dan fieht aud) aus diejem Werte, daß nidi bas rein Didhterijde das Aus: Ichlaggebende in ihm ijt, daß feine Ziele nicht reine Siele ber Kunft find. Er ilt gleichzeitig mehr und weniger als ein Did: ter: ein Geber, ein Philoſoph, ein Priejter — ein Bujchprediger wie jein Johannes Martinus Tilefius, der ohne firdlide Be: ftallung predigt und in bteler Zeitlichkeit bas ewige Heil jucht. Sein Suchen und Sehnen, fein Srren und Finden hat er hineingelegt in bie Geftalt feines Helden, ber in einer aufgeregten, von NReligionstämpfen durd): tobten Epoche fid) aus bem Betöje ber Welt zu einem Einfiedlerglüd wendet. Viel auto: biographiiche Züge mögen in das Werk vers flochten weniger des äußeren als des inneren Erlebens, und ſie helfen vor allem dazu, dem Buche Wärme und Wahrheit zu verleihen. Ich habe daraus nicht ben (ins drud einer großen Dichtung mitgenommen, Jo viel Schönes und Zartes fi) darin aud findet, aber ich bin einem reinen und reifen (Beifte begegnet, einem guten, hochfühlenden, gott: und natureinigen Menſchen. Das iit immer ein großer Gewinn, und fo wünjdh’ id) ber ,Ubendburg” viele Lejer, die über die bunte Schale zum Kern dringen. Die menidjfide Büte, bie Liebe, die nicht mehr begehrt, fondern nur [till jegnet, bricht wie ein verfldrender Schein aud) immer jtarfer aus den Alterswerfen von Marie von Ebner-Ejdhenbad. Bet Wille tjt jie ae Anlage, großes Gefiihl, ein natür- licher Herzensreichtum, ber fich Iyrifch über: jtrdmend ausgibt. Bet der Ebner hat fie fid) aus immer tieferer Erfenntnis rie tae Sehnſucht und Ahnung, ein dunfler Drang haben den Einfiedler emporgeführt, und in Siedern jpridt fein Glauben und Hoffen. Die Erfahrungen eines Lebens haben bie Dame der großen Welt auf benachbarte (Gipfel geleitet, aber nicht in Gedichten ents lädt fid) bie Fülle ber Bruft, jondern in Spriiden, Sentenzen, Parabeln und Fabeln zeigt jid) ihre legte Weisheit. Cine neue Carl Buſſe: BSSSSseSsSesessess Sammlung folcher furgen Fabeln und Pa: tabeln legt uns Marie von Ebner⸗-Eſchenbach in ihrem jüngften Werke „Altweiberjom: mer" vor (Berlin 1909, Gebrüder Paetel). Im Spätherbft, wenn die Blumen welt und entblättert von den Diirren Gtengeln fallen, zieht bas Mariengarn, ber „Altweiberjom: mer“, durch die Luft — turge Fäden, bin: idjmebenb und vergehend. iv grüßen fe Balb wehmütig, finnen ihnen nad, laſſen jie vorüberjchweben unb tragen wohl, ohne es nd zu willen, ein paar mit beim. Gie ind äußerlich unfdeinbar, und man fieht über viele hinweg, bis fie pliglid in einem Gon: nen Le eujglängen wie Seide. Einige fiebzig folher Marienfäden läßt Marie von Ebner: Ejdhenbad hier zu Tal flattern, und es geht damit ähnlich wie mit den Sprüchen bes alten Goethe. Man findet viele Weisheiten uns ſcheinbar und läßt jie vorüber, aber es fommt eine Stunde, wo fie fic) in uns entfalten, wie jener glanzloje, trodne Knäuel ber Rolfe von Jericho wieder auflebt, wenn die lebendige Flut ihn überitrömt. Das aber tommtbaber, daß diefe unjcheinbaren Sprüche Rejultate find, Endziele einer fangen Ges banfenreibe, der (xtraft eines Crlebens, nicht bas bloße Spiel eines Ioje ſchweifenden Geijtes, der Beziehungen ſucht. Im erften Augenblid überrajchen und beitechen uns die Dan enden Einfälle natürlich viel mehr, aber ie zerplagen bald wie eine furglebige Raz tetenichar, während die erlebten und emp: fundenen Wahrheiten zu guter Stunde ftille Führer zur Freiheit find. — ur ein origineller, erzähleriſcher Einfall — nicht mehr — liegt der neueſten Schöpfung von Ricarda Hud zugrunde, einer Er» zählung in Briefen: „Der letzte Sommer“ (Stuttgart 1910, Deutſche Verlags-Anftalt). Da ſich dieſer geiſtreich-kapriziöſe Einfall in romantiſcher Stilmanier nicht geben ließ, ſo koſtümierte die Dichterin ſich eben anders, ließ bie Wortfêten und Bilderorgien beiſeite und naht uns ſchlichter, realiſtiſcher. Man wundert fid) aud) nicht, daß fie in ber neuen Art jid) gleich frei unb mit fünjtlerijd)em Taft bewegt, als wäre [te niemals in am: derem Schritt und Tritt gegangen. Denn immer war das Einfühlungsvermögen a re itárfer in ihr, als bieur|prüng: lide Schöpferfraft, fo dak es überhaupt feine Form geben dürfte, bte fe nicht er: füllen, feinen Dichter, in ben [te fid) nicht verwandeln könnte. Ich habe bie allgemeine Bewunderung für diejes fid) immer etwas exkluſiv und allzu „literariich” gebärdende Talent nie ganz zu teilen vermodt und finde in ber realiltiihen (sfapabe des „Ießten Sommers” bod) nur wieder eine Beltätigung meines früheren Urteils. Sn Sehr fein charafterijierendDen Briefen wird uns die Familie eines ruffijden Gous verneurs porgeitellt, ber vom Nevolutions= fomitee zum Tode verurteilt wird, weil er die Univerfität hat fchließen und einige ſtu— bentildje Rädelsführer hat beftrafen laffen. dei Ie Die durch bie Drohbriefe geängitete Gattin des hohen Beamten ruht nicht eher, als bis (ie für ihren Dann einen Gefretár gefunden Dat, ber in erjter Linie Jeinen „Schuß: ET ipielen und ihn vor etwaigen An= Ihlägen Ichügen jol. Uber gerade Diefer „Schugengel“ tft fein anderer, als ber zu bem Morde auserjehene Anardift. Er wird vom Vertrauen der ganzen Famile getragen, und es fieht falt aus, als ob bie Gutmiitigfeit der Leute ihn entwaffnen und als ob am Ende nit Blut, jonbern nur eine Bers lobungsbowle fließen würde. Te größer die Zahl der Briefe wird, um fo plajtilcher zeichs nen lid) bie einzelnen Perjonen ab: ber pflidttreue, gutherzige, furchtloje Gouverneur, bie in ewiger Gorge um ihn zitternde Frau, die beiden verjdiedenen Töchter, ber mto: derne Sohn. Gelbjt bie Bedienten werden in kurzen Strichen und mit fráftigem Humor Berausgearbeitet. Dagwijchen reift dann in dem „Schußgengel“ ber Mordplan. Eine Sdreibmajdine, die zur Reparatur verjandt wird, fommt als Werkzeug der Vernichtung urüd: verabredetermaßen [oll beim Un: lagen bes Budjtabens J — der Gouper: neur heißt Jegor mit Bornamen — bie Ex: plofion erfolgen. Die Kinder verreijen. Wn die Kinder jchreibt der Vater einen heiteren Brief. „Unjer Schußengel,“ heißt es darin, „it abgereijt, id) babe augenblidlid) feinen anderen, als Eure Mutter, unter deren Flü—⸗ gem id) mid) am wobliten befinde. Eben itt fie hinter meinen Stuhl, legt ben Arm um mid) unb tut bie nicht mehr neue, aber immer wieder gern gehörte Frage: Warum bift Du fo blag, Sy..." Das ijt der Schluß des Buches. Es gibt fein Wort mehr. Und bieler Überrafchungs: coup, diejer erzählerijche Trick verblüfft gu- nädjft |o, daß er bas Gewaltjame und Ge- fühlverlegende des tragijdjen Abſchluſſes guriiddrangt. Wenn man jid) dann aller: dings von der Überrumpelung a hat, (tellt fid) bod) um fo [tárfer ein gelpaltenes unb beflemmendes Empfinden ein. Ich rede nidt Davon, daß bie explodierende und bas Ehepaar zerreißende Machine den bis zum S neenon Brief bod) zuerit vernichten wird. Wher id) ftrdube mid) gegen die Art, in der hier Gefühlsverwirrung getrieben und der Mord an zwei guten Wenjchen zu einem erzählerifchen Rnalleffekt gemadyt wird. Das bat einen Anhauch von Frivolität. Zum Schluß möcht’ id) den ‘Freunden bio» grapbiicher Literatur einige Lebensbeſchrei— ungen nennen, die Durd) Thema und Bes handlung bervorragen und auch außerhalb der fachlichen Kreile Beachtung verdienen. Da ift zunächſt eine zweibändige, ganz vor: treffliche Arbeit über „Shalejpeare. Der Mann und fein Werk” von Dr. Max Sy. Wolff (Münden 107 —1909, ©. 9. Bediche Verlagsbuchhhandlung). Gut und mit Liebe erzählend, Hug und mit Wärme urteilend, mit großer Vorſicht fombinterenb und bas vorhandene Material licdtvoll Neues vom Biidertifd. 153 prbnenb und verwertend, hat Max I. Wolff ein Buch geichaffen, bas jid) als wiirdiges Geitenjtiid neben die Bielſchowskyſche Goetbe: biographie ftellt. Das große Wert von Brandes ijt überrajchender, piychologijch tühner, aber aud) gewagter: man foll ben berühmten Dänen immer Iejen, aber fid) nie ganz auf ihn verlajjen. Wolff verzichtet auf allzu kühne Kombinationen, ijt verläßlich, joweit das eben eine Shafejpearebiographie gu jein vermag, geht mehr auf äfthetilch- aritelleriiher als philologiſch-hiſtoriſcher Linte vorwärts und hat die gute Tendenz, dem deutichen Volt in fchöner Form zu erzählen, was bie nimmerrubende Forſchung an Reſultaten gegeitigt Dat. Cine bellere e uice dE für bas beutid)e Haus gibt es nicht. — Um zwei in ihrer Art grundverfchiedene Franzoſen haben fic) zwei unjerer beiten jüngeren Kritifer bemüht und haben jid) ihrer in Werfen angenommen, wie bie Kine Literatur jie noch nicht bejibt. ofef Ettlinger bat fid Benjamin Conftant zum Helden gewählt und erzählt den , Roman jeines Lebens” (Berlin 1909, Egon Fleifchel & Co.). (£s ijt wohl vor: nehmlid) ein pſychologiſches Snterelje, bas n an dieſen geiltreichiten Franzoſen feit oltaire bindet, an Dielen „premier esprit du monde“, wie Madame de Gtadl bem Mann, der ja nicht nur ihr Seelenfreund war, genannt bat. Bei der Fülle ber eiftigen und perjönlichen Sinterejjem, die on|tant mit Deutjchland verfniipfen, ijt ber Verſuch erffárlid), ihn aud) diesjeits bes 9tbeines befannt zu machen und gegen bas Urteil zu proteftieren, bas Gainte-Beuve egen ben ?Berjajjer bes „Adolphe” gefällt bat Cttlinger reitet aud) jehr jchneidige ttaden gegen Diejen ein|t für die halbe Welt maßgebenden Kritiler, „Der mit ebenſo⸗ viel VBoreingenommenheit als Gejinnungs- hochmut Gonjtants Charakter zu ſchwärzen und von der einfeitig « ungiinitiaften Geite un liebte. Anderſeits fann unb will er jelber nicht leugnen, daß fein Held viel SProblematijdjes hatte, eine jeltiam Ihillernde Halbnatur war, ein Menſch, ben die vorzeitige, einjeitige Entwidlung feiner Intelligenz um ben fpielfrohen, gemit: bildenden Lebensmorgen betrogen hatte und der dann frierend unter der Leere eines aller bagenphidert Illuſionen verluftigen Dafeins litt. Starte Emotionen jollten ihn darüber hinwegtäuichen: n ward er 3um Sjajarbjpieler und ftiirgte jid) aus „Behirn: jinnlichfeit” in Liebesabenteuer. Ich jelbjt fann fein Berhältnis zu dieſer willen: ſchwachen Halbnatur mit dem deutfchen Kopfe und dem franzöliichen Herzen finden, aber id) verjtehe wohl, daß dieſe differenzierte Perfonlidfert ben Pſychologen reizt und daß Ettlinger in feiner jehr elegant und flüflig Sap en (id wie ein Roman Iejenben tographijden Studie dagu fommt, gegen das verurteilende — ,, Geridtet!“ Gainte= Beuves 154 Carl Bulfe: Neues vom Büchertiſch BSRRSSSSSSSSaA das aus teilnehmendem Begreifen geborene „Berettet” zu jeter. In eine [trablenbere Beftalt bat fid) Paul Mahn vertieft, bejjen umfangreiches Wert über Guy de Maupaſſant (Berlin 1909, Egon Fleijdhel & Co.) die hohe Meinung von jeinen ‘Fähigkeiten rechtfertigt. ‘Folgt Ettlinger aus pſychologiſchem Sinterelje Den eii nl ae Lebensſchickſalen einer zwieipältigen Sjalbnatur, jo ward Mahn durch bie leiden|chaftlide Bewunderung der künſtleriſchen PAs a Maupajlants i jeiner großen Arbeit geführt. Dieje bie bod) an eibenidjaftitdje Bewunderung, ftd) Halt und nirgends mit —— chen Superlativen arbeitet, hat dem ganzen Buche eine große Wärme gegeben. Man fühlt, Maupaſſant iſt hier nicht das beliebige und abzuwandelnde — eines geiſtreichen Kritikers, ſondern Maupaſſant heißt hier eines der ſtärkſten künſtleriſchen Erlebniſſe einer äſthetiſch durchgebildeten Natur. Man ſehe ſich nur an, wie aL über das Ende feines Helden |prid)t: es tit, als ballte er — die Fauſt über den ſtupiden Zufall jener Krankheit, die einen leuchtenden Menſchen im beſten Alter fällte, als könnte er nur mühſam die Empörung verhalten über das brutale Schickſal, das auf Höhen des Ruhmes und Glanzes einen Unſterblichen hinterrücks meuchelt. So kommt auch ſonſt überall das ſtarke Temperament einer liebenden oder an Verjönlichleit mehr nod) in ber — als im Wort zum Ausdruck, und man Tann ig, wenn man will, nicht nur mit einem Bude auseinanderleßen, ondern darüber hinaus gottlob mit einem eftgeprägten, aufrechten Menſchen, in bem as Lebensfeuer höher und ſchöner brennt als in andern. Es war nicht leicht, bet ber außerordentlichen fünjtlerijdjen Objektivität Maupaſſants bie VBerbindungsfäden zwilchen Schöpfer und Werf zu finden, aber mit weldem Taft, welder Einfühlungstraft, weldem Beritändnis für bas Gebeimnis alles fünitlerijd)en Schaffens bat Paul Mahn diefe Linien gezogen! Und man fpürt immer wieder, daß der deutſche Biograph fid) dem wundervollen franzöliichen Künftler in taufend Zügen verwandt fühlte, nicht zulegt in der Unbefangenheit ber f'ebensauffajjung und in dem ariltofratiichen Brundgefühl bes böhergearteten Menſchen. Zuleßt jet nod) ber neueften, von Eduard Engel verfaßten Boethebiographie gehadit: „Boethe. Der Mann und das Werk“ (Berlin 1910, Concordia, Deutjche Verlags anftalt). Gte bat eine Reihe von Vorzügen: ls ijt in erfter Linie ein äußerſt prattijdjes uch, bas durch bie geldjidte Verarbeitung des ungeheuren Materials und ein bis ins Einzelne leitendes Regiſter ein vorzügliches Nachſchlagewerk ijt. Mit Redt rübmt die Berlegeranzeige, dak bie Engeljche Goethe: biographie jede andere durch bie Fülle der in die Daritelung verwobenen Urkunden übertrifft und falt alles zujammenträgt, was in Goethes Briefen, Tagebüchern und Bes Iprächen bejonders wichtig ijt. Daß fie auf diefe Meile, wo immer es angángig iit, Goethe jelbjt ſprechen läßt, wird man bant: bar empfinden. Daß fie in zulammenfaffen: den Gonderfapiteln über ben Beantten, den Politifer, den Hofmann, den GSymboliter, über Goethes Weltanfchauung, Sprade und Stil, Charafter und Perjönlichteit redet, wird vielen willfommen jein. Aber fie will an Jonjt Neues geben, ja fie will „einen vollftändigen Umfhwung in ber Auffallung von Goethes Leben und Werten“ einleiten. Diefe Worte zielen vornehmlich auf bie Ka— pitel über Friederile Brion, Frau von Stein und Chriftiane Bulpius. Eduard Engel will bieje Damen in ein ganz neues Licht Eu Er glaubt nad) den Urkunden jdjlieBen zu miifjen, daß Goethes Verhältnis zu Friede— rife von Seſenheim febr weit ging und nidt ohne ‘Folgen blieb; er hält die Stein „für die größte Täuſchung oder Gelbittäufchung Goethes an einem der wichtigſten Menſchen jeines Lebensumganges” und fieht in thr eine unvornehme Natur ohne Bröße, ohne Herzenstiefe, ohne Geijtesbóbe — ein ſchimp⸗ fendes, verleumdendes, giftig ftichelndes, phariläerhaftes Weimarer Klatjchweib; und er wirft fid) thr und anderen Philiſtern ge: geniiber zum Ritter der natürlichen unb Dm: gabevollen Chrijtiane auf. Nichts davon ijt abjolut neu. Wenn fait alle Goet dels es ablehnen, beim Kapitel Friederife an die Verführungsgeſchichte mit ben Iebensgefábr: licen Folgen zu en: jo haben fle ihre Gründe dazu. Man kann zugeben, daß einige briefliche Außerungen Goethes unklar find und eine lebhafte Phantafie auf aller: hand Vermutungen bringen fönnen, aber nicht nur zwingt uns fetn Wort mit Mots wendigteit jolche Vermutungen auf, fondern jie werden aud) durd) Goethes Verhalten tt den entjcheidenden Tagen piychologiich höchſt unwahrſcheinlich. an prüfe nur ganz unbefangen nee was Engel an Mas terial beibringt. Den Urteilen über die Stein und bie Bulpius liegt ein gang richtiges Gefühl zugrunde, bas aud) jchon früher viele ehabt haben — id) felbft habe vor vielen d prem erbittert gegen die prätentiöje Char: lotte Front gemadt und eine Lange für Chrijtiane — Aber Engel übertreibt hier in Liebe, dort in Haß, und anſtatt das alte Bild, das ſich im Publikum feſtgeſetzt hat, zu korrigieren, ſtellt er ein neues, nur nad) ber Gegenſeite verzerrtes Din, unbes wut vielleicht von bem ?Be[treben geleitet, „Neues“ zu geben. Goll id) nod) erwähnen, daß Engel einen flaren, objdon nicht fonderlid) konzentrierten Stil [d)reibt, ber fid) baburd) auszeichnet, daß jedes Fremdwort darin vermieden ijt? Lheoretifd bin id) für Sprachreinigung jebr begeijtert, aber bie „Waden und Klötze“, an die man häufig genug bei Engel anläuft, zeigen nur wieder, wie ſchwer bas nuancen= gebende Fremdwort oft zu erjegen ift. — Illuſtrierte Rundſchau. Das Mädchen von Anzio. — Die Lionardo-Büſte des Berliner Kaiſer— Aal :Mujeums. ayern als junger Oberſt. — Gilberjtatuette Bon Prof. H. Waders. — se ad age Sandwertstuntt: Speijezimmer von O. Gußmann und E. 9. des Prinz: Page Va von erfjitátten fiir Walther; Ar: beitszimmer von Prof. X. Riemer} dmid. — Yteues mn deka er Bor: gellan nad) Entwürfen von R. Sie und Ad. Niemeyer. — 3u unjeren > Vie Kunftihäge Roms haben im Ießter Zeit eine große — erfahren: In den Thermen des Diocletian, dem großen Antikenmuſeum, wurde das „Mädchen von Anzio“ aufgeftelt (nblid)! Denn biejes SBunbertpert ber antifen Bildhauerfunjt war tatjächlich |djon vor etwa dreißig Jahren aufgefunden worden, aber nur jehr wenige Bevorzugte d es bisher ee und be: wundern dürfen. Ein eigentümliches Gdjidjal lag über dem Fund. Jn einer Sturmnadt rip bas Meer einen Teil ber Ruinen des Ralajtes ein, den p angeblich Raijer Nero am Gtrande von Antium hatte erbauen laffen. Eine Niſche wurde durch ben Ein- jturz [reigelegt, in der Fiſcher eine über- lebensgroße War: morfigur — en ja: hen. ther Des Geländes, Fürſt Al: dobrandini, ließ bie Gtatue bergen und Dal leitbem in Jeiner Billa „Sar: fina” — nidt etwa als Runjtfreund, ſon⸗ dern in ber Hoff: nung, A bei pajjen: der Eenbeltinöne lichft bod) zu verter: ten. Nunijt befannt: lid in Italien bie. Ausfuhr von Kunſt⸗ gegen] Jtánben E CE ualitatdurd Gejet verboten oder wenig: pene Jo erichwert, aß es einem Verbot nahe fommt. Man perjudj es Daher häufig, Runjtwerfe über die Grenze zu Ihmuggeln, und Si wird erzählt, der fürftliche sBefiBer habe ber Statue ge- legentlid) ben Kopf abimlagen lajjen, um pene ens Dielen über die Grenze zu Ihaffen. Wud) bas aber wurde vereitelt; die italienijche Re: gierung trat darauf mit dem Fürften in Das Madden von Anzio, Mad einer Photographie von D. Anderfon in Rom. ildern. Verhandlungen, die lange erfolglos blieben, bis der Staat jeb5t endlich bas „Mädchen von Anzio“ für 450000 Lire erwarb und nun zur Aufſtellung im Thermenmujeum bradjte. Es handelt jid) bier, nad) dem Urteil aller Kenner, nicht um die römijche Nachbildung eines griedjijdjen Originals, jondern um ein jolches jelb|t, und zwar um eine hervorragende Arbeit aus bem III. ober ahrhundert p. Chr. Ja, man hat jogar auf Braxiteles ober bod) eine jeiner Wert: itátten gejdlojjen, jo edel und anmutig ijt bie Ihreitende Gejtalt, jo ſchön ber Ausdrud bes (leider etwas eet ua TE Antliges. Das ] „Mädchen von 9n. gio" ftellt eine ganz junge ‘Priefterin, vielleicht eine Cem: peljllavin, bar — eine abjolut ſichere Deutung [djeint nod) nicht ge en wor- den zu En — Die legten Woden haben wieder ein: mal einen heftigen Streit aufdem, heute mehr als je von Rampfeslujt durd: tobten Gebiet der Runjtfennerjdaft ge: bradt. Geheimrat Wilhelm Bode, der Reiter der Berliner Muſeen, erwarb für 160000 Mark eine \ehr jchöne Wachs: biijte der $ylora, die er mit ziemlicher Be- ftimmtbheit auf Lio- nardo da Vinci ober mindeftens at den engiten Kreis jeiner Kunft zurüdführte. Der Mehrzahl un: lerer £ejer wird don aus Zeitungsnad)- richten befannt ſein, daß Geheimrat Bode bald nad) dem An— fauf in den „Times“ heftig angegriffen wurde: Gr jollte ge- tdujd)t worden fein, lich D oM haben; üfte jei feine v ebeit Lionardos, Die Lionardo-Büſte bes Kaifer: Friedrich: Mufeums in Berlin. Nach einer Photographie von 9L. Schwarz in Berlin, überhaupt nicht ein Werf der italienijden Renaijjance; ein englijder Künitler R. G. Lucas hätte fie im vorigen Jahrhundert ge- fertigt, und fein heute nod) im Alter von acht⸗ zig Jahren lebender Sohn, der ihm dabei geholfen, tónnte bieje Tatjache beitätigen. ieje ganze Gejdjid)te war derart gejdyictt aufgepubt, daß aud) mancher Aunitfreund in Deutjchland mit bangen Zweifeln erfüllt wurde. In England wurde bie Senfations: nachricht mit faum verhehlter Schadenfreude aufgenommen, und bet uns traten die an Zahl nicht gerade geringen Gegner Bodes in zahlreichen Zeitungsnotizen gegen ihn auf. Inzwiſchen hat er aber jelbit das Wort ergriffen, und unbeftreitbar mit durch: Ihlagendem Erfolg. Es ijt heut nachgewie- jen, daß Lucas lediglich Rejtaurationsver- Juche an der Biijte vorgenommen hat — und —— recht unglückliche Und Bodes weitere Iusführungen bejtdtigen durchaus die ur: \prüngliche Annahme, daß die ?Büjte, wenn nicht eine Originals arbeit Lionardos - elbjt, jo bod) ein Mei— terwerf ijt, bas unter Der direften Cinwir- fung des großen Ma— lers, Der ja auch ein großer SBfajtifer war, entitanden jein muß. Es wird ja der Streit auch jebt mod) nicht ganz verjtummen ; denn (iferjud)t, Neid und Cigenjinn laſſen fic) ſchwer oder gar nicht überzeugen. Der Un: ac aber muß (id nad den Bode- hen Beröffentlichun= gen jagen: Wir tón- nen uns freuen, Die \höne $ylorabüj|te zu bejiBen. — Der ehrwürdige Prinz = Regent von Bayern feierte jüngjt die fiebzigjte Wieder: fehr des Tages, an dem er — „der älteite Ranonier Bayerns“ — Inhaber des 1. Kal. geld = Artillerie: Regi- ments wurde. Das Regiment durfte bei Dieter Gelegenheit jei- nem hohen a eine Silberjtatuetteüberrei- en, bteibnals jugend— [iden Oberft daritellt. Das etwa 30 3enti- menter pope, feine Runjtwerf ijt von Bro- fejjor $. Waderé ent- worfen und wurde durch L. Wittmann in Silber ausgeführt. — Die veridjiebeniten Werturteile, denen nun einmal jeit alters her alles Menjchenwert unterworfen ijt, find bei den Erzeugniffen des modernen Runjtgewerbes nur zu natür: lid), und es wird gar oft nicht ſchwer fein, ebenjo ein anerfennendes, wie ein abjprechen: des Urteil über denjelben Gegenjtand mit Hugen Worten als berechtigt zu beweijen. Was der eine in jeiner Einfachheit und Wahrhaf: tigteit als jchön empfindet, dünkt den an- Dern nüchtern und häßlich; ber eine liebt bas ungefiinjtelt Derbe, ber andere das funit: voll Denn und jo beruhen bie gegen ſätzlichſten Werturteile nicht auf den Eigen: \haften des Werkes, jondern oft, ja meift viel mehr auf ber verjchiedenen Anſchauung der Beurteilenden in bem fic) ewig erneuern: ben Kampf um neue Probleme und neue Ideen. Kur wo ein Werk durch jeine bloße Gxijtena jeine volle Dajeinsberechtigung erweilt, fid) SSSSSsSssesesssSsssq SUuf — Ehrengabe an den Prinz— Regenten von Bayern von dem 1. Feld-Artillerie— Regiment „Prinz-Regent Luitpold“. Entwurf, und Modell von Prof. Heinrich Waderé, Btielierung in Silber von Ludwig Witt: mann. jo jelbjtverftändlich, aleid)jam organijd) ge: wadjen gibt, baB es ohne weiteres über: zeugt, pflegen die Mei: nungsverjchiedenheis ten zu verjtummen. Zu den Arbeiten diejer Art möchten wir aud) bas auf ©. 158 abgebildete Arbeitszimmer ‘Prof. Riemerjdmids — red): nen, bas [o gar nidts Beſonderes an fich hat, aber in allem Jo iit, wie es eine erniter 9[r- beit gewidmete Stätte verlangt: freundlich, wohnlich und frei von trierte Rundſchau. 157 allem, was bie Gedanfen von der Arbeit ablenten finnte. Es ijt einer ber anjprudslojejten, dabei aber reifiten und vollendetiten Raume, die Prof. Niemerjchmid bisher gejchaffen hat. Unter den fiinjtlerijden Mitarbeitern der „Deutjchen Wert: ltätten” für Handwerkskunſt“ hat fic) neuerdings aud) Prof. Otto Gußmann hervorgetan, der ebenjo wie €. $. Walther Maler ijt und fid nur „im Nebenfach“ funjtgewerblid) betätigt. ie gut beide Künjtler Dabei auch praftijden Bediirf- niljen Rechnung zu tragen willen, läßt |djon der Aufbau der beiden Birtetts erfennen, die wir im Rahmen ber von ihnen entworfenen jchönen Speije- zimmer: Einrichtungen abbilden. — Im Gegenjat of! ber übrigen feramijchen In— duftrie, bie von Anfang an im Bordergrund der neuzeitlichen Bewegung jtanb, hat fid) das Porzellan, biejes edelfte Produft der Reramif, ihr nur langjam angelchlofjen, und unjere großen Mianufafturen haben ſich troß bes Giegeslaufes bes dänijchen 3Borgellans thr lange vorjichtig fern gehalten. Auch bie König: liche Nymphenburger Manufaktur (jebt in privatem Beli) hat jtd) joId)er een ete befleißigt; wohl erfennend, daß das Porzellan jeinen ganz eigenen Stil hat und Wandlungen fid) hier auch unter bem Einfluß ber neuen Runjtbewegung nur mit der Zeit, nur ganz allmählich herausbilden fonnen. Cie blieb Daher der alten Tradition treu und wahrte ihren guten Ruf durch die alten Vorzüge i Arbeiten: tadellojer Scherben, guter Formen und vorzüglicher Bemalung. Um fic aber nicht überholen zu lajjen und in der Erkenntnis, daß jid) in den plajtijdjen Erzeugnijjen, bejonbers ber Ropenhagener Manu— falturen, und in dem wunderbaren Yarbenichmelz der Unterglafurfarben Anderungen antiindigten, bie vielleicht zu einer neuen Blütezeit ber Porzellankunſt führen fonnten, 309 fie junge Künjtler von aus: ——— Eigenart heran und bot ihnen die Ge— egenheit, ſich in ihrem Betrieb mit den Eigen— heiten des Materials vertraut zu machen, deſſen ge— : Büfett. Bon Otto Gußmann. Ausführung: Deutiche Wertijtätten für Handwerfstunft, G. m. b. H., Dresden. 158 BS] IMuftrierte Rundihau IBSSSSssessss3sesid naue Renntnis auffaum einem anderen Schaf: fensgebiet für jeden, der fh bier künſtleriſch und jchöpferijch betä= tigen will, |o unbedingt notwendig ijt. Die SBorgellanted)nit ijt in vieler Beziehung am: deren Gejegen unter: worfen als die übrige feramijche Produftion, und wer die Sierlid)- feit und gragioje Ans mut der Arbeiten aus ber Rofofozeit furzer- band bird) Stilijieren und Durch) moderne Linien erjegen zu fün= nen glaubt, zerjtört meilt ihre Fernitei Schönheitswirfungen. Gerade biejen Forde— rungen, Die jid) aus der Gonderheit Des Wtaterials ergeben, fommt nun Prof. Niemeyers Schaffensweile entgegen, be|jen [tarfem Formgefühl fich ein pecie nietict Geſchmack gugejellt. Man jebe fid) daraufhin auf unjeren Abbildungen Geite 160 bte Doje mit dem zierlichen Ge: rant ber Lärchenzweige an oder bie niedrige Blumenfchale mit der feinen ſchmalen Blüten ranfe und den wenigen, bod) regelmäßig per: teilten Injen Blüten. Auch, wo der Künftler Arbeitszimmer aus Arbeitszimmer. Ausführung: Deutjche 8 Von Richard Riemerſchmied. ertitatten für Handwerkskunſt, G. m. b. $., Dresden. am mtem Birlenholz. Bon Richard Riemerſchmid. ge a Ausführung: Deutiche —— — ſür Handwerkskunſt, [5 m. b. §., Dresden einen dicht geld)Iungenen Blütenfranz auf ben Rand eines Tellers legt, weiß er ibn durch die Farbenwahl und durch natürliche Dar: ftellung leicht und Dduftig zu Halten. Der bodjbegabte €anbjdjaftsmaler Rudolf Cied, von be|jen leuchtend farbigen Sommerbildern wir in bielen Heften jdjon öfters Abbildungen bradten, hat für die Jtymphenburger Manu— faftur eine Reihe von Gchautellern und SMujtrierte Rundjdau. BSsssssssssd 159 Saee ie pier außerordentlich gierlid) und reizvoll bemalt. — as N ber Sluftration bes vorliegenden Heftes liegt wiederum zum guten Teil auf ber Farbe. Farbige Repros duftionen bringt ber reigenbe Tänzerinnen: Artikel; farbige Photographien, wie fie Dr. Osborn in jenem Eſſay kurz und treffend behandelt, bilden die Grundlage Dreier ſchönen Einfchaltbilder in fid) ganz verſchie— dener Art: einer Porträtjtudie, einer Jiepro- buftion eines alten Meilterwertes, eines nad) ber Natur cing dM quid Stillebens; farbig aud) ijt unjer Titelbild, eine famoje Bildnis: jtudie von Gonjtan nae von Breuning, ber hod): begabten Wiener alerin. Zwei weitere far: Speijezimmer. Bon €. 9. W Ausführung: Deutiche "ahertitütten für d xb ote nlt "6. m. b. §., Dresden. & bige Einjchaltbilder endlich begleiten den Auf: Ib über den jungen Münchner Künftler Fr. wald; famos jcheint mir befonders auf dem Schneebild „Wintertag” ber Ton des Ori— gee getroffen. Übrigens rate ich ben nitfrohen Lejern an, das *Bollidje, nad) der Natur |. Photographierte Stilleben (zw. ©. 24 u. ©. 25) einmal bireft mit dem Ctilleben Don Opwald (Gw ©. 48 u. C. 49) zu vergleichen. Die Meinungen wer: den bet biejem ?Bergleid) ficher weit aus: einander gehen, und es tjt mir zweifelhaft, ob die überwiegende Mehrzahl ohne weiteres zu dem an lich ja naheliegenden Schluß ge: langt: bei allem Rejpeft vor den erjtaun: lichen Reiltungen der Photographie muß man 160 SUuftrierte Rundſchau. mein bewundert wur: den (310. ©. 96 u. C. 97). Bon Osfar Hullgren bringen wir zw. C. 72 u. ©. 73 eine ernite, \höne Marine; von dem trefflichen, immer interejlanten Stutt— garter Robert Weije einen reizenden „Eſel— — ED © 9 LS O HE 6 © «RU 0 BL 9 agr 9 SH 0 BEC SES 0 HS Q GH 9 DD P FS 0 ES 0 HS 6 Ste Carnevale. Gemälde von Curt Ulrich. ————'É——————————— e. ELQSSSeosesesesssssy Auf martijder Erde. Gefidjt. „Du willft fort, Helene? Heut ? Syebt? Am heiligen Abend?“ „Nur zu Frau SHarriers-Wippern.” . Das Rügen war nicht fo leicht, wie vor: bin. Der Junge hatte ein Baar Augen, die dreinjdauten, als wollten fie einen durch⸗ bohren. „Sie bat mid) zur Befderung gebeten. Ih fomme gleid) zurüd, lieber Harro.“ „Ich bring? Did —“ Er griff [don nad dem Kleiderrahmen an der Wand. „Nein, bas gebe id) nicht zu. Du darfit jebt nicht von Tante fort.“ „Wir fommen ja gleich gurtid.” Faſt bóbni[d) flang’s, wie er das ‚gleidy‘ betonte. „Unter feinen Umftänden, Harro. Laß nur, td) bitt? Dich!“ Der Boden brannte ihr unter den Füßen. Mie nur den dummen, lieben, eiferfüchtigen Jungen beruhigen, bejeitigen? „Sch dankte Dir aud) vielmals für das ſchöne Buch, Harro. Geibels Gedichte hatt’ id mir fchon lange gewiinjdht. Wie gut Du bas getroffen haft.“ Er ftand noch immer. Da fam ihr ein toller Einfall. Sie padte plölich den Ropf bes Jungen mit beiden Händen unb füßte ihn: „Dank, Harro!” und nod) einmal „Dant — Dank!“ Küßte ihn auf bie gudenden Lippen. Derb und herzlich. Und dann ließ fie thn jteben, rannte zur Tür, rannte burd) den Bor: garten, jagte die jtille, menjchenleere Straße entlang. Immer vor fid) hin lachend. Ein Küchen in Ehren... da hatte fie einen Gliidliden gemadjt, recht zum fchönen Weihnadtsfefte. Ein Küchen in Ehren... weiß Gott, in Ehren, denn fold) Ruß zwijchen Coujin und Goufine war ja nicht viel anders als zwiſchen Gejchwiltern.... . aber was der Junge für Augen gemadt hatte! Das Ladhen nod) auf ben Lippen, die Wangen vom [djnellen Lauf in ber falten Luft gerötet, fo fam fie in die Konditorei, nidte bem alten ‘Fräulein zu, hob ben Plüſchvorhang — und wäre fajt in ein lautes Jubeln ausgebrochen. Denn da ftand Fred, hatte eine richtige Meine Weih: nachtspyramide vor und zündete bte gelben SBadjslidjterdjen an. Gerade nur zwei Spannen hod) war bas Gejtellden, ſtreckte feine adjt gerablinigen grünen Arme fteif von fid), vier größere unten, vier fleinere fBelbagen & Rlafings Monatshefte. XXIV. Jahrg. 1909/1910. II. Bp. BSsssssssssa 177 oben, auf der Spige aber turnteein goldenes Engelchen. Gie flog auf den Geliebten — is flog ibm an ben Hals: „Ad Du bas bajt Du für mich?“ ,Celb|t auf bem Weihnachtsmarkt vor dem Schloß gefaujt und bódjjteigenbünbig bertransportiert. Gibt’s etwas Lieberes, Scheußlicheres als fold) eine Berliner Py⸗ ramibe?" Und dann [apen fie nebeneinander auf dem Sofa, und erjt mußte er die Mugen zumachen, „aber fejt, ganz felt,” unb [ie baute thm unter der Pyramide den fleinen Labatsbeutel auf, in deffen Perlenfticeret fie fo unzählige gute Wünfche hinetnge- arbeitet hatte. Und darauf hielt er ihr mit der Linken die Augen gu und framte aus ber Tafche heraus. Cine Brofche mars mit gelben gejchliffenen Topaſen, aterlid) in Boldfiligran gefaßt, ein rotes Juchtentäfchchen für Vilitenkarten, ein Fläſchchen Violet be Barme. Und nun ging’s ans Sehen und Bewundern und Bedanken. Mit den Heinen Bunjchgläfern, die Fräulein Minna hereingebradyt, ftießen fie an; ein Schüffelden mit fiigem ge- riebenen Mohn jtanb daneben, bem Ber: liner Weihnachtseffen, davon ftedte Helene ibm einen Löffel voll in den Mund und wollte fid) totladjen, als er fid) entjebt ſchüttelte. Mit einem Male klang ein Klavier, dünn und fein, aber ganz deutlich. Es mußte wohl oben, über der Konditorei be⸗ ſchert werden: „Stille Nacht . . . Heilige Nacht ...“ . Und dann begann Helene mitzuſingen. Ganz leije guerjt. Dann ftimmte er ein, und nun fangen fie beide, laut und voll und jubelnd. Cie merften es gar nicht: ber Plüfch- vorhang hob fid) verjtohlen, unb zwiſchen ben braunen Falten fchob fid) bas alte ver: rungelte Geficht von Fräulein Minna bin: durch. Gang ftill ftand fie, andadtsvoll laufchend, mit verfldrten Mienen. „Stille Nacht, heilige Nacht, Alles ſchläft, einjam wadt Nur bas traute, bod)beilige Paar. —— Knabe im lockigen Haar — chlaf in himmliſcher Ruh —“ Der Geſang verhallte. Sie ſahen ſich an mit leuchtenden Augen und wußten beide, 12 178 Besssssssssssssssesessg Hanns von 3obeltig: BSSSSSSSessessesss daß fie nod) nie, nie fo ſchön gelungen batten, nie ſchöner fingen würden, als eben. Langſam glitten die Falten bes braunen Vorhangs wieder zufammen. „Bar das fin! War bas |djón!" Daudjte Helene. Und er füpte ihr bie Tränen aus den Augen. Eine ganze Weile faßen fie ftil. Die winzigen gelben Wachslichterchen brannten herunter. Weihnachtsduft 30g burd) den Raum. Nun erfojd) das legte Licht — Da ftand Helene auf. „Ich muß fort,“ iprad) [ie leife unb gepreBt. Es wurde ihr jo ſchwer, jo jchwer. „Bleib bod) noch!” bat er. „Bleib dod) 4 Aber fie ſchüttelte den Kopf, faBte nod) einmal feine beiden Hände: , Sant... Dank für diefe Stunde!” Noch einmal umarmte fie ihn. Draußen an dem Kuchentifch mit den vielen Glasgloden und Flajden jtanb Fräulein Minna. Sie fnidjte tief, als Helene voriiberfam: „Wie wunderjchön haben die Herrichaften gejungen. Unjer Domchor fann’s nicht [d)óner." Cie hörte es nidjt. Es war wie ein großer Rüdfchlag auf all dieje Freude und Geligfeit in ihr, eine herzbeflemmende Angit: Harros Augen ftanden vor ihrer Seele. Diefe hellen Rnabenaugen, die fie wie entgeijtert angefchaut hatten. Und auf dem furgen Wege nad) Haufe überjd)lid) fie nod) ein anderes Gefühl, zum erjtenmal: bie Scheu vor der Lüge. Bisher hatte die Heimlichfeit täglich neuen Reiz für fie gehabt; plößlich, jah, erſchrak fie vor ihr. Weshalb jet, plöglich — fie wußte es nicht. Bielleicht taten auch bas die hellen Rnabenaugen. Die Straße entlang hajtete fie, aber als jie in den Borgarten fam, wurden ihre Schritte langjamer und langjamer. Tod) nie war ihr der Mut gejunfen, jebt lähmte eine Dumpfe Zaghaftigfeit ihr bie Glieder. Und trobbem wiederholte fie fid) immer wieder: es war bod) jo [din . . . es war bod) fo Schön — und hätte weinen mögen. Der große Tannenbaum war [djon er: lofchen. Tante $Ojdjib Jap ermiidet in einem Lehnſtuhl am Ofen, fragte nur flüchtig: „War's ſchön?“ Ganz jeltjam fang bas Helene. (ie nidte nur ftumm. Dann jah fie verftohlen auf Harro. Der hodte an feinem Babentifch, den Kopf gang tief über ein Buch gebeugt. Lejeratte, die er war. Es wurde Sjelene leichter ums Herz. Vielleicht — vielleicht hatte fie fid) bod) getäufcht. Er madjte einen [o finblidjen Cindrud, wie er da ſaß, die Hände an den Schläfen, Die Finger in das dichte blonde Haar ge: wühlt, verjunfen in fein Gefdjenfbud). Nicht einmal aufgeblict hatte er bet ihrem Kommen. Dann meldete der alte Diener, dak angerichtet wäre. Tante Marianne ftand auf: „Kommt, Kinder!" Wie Sjarro nun den Kopf hob, ba fah Helene bie flammende Rote auf feiner Stirn, auf jeinen Wangen und empfand, daß er ihren Bliden auswid. Und als er dann am zierlich gedeckten Kleinen Tijd bas Gebet ipredjen jollte, wie alle Tage, ba famen bie gewohnten Worte eigen aerjitüdt von feinen Rippen. Er jprad) wie ein Träu: menber. So daß die Mutterjagte: „Aber $jatto, was haft Du denn? Cs ift ja wirflid), als ob Du unjeren Herrn Jeſu über Deinen neuen Band Grube vergejjen finnteft. Schäme Did.” Er fchraf gujammen. Aber es war wie ein Troß in ibm. Kein Wort der Ent: \cyuldigung iprad) er, fette ftd), fteckte fid) mit feinen rajden, fnabenbaften Be- wegungen die Serviette zurecht; immer ohne aufgujeben. Und die Bierfarpfen, pon denen er geftern im voraus gejd)mármt, rührte er faum an. Bald nad) Tijd brachte der Diener bie Leuchter herein, jtellte fie auf den Tiſch an ber Tür, die Schachtel mit ben Streid)- hölzern daneben und auf jeden Leuchter die Lichtpußfchere. Wie an jedem Abend. „Der gnädigen Herrſchaft wünjche ich gute Nacht,” jagte er leife, wieimmer. Es war wie an jedem Abend das Zeichen zum Aufbruch. Tante Mtartanne glitt, langjam unb geräufchlos, zu dem Tijd) an der Tür hinüber, zündete umjtünblid) bie drei Kerzenjtümpfe an. „Gute Nacht, Kinder.“ Dann füßte fie den Sohn, legte auf einen Augenblid die Hand in die Helenens. Und wie an jedem Abend fttegen bie beiden gemeinjam die Treppe hinauf. Das war jonjt oft, fajt immer unter balblautem Laden und Scherzen gefchehen, und manchmal hatten fie, zumal in der eriten Zeit, nod) ein paar Minuten auf - — —————— — P — — der großen Truhe oben gefefjen und ge- plaubert. Heut ging Harro ftumm neben Sjelene her. So ftumm — das Herz wurde ihr idjper und fdwerer. ‚Wenn ich nur erjt in meinem Zimmer wäre,‘ dachte fie be- flommen. Nun war fie oben. „Bute Nacht, Harro,“ fagte fie raſch. „Schlaf wohl!” und reichte ihm bie Hand Hin. Da griff er, miteinem 9tud des Armes, gu, jah fie zum erftenmal heute abend an. Mit einem eigenen Blid, nicht mehr ver: jteint, jondern forjdend, vorwurfsvoll. Das Helle, Kindliche [chien in ben blauen Augen erlojchen, ein dunkles, wiljendes Leuchten war darin. Um [eine Lippen zudte es. Plötzlich beugte er fich. Che fie es hindern fonnte, hatte er ihr die Hand gefüpt, und fie fühlte eine ſchwere Träne auf dem Gelenf. Und bann lief er aud) id)on, wortlos, den Blur hinunter, feinem Zimmer zu. 7. Rapitel. Zwifchen Weihnacht und Neujahr war Alfred verreijt. Cr gajtierte in Fran: furt a. M., und feine Abwejenheit dehnte ftd) bis Anfang Januar aus, länger als er Helene gejagt hatte. Cs war eine öde, trübe Zeit für fie, ba aud) Frau Harriers: Wippern Ferien hielt. Die Stunden Ihlichen dahin und bie Tage, und Helene fam in ein fremdes Grübeln hinein. Wie auf Wolfen war fie gewandelt in all den lebten Wochen, wie in einem Raufd. Nun bünfte fie alles um [te Der jo nüchtern, [o leer, ihr Dajein |o ſchal, als wäre ihm jeder Inhalt genommen. Harro war tagsüber faft nie zu Haufe, hatte taujend Ausreden. Oft genug fehlte er fogar bet den Mahlzeiten; bisweilen fam er erjt pdt in der Nacht aurüd, heim: (id) auf verbotenem Wege, mit falfden Cdjüjjeln. Manchmal hörte Helene in ihren unruhigen Nächten nod) nad) Mitter: nacht feinen Ieijen Schritt auf dem Korri- dor. Und es gab ihr jedesmal einen Stic ins Herz: aud) daran war fie ſchuld. Ganz genau wußte jie bas. Einmal, nachmittags, war Tante Marianne zu ihrem Banfier gefahren. Helene ſaß unten im Salon. Es bümmerte Auf märkifcher Erde. 3625353535353 ZZ 179 (on leicht, jo daß fie ihr Buch aus ber Hand legen mußte. Mehrmals ging fie im Zimmer auf und nieder, fegte fid) vor bas Injtrument, jchlug ein paar At: lorbe an. Wie eine halbe Ewigfeit er: Ihienen ihr bie Tage, in denen fie nicht geübt hatte. Cie dachte nad: wann haft du überhaupt bas lebtemal gejungen? Und da jchoß ihr durch ben Ginn: am heiligen Abend! Am heiligen Abend — mit ibm! Jn jener Stunde, in ber fie eigentlich zum Iebten Male fid) ganz, ganz glücklich gefühlt batte — Co deutlid), fo zum Greifen deutlich ftand plößlich wieder fein Bild vor ihrer Geele. Ob er wohl jebt ihrer gedachte? Tiefer janfen die Schatten herab. Faſt dunfel war es im Zimmer. Ganz leife und jacht fing [ie an, gerad fo, wie fie beide neulich — neulich angefangen hatten. „Kur wer bie Sehnjucht kennt, Weiß, was id) leide! Allein und abgetrennt Bon aller Freude —" Sie wußte nicht, wie bas Goethelied ihr ins Gedächtnis gefommen war. Nur das fühlte fie, daß es ganz ihrer Stimmung entjprad). Und ihre Stimme hob fid, ſchwoll und ſchwoll — „Ad, ber mid liebt und fennt, Sft in der Weite —“ Einmal war es, als ginge eine Tür. ber fie überhörte es. AU ihre Seele war bei dem Gejang. „Nur wer bie Sehnſucht fennt, Weiß, was ich leide!“ Ein paar Atempiige lang jaB lie ganz jtill, bie Hände nod) auf ben Tajten, mit gejchloffenen Augen. Ihr war [o wohl und war jo weh — Da hörte jie deutlich nebenan, im Ur: beitszimmer des Herrn von SOjdjib, ein verhaltenesSchluchzen. Cin einziger furzer Ton nur war's. Faſt nie betrat jemand dies düſtre kleine Gemach bes Berjtorbenen. Und nod) einmal flang’s auf, jo daß fie zu: Jammenjdauerte. Ein Wehlaut, wie mit Troß unterbrüdt. galt im gleichen Mtoment aber |prad) jemand nebenan. Des alten Dieners Stimme: „Die Lampe, junger Herr — Ste 12* 180 EEEEEEEEEA Hanns von 3obeltig: BSSSSSeseseessscaa woll’n fic) wohl die Augen gang verderben.“ Und dann ſchlug wieder eine Tür heftig zu. ‚Armer Harro! Lieber armer Junge! Wud Dir muB ich wehtun, Du dummer lieber Junge — Während des ganzen Übends, die halbe Nacht über wurde jie den Gedanfen an ihn nicht Tos. Diefe unrubigen Nächte! Da famen die Gedanfen, wanderten, erlojchen und ftiegen aufs neueempor. Die Sehnſucht fam, frallte fid) ein, wurde zum zehrenden Schmerz; wollte fid) aufrichten am QGlüdserinnern, wurde herabgezerrt vom zagenden Zweifel. Wie zerboriten, zertrümmert Jah Selene bisweilen den ſtolzen, ſchönen Bau der Zukunft vor fid), den fie fo fiegesgewiß aufgerichtet Hatten. Gr ſchrieb fo felten, jo furchtbar felten für ihre Sehnfudht. Seine Briefe waren jo furg und farg. Giertg ſuchte fie zwijchen ben Zeilen, was nicht in ihnen ftand. Immer nur von feinen Erfolgen, Trium: phen ſchrieb er, von | einer Arbeit. Manch⸗ mal, wenn fie fold) ein Billett mutlos in den Schoß finfen lief, fam ihr ein häßlicher Gedanke: er’ jpricht ja eigentlich immer nur von fid). Aber fie [chüttelte fold Emp- finden ab, wie einen Schmußtropfen. Sie Ichämte fid. Vor Jahren hatte fie in Rohlbed ein- mal Goethes „Wahrheit und Dichtung” gelejen. Debt ging fie an Harros Bücher: Ichranf, fuchte fid) den Band heraus, lief Frankfurts Straßen und Ballen vor [id) aufiteigen, ging wie im Traum mit bem Geliebten zum alten Römer und in das Haus am großen Hirjdgarten. Bon dem Ichönen Gretchen las fie, von Goethes Gefundanerliebe, und dachte an Sjarto. Dadhte dann jah aud): ‚Die Schönen Grant: furterinnen!‘ Es war der Bliß einer Eifer: ſucht. Er traf und [chmerzte. Wher gleich lachte fie leife vor fid) hin. Wie man [o töricht werden fann vor Sehnfudht! Das Lachen erjtarb, bie Sehnfucht blieb. Tante Oſchitz fümmerte fid) nicht groß um Helene. Das hatte fie nad) einigen Anläufen aufgegeben. In ihr lag esnicht, um Geelen zu fämpfen. Gie felber hatte fid) durchringen müjjen. Das mochten andere auch tun, und es gelang jedem, fo Bott es wollte. Helene war ihr aud) wejensfremd. Cie hatte fie gern, aber nicht mehr; es gab feine engeren Berbindungsglieder zwijchen beiden, als die Berwandtichaft fchlug. Und wenn fie doch einmal, felten, eine Brüde judjte, fo fchredkte ihre Herbheit Helene ab, vielleicht gerade weil dieſe herbe Art fid) meilt fo eigen mit fanften Worten gab. Troß allem konnte Tante Marianne bie Veränderung in Helenens Weſen nicht ent: gehen. „Du [iebjt ſchlecht aus, Kind,” fagte jie eines Tages. „Ich glaube, Du fommft zu wenig an die Luft.” „Ic bin ganz wohl.” Cie [aBen ftd) in der tiefen Fenſterniſche, unten, im Salon, gegenüber; Tante Pita: tianne mit einer ihrer Handarbeiten be: Ihäftigt, bte Harro früher bisweilen re: Ipeftlos genug mit Penelopes Geweben verglichen hatte, Helene über ihrem Bud). „Man täufcht fid) in der Jugend leicht über das eigene Befinden. Wirklich: Dein Ausfehen ftraft Did) Lügen.“ „Ich bin ganz wohl,“ wiederholte He: lene Dartnádig. Tante Oſchitz [ab ſchärfer zu und [chüt: telte den Kopf. „Ich will Harro fagen, dak Ihr morgen einen tüchtigen Spazier⸗ gang macht.” „Bitte — nein, Tante —" Es fam fo heftig heraus, daß bie alte Dame jtubig wurde. „Habt Ihr Gud) brouilliert, Du und Harro?” fragte fie er: ftaunt. „Ihr wart doch fo gute Freunde.“ „O ja... onein! Nur...ichmeine... Harro Bat [o vieles andere vor jest. Er braudt auf mich feine Riidjidten zu nehmen.“ „Biel zu viel hat bet Schlingel vor. Id) bin aud) nicht blind.” Tante Mtarianne lächelte — für ihren Jungen hatte fie im lebten Grunde ihres Herzens immer Ent: ſchuldigungen bereit. „Aber esbleibtdabei. Morgen treibe id) Euch beide aus dem Haufe.” | (Fs blieb wirflid) babet. Und es wurde ein qualvoller Spaziergang durch ben ver: Ichneiten Tiergarten. Sierajten im ſchnell⸗ ten Tempo ihren Befundheitsmarich ab. Immer dachte Helene: ‚Das find diefelben Mege, die er und id) gingen.‘ Immer Dachte fie dazwilchen: ‚Der arme Junge, ber arme Junge!‘ | Die Querallee waren fie gegangen, zum großen Stern, bogen nun wieder in das posee. Auf märliiher Erde. BeEScessessesd 181 Weggewirr ein, das zur Rouſſeau⸗Inſel guriidfiibrte. Obne ein Wort zu [predjen. Mtandmal jab Helene ſcheu auf ihren Be- gleiter. Er hatte die Hände tief in die Manteltaſchen gejtedt, zur Fauſt geballt; der [djóngeformte Kopf war auf die Bruft gefentt; auf der Stirn unter ber Pelzmütze lagen dichte Falten; die Lippen Hatte er fejt aufeinandergepreßt. Plöglich, mitten in ber Ginjamteit, blieb er ftehen. „Helene —" fagte er jah, unb dann jtoctte er wieder. Ganz tief, ganz alt hatte jeine Stimme gelungen. Ein Beben überlief fie, eine unbejtimmte Angit. Am liebjten wäre fie geflohen. Mit einem Male rif er die Faujte aus ben Tafchen, bie Tränen Stiegen thm in bie Augen. Erfaßte nad) ihren Händen. Und nun hatte feine Stimme wieder den rühren: den Ton der Jugend: „Liebe Helene, fann ih Dir helfen?“ Ste empfand alles, was in feinem Herzen vorging. Durchlebte es mit ihm in einem Augenblid: feine ehrliche Sungensliebe, fein Sehnen, ben reinen [djónen Wunſch, ſich ſelber für ſie zu opfern! Die Angſt glitt ab von ihr. Aber weinen hätte ſie mögen. Ans Herz hätte ſie ihn nehmen mögen, wie einen Bruder. Nein — mehr war er, als ihr je ein Bruder ge⸗ weſen war, je ſein würde! | Lügen fonnte fie nicht in btejem Augen: bli. Nicht lügen! ſchrie es in ihr. Nicht einmal leugnen! Aber fie fonnte aud) nicht anders, als den Kopf jchütteln. Ernft und fchwer und nun auch mit tränenden Augen. „Ich Hab’ Dich gejtern fingen hören,“ fprad) er weiter. Ganz langjam famen die Morte ibm von den Lippen. „Du jangjt fo wunderbar ſchön . . . das Beethovenjche Lied... das Harfnerlied. So wunderbar ſchön, aber es war, als brüdje Dir das Herz Darüber entzwei.” Sie neigte den Kopf. „Unfagbar wohl bat es mir bod) getan," fagte fie. (Ys waren ihre erjten Worte. Und wie fie fid) felber ſprechen hörte, fam ihr allmählid) das Bewußtſein ihrer Überlegenheit wieder. Der Überlegenheit, die ihr bei faft gleichen : Dahren ihr Gejdjledjt gab und ihr Gr leben. Gerade nun empfand fie das: wie jung der Harro da neben ihr war, und auch das andere: wie fie jelber in diejen lebten Mtonaten gereift war. Ihre Überlegenheit fam zurüd und ba: mit ihre Sicherheit. Wber der innige Wunſch blieb, dies junge Herz zu [d)onen, ihm gut zu tun, wie fie nur fonnte. Gie drückte ihm die Hände. „Ich danke Dir, lieber Harro. Sd) weiß, wie gut Du es meinjt. Ich will Dir immer eine treue Freundin bleiben." (fr zudte zufammen. id) Dir!” „Mir Menjchen können einander wohl nur felten helfen.” „Du fagit, Du wollteft meine Freundin jein. Dann mußt Du aud) Vertrauen zu mir haben, Helene!“ Da war jdjon wieder ber Troß in [einer Stimme, der rechte, Jugentroß. Und das tat ihr wohl. | Cie antwortete nicht gleich, fie begann auszufchreiten. „Es gibt Dinge, Harro, bie man auch dem beiten, liebiten Freunde nicht mitteilen darf. Stimmungen gibt es und Kämpfe, die man nur felber durd;: ringen und überwinden fann." Gr nidte, ra|d) hintereinander, ein paar Male, als ob er gleich empfinde. Dod) dann troßte er wieder auf. „Das ift nicht bte richtige Freundſchaft!“ „Bir wollen’ S der Beit überlafjen, Sarto. x Cite gingen ſchneller, unb er merfte wohl, daß fie ihm auswich. Debt ſchwieg auch er. Biß wieder bie Zähne aufeinander, jtopfte beide Hände, trobenb, zur Fault geballt, in die Mtanteltajden, liek ben Kopf tiefer Hängen, und unter der Pelz: fappe aog fic) wieder bas frauje Falten: gewirr über die Stirn. Einmal fam etwas wie ein bitterer 2adjton zwijchen den ge: ſchloſſenen Lippen hervor. ‚Nun ijt er bod) wieder ganz ber törichte Junge, dachte fte. ‚Gottlob! Töricht und dabei [o lieb, jo fieb!‘ Und da waren fie aud) [djon dicht an ber Tiergartenjtraße. Durch die Bäume Ichimmerte grau die einfame Snjel mit bem toten Biegeldad) darüber. ‚Ein gutes Wort mußt Du ibm nod) lagen . Die Hand jtrectte fie thm hin. „Schlag ein, Harro! Alſo auf gute Freundichaft!” Er fah auf. Gang dicht jtanben feine „Helfen möchte 189 pseeeeeceeRHP Hanns von Zobeltis: EBRSSSSSSOASANSR)aSSSSA Brauen aneinander. Er zögerte, rang mit fid. Die Fäuſte kämpften in den 3Dtantel- taſchen: Sollen wir oder ſollen wir nicht? Die Oberzähne nagten an der Lippe. Plötzlich ſtieß erheraus: „Ja — Du— !^ Dachte fura kehrt und rannte in ben Tier: garten zurüd. 88 8 8 Nun aber, nun war Alfred endlich in Berlin. Sie ſah ihn wieder, hörte ſeine Stimme, hielt ſeine Hand in der ihren, ſaß neben ihm in der lieben kleinen Konditorei auf bem alten Sofa und bat ihm im ge— heimen all ihr Sagen und Sorgen, all ihren Aleinmut ab. Nicht im geheimen nur. Gang offen, ganz ehrlich: „Ich war jo töricht, Fred . . . ich habe mid) jo ge ängftigt. So hoffnungslos war ich! Wd), Fred, Du darfit mid) nicht jo lange allein laffen. Ich ertrage das nicht. Die Sehn⸗ Sucht ijt jo groß.“ ,Sya, bie Sehnſucht! Glaubt Du denn, Helene, ich hätte nicht unter ber Sehnjucht gelitten?” Er legte ben Arm um fie, zog fie an fid). „Freilich, wir Männer fommen wohl leichter darüber hinweg, als Ihr Frauen. Schon burd) den Beruf. Was war das wieder für eine abjcheuliche, an- ftrengende Sache, diefes ganze Gajt|piel. Allein die Fahrt bei diefer Kälte. Mtan it in Deutjchland bod) nod) um ein Jahr: zehnt zurück oder länger. Gerad daß immer alle fünf Stationen eine Fußflajche mit heißem Waller ins Coupé gejd)oben wird, während es felbft in Rußland ſchon ordent- lid) geheizte Wagen gibt. Schauderhaft! Und der ungemiitlide Aufenthalt tm Frankfurter Hotel, und dieje jammervollen Theaterverhältniffe in der lobejamen Freien Reichsſtadt!“ „Warſt Du am großen Sjirjd)garten?" „Bo?“ | „Am großen Hirfchgarten ... wo ber junge Goethe gewohnt Dat." Er ladte. „Ach Du liebe, liebe Närrin. Was ift mir der junge Goethe! Hat der am Großen Hirfchgarten gewohnt? Id weiß nicht einmal, wo derliegt. Aber den Tannhäufer hab’ ich gelungen: das war wenigjtens ein Erfolg, der wohltun fonnte." Und er erzählte von der Aufführung — lang und breit — Cie wußte felbft nicht, marum es thr weh tat, daß er vom jungen Goethe nichts wußte, nichts wiljen wollte. Er fragte ja nicht einmal: wie ift es Dir denn ergangen in diefen langen, langen Tagen? Freilid), ein Mann hat eben feinen Beruf, und es war wohl in der Drdnung, daß er ganz in ihm aufging. Aber weh tat es bod). Nun, auch fie würde ja einmal ihrem Beruf leben — Und wonnig, bejeligend war es bod) fchon, ihn wieder zu haben. Seine Nähe zu fühlen, feine Hand zu halten. Was wollte fie denn mehr: er liebte fie — er liebte fie! Gr jab ihr in die Augen, tief, tief, er fuchte ihre Lippen — Was wollte fie mehr? Was wollte fie mehr! Nichts — nichts — nichts! Dann 30g er ihr Kleines Weihnachtsge: [dent heraus: „Das ijt mein treuer Be- gleiter gewejen,” jagte er. Nun hatte fie ihm längft die Runjt ab: gelernt, zwiſchen |piben Fingern eine Bi- garette zu drehen. Er lachte jedesmal, wenn fie ibm die hinhielt, daß er [ie an- feuchtete. „Nein, das mußt Du tun — ſchmeckt beifer fo!” Und fie lachte wieder, ließ die Zunge vorfichtig über den Papier: rand gehen. „Jetzt raudje aud) Du ein paar Züge!" Das fonnte fie nicht, bas lernte fie nicht. Verfuchte es, ihm zuliebe und erfticte faft. „Kleine Deutide — Du!“ [póttelte er. „Da waren meine ruffijden Freundinnen erfahrener.” Sie z0g ein Gefidjtd)en. „Aber Lene! Du bijt dod) nicht eiferſüchtig?“ — „Raſend eiferfüchtig fónnte id) fein.” — „Ach geh! Das ijt ja immer eine Dummheit.“ Gin paar Augenblide jah fie wortlos por fid) hin. Dann ſchlang fie jäh bie Arme um feinen Hals und füpte, füpte ibn. — Faft täglich fahen fie fid) nun. Aber meijt nur wie im Fluge, auf farge Minuten. Seine Seit war fnapp, er ftudierte ein paar neue Rollen, hatte mancherlei gelellige Verpflichtungen. Auch ging er nicht mehr fo gern wie ehedem in die fleine Konditorei; er behauptete, der ſüße Dunft in bem min: zigen Lofal wäre [hier unerträglich jest im Winter, wo nie gelüftet würde. „Warum fommft Du nicht endlich ein: mal zu mir? Ich babe Dich fo oft gebeten. Nachgerade — weikt Du, Helene — emp: finde ich es faft wie einen Mangel an Ver- trauen.“ ESSSSSSSSSSSSSssy Auf märtiiher Erde, ESSSSHHZEZe 183 Ein paar Male jagte er bas. Aber fie antwortete nie. Immer ftraffte fid) dann ihr Maden, und fie bog den Kopf zurüd mit dem ablehnenden, abwehrenden, eigen- jinnigen Ausdrud, ben er jchon fannte. Ginmal hatten fie fid) im Vorzimmer von Frau Harriers-Wippern verabredet. Er mußte ein wenig warten, die Unter: ridjtsjtunde jd)ten fid) auszudehnen. Als Helene herausfam, jah er, daß fie geweint hatte. „Nun?“ fragte er. „Was haft Du denn?” Erſt wollte fie nicht recht mit der Sprache heraus. Endlich geftand fie, dak Frau Harriers mit ihr nicht mehr jo zufrieden wäre wie früher, thr Ieije Vorwürfe ge- macht hätte: fie jet nicht aufmerfjam genug, übe wohl nicht mehr jo fleißig wie ehedem. „Ad — bah!” madteer. „Jeder Lehrer muß gelegentlich tadeln. Aber wenn jie ſchon recht hat: warum hat denn Dein Eifer nadjgelajjen?" Cie jah ihn an: mußte er fid) nicht jelber fagen, woran das lag? Daß fie nur an ihn, nur an ihn benfen fonnte. Eine Antwort wartete er nicht ab. „Übrigens, Helene, hab’ id) Dir längjt ge- Jagt, daß die gute Harriers nicht mehr bie rechte Lehrerin für Dich ijt.” Cr wurde eifriger. „Ich will Dir einen Vorſchlag machen: entſchließe Dich kurz und [d)nell unb fahre zur Viardot!” „Aber Du weißtdoch, dak das nicht geht.“ „Barum denn nicht? Um bes elenden Mtammons willen? Ich hab’ genug ver: dient in den lebten Jahren. Cin Wort von Dir, unb wir [iben morgen früh in ber Bahn — wir beide, ganz allein, Helene — “ Cie waren aus dem Haufe getreten, gingen langjam die Viktoriaſtraße hinunter, dem Tiergarten zu. „Sei nicht fo Hein, Helene! Du bijt bod) Künftlerin. Du willft eines Künftlers Frau werden. Wir haben bas 9tedjt, freier, größer zu benfen als andere Menſchen. Wirf endlich einmal Dein Pbilijtertum hinter Did). Helene, Beliebte — wir beide, allein —“ Wieder ftraffte fid) ihr Maden. Aber dann ließ fie den Kopf finfen. Gliihend heiß jtieg es in ihr empor. Sein leifes Staunen flang fo einjchmei: chelnd in ihr Ohr. „Wenn Du mid) wirt lid) Tieb haft, Helene, wirft Du ja fagen. Liebe muß Vertrauen haben, Liebe foll aud) Opfer bringen fonnen. Opfer? Ich will ja gar feine Opfer. Lak Sir jagert, Helene: wir fahren nicht gleich nad) Baden-Baden. Wir fahren erft nad) Helgoland. Mad dem freien Stüd englifden Bodens. In drei Tagen find wir Mann und Frau.” Ihre Hände frampften fid) in dem fleinen Duff zufammen. ‚Dann und Frau,‘ dachte fie. ‚Großer guter Gott, wäre denn das möglich?‘“ Unjagbares Glüdsempfinden warinihr und eine hergbeflemmende Anglt. ‚Lieber Gott, hab’ Erbarmen —‘ Da jab fie drüben, auf ber anderen Geite der Straße, Harro gehen. Er fam aus der Schule, hatte die ſchwarze Mappe mit feinen Büchern unter dem Arm, ging hart an ben Borgärten entlang und [pábte mit finfterer Miene zu ihnen beriiber. Sie [ab es deutlich: feinen trobigen Mund und bas Faltengewirr auf der Stirn. Mit einem Dale rief fie laut: „Harro! Harro!” Es war ber Entfchluß eines Augenblids. Ein Hilfefchrei vor fid) felber vielleicht. Stehen blieb fie, als ob plötzlich Bleilaften an ihren Füßen hingen. Und faum hatte jie gerufen, jo brad) es wie ein Dergaer- reiBenber Jammer über fie herein: ‚Du haft ja Alfred tödlich beleidigt. Das wird er Dir nie verzeihen.‘ Der Better fam mit haftigen Schritten quer über die Straße. Uber nun jah fie nicht mehr Hin, nun jah fie nur Alfred. Gah erjt das Schürzen feiner Lippen, bann das Auffunfeln in feinen Augen. 9tieberfnien hätte [ie mögen vor ihm: ‚Vergib mir, vergib! Bis ans Ende der Welt gehe id) mit Dir... allein mit Dir...‘ Plötzlich dachte fie: , Vest [d)Idgt er Dich, Ichlägt Dich nieder. Und aud) das wäre Geligfeit...‘ Und dann jab fie plóblid), wie er fein Geficht zwang. Gang ruhig, ein wenig \pöttifch jagte er: „Das tjt ja wohl Ihr Herr Vetter, gnädiges Fräulein? Guten Tag, Herr von Oſchitz.“ Weiter gingen fie, nun zu dritt. Nein, jie ging nicht, fie ſchleppte jid) vorwärts. Ketten hingen ihr an ben Gliedern, Ketten umjchnürten ihre Geele. Kaum zu atmen vermochte fie. Harro ſprach fein Wort. Er hatte flüch— 184 EESSGOSCSEA Hanns von Zobeltig: BPESSSSSesesesessessd tig feine Belgtappe berührt, dann wieder beide Hände in die Manteltafchen geftectt, ganz tief und zu Fäuſten geballt. Rechts id)ritt er neben Helene her, den Kopf im Naden. Aber Alfred ſprach. Völlig beherricht, angeregt jogar, heiter, etwas überlegen. Vom Winterwetter und ber Eisbahn; von feiner Schulbanfgeit und wie erleichtert er aufgeatmet hätte, als er den Ranzen hinter ftd) geworfen. Bis zur einjamen Infel ging er mit. „Hat mid) fehr gefreut, Herr von Ojdis. Bitte, legen Sie mid) der Frau Mama zu Füßen.” — „Addio, gnddiges Fraulein...“ Und dann nod, ganz flüchtig jcheinbar, nur ihr verftändlich: „Ja fo... wir wurden vorher unterbrochen. Vielleicht überlegen Cie fid) bod) meinen Vorfdjlag...mitder 8 Viardot... au revoir...“ Die eijerne Gartentür flog lautjdjallenb ins Schloß, von Harro gejchleudert. Nun nod) ber feine Weg durch den Bor: garten. Da tat Harro endlich) den Mund auf, fragte : „Warum haft Du mid) gerufen?“ Sie hatte die Frage erwartet und erjd)rat bod) vor thr. Hatte fid) bie Antwort zu: rechtgelegt und brachte fie bod) nur müh- jam heraus: „Ich...fah Dich dort... drüben...“ „So! So! Es war al[o nur eine Be: grüßung, quer über die Straße. Es Hang aud) ganz jo...fo wie eine Begrüßung.“ Die Tränen fdoffen ihr in bie Augen. Sie war jo matt, jo zerjchlagen, fo wider: " ftanbslos. „DQuäle mid) nicht, Harro!” bat fte eije. Er war ftehen geblieben, jab zu Boden, jab) dann wieder fiean. Der C tof wid) aus feinem Geſicht, aber bie Bitterfeit blieb in feiner Stimme: „Nein, ich will Dich nicht quälen, Helene. Ich hab’ Dich zu lieb ba: gu. Ich fel’ ja aud), Dich... Dich quält anderes genug.“ „&s wird [don wieder befjer werden. Es ift nur, weißt Du, Du haft bod) ge wig aud) oft VBerdruß in den Stunden.” Cie war eine fold) ſchlechte Liignerin, \chämte jid) fo, daß fie gerade vor Harro lügen mußte. Das Blut jd)ob ihr ins Ge: licht. Schnell ging fie weiter. Die Haustür glitt ins Schloß, ganz fanft brüdte Harro fie zu. Schweigend [d)ritten fie nebenein: ander die breiten Eichenjtufenhinan. Erſt vor ihrer Tür, oben im halbdunflen Korri- dor, blieb fie nod) einmal ftehen. Tief Ichöpfte er Atem, es war, als ringe er mit ftd). Dann [prad) er dringend, heiß: „Du haft neulich nichts von mir willen wollen, Helene. Wher ich muß es Dir doch nod) einmalfagen, wie gern ich Dirhelfen möchte. Wenn... wenn er nur Deiner wertift..." Ganz leife hatte er bas Iebte geflüftert, mit jeiner verhaltenen dunklen Jungen: ſtimme. Berfchämt fajt und bod) fo innig. Sie hörte es mit gejchloffenen Augen, gegen die Wand gelehnt. Als fie die Augen öffnete, war Harro fort. Und fie ging in ihr Zimmer und weinte fid) aus. 8 a Am Nachmittag tam Bruder Wilhelm. Helene wurde heruntergerufen, ließ aber um Entfehuldigung bitten: fie hätte ſchreck⸗ liche Ropfidhmerzen. Die Wahrheit war's unb bod) eine Ausrede. Nur niemand Jeben, niemand hören wollte fie. Da fam aber Wilhelm jelbjt heraufge- poltert, jab in das dunfle Zimmer, holte vom Korridor dieLampe: „Aber Lene, was madjit Du? Tante Marianne flagt aud, Du ſähſt miferabel aus. Wo febIt's denn ?” Die Augen taten ihr weh in dem plöß: lich fo grellen Licht. Sie hielt bte Hand vor, auch deshalb: wozu brauchte er bie Tränenfpuren zu jeben! Ein Lächeln zwang fie heraus, indem fie ibm bie Hand gab: „Kopfweh, Wilhelm, weiter nichts. Ptor- gen ijt alles wieder gut." Der große Optimijt war leicht beruhigt, (dob die Lampe beifeite, fette fid: „Na ja, fo leicht [imb wir Hadentiner nicht unter: gufriegen. Ja... und id) möcht Dir bod) nod) Proft Neujahr jagen. Cine ganze Hude GrüBe unb Wünfche bring’ id) Dir aus unjerm lieben alten Rohlbed mit.” „Ad... Rohlbed...ja... unjer altes liebes StobIbed . .." Wie fie das fagte, hatte jie eine ganz unbejtimmte Gmpfindung: dies StobIbed mußte weit, weit abliegen, unermeßlich weit. Wilhelm madjte fich’s behaglich und be: gann zu erzählen. Natürlich auer|t von Martha und feinen Sdlingels; mit bem üblichen Heinen Seufzer: ja, wer es fo gut hätte und immer bet ihnen fein fonnte. 2488» 6S » «xi» 9 ex» O GER» 0 OS 6 AS 6 «dE 0 «369 0 GES 0 DS 0 BH ODS 00 SS 1 SEG O0 c! 9 OE 0 adi» B «XD» € cB» 0 39 De OP O eR o 6 «DEP 0 «d e Buntſpechte. Gemälde von Hans Schmidt. SS O9 eK» 0 SP 16 AS 0 SS 0 ec po OE OP TE SD OD 0 «80» 0 «20» 0 80» 0 490» 0 «99» 0 490» 0 400» 0 480» 0 «420» 0480» 6 4> I 0S 0 SP 09 AP ED 0 SD 0 «20» OP 0 ED ED 0 ED 0 «90» SD 0 «QU 0 «899 — — Von Vater und Mutter dann und von ganz Rohlbeck, mit dem alten Heckſtein an der Spitze, der am erſten Feiertag prächtig ge- predigt, aber am zweiten dafür wieder mal einen uralten Bock geſchlachtet hatte — „na, freilich hatten wir am Abend bis Glock eins Whiſt gedroſchen.“ Vom Weihnachts⸗ feſt erzählte Wilhelm: wie ſie alle in der großen Stube um den Chriſtbaum geſtan⸗ den hätten. Vater hätte gemeint: „Sehr ſchön, ſehr ſchön, das heißt, ſchöner wär's, wenn die Lene hier wäre,“ und Mutter hatte etwas wie Tränen in der Stimme. Mutter wurde recht alt. Anfangs hörte Helene nur mit halbem Ohr zu. Aber allmählich, mehr und mehr, gewannen die lieben Geſtalten, von denen Wilhelm ſprach, bod) Leben vor ihrer Seele. Gerad weil die |onjt |o matt und flügellahm war. Shr war’s, als wehte der Duft der großen Kiefer, die Vater in jedem Jahre mit dem Großknecht jelber im Walde aus: fuchen ging. Etwas wie leijes, leijes Heim: weh überfam fie; jet, plöglich, nachdem jie [o lange faft gar nicht an die Heimat gedacht Hatte. Ganz anders flang es, wie vorhin, als jie es nun nod) einmalfagte: „Ia...ja.. unjer liebes altes Rohlbed...“ Sie ſchwiegen ein Weilden. „Na, übri- gens, Vater wird wohl jedenfalls zum 3. Februar Berfommen." » Sater — herfommen ?" „Ihr lebt aber Bier, fcheint’s, wirklich auf der berühmten einjamen Injel. Leit Ihr denn feine Zeitungen? Zum großen Beteranenfeft! Kinder, feid Ihr komiſch. Zur Enthüllung bes Denfmals des Hod: (eligen Königs follen bod) all bie alten Krieger von 1813, aus den Freiheitskriegen nad Berlin fommen. Haft Du denn nicht einmal vom König gelejen, wie er das Programm abgeändert hat? Da hatten bte Hofſſchranzen fein ſäuberlich gefchrieben: ‚Alle Krüppel werden dem Veteranenzuge in Wagen aus bem Königlichen Marjtall folgen.‘ Dick ftreicht’s unjer Allergnädig- iter Herr aus und |chreibt eigenhändig ba- für hin: ‚Diejenigen, welche infolge ihrer bei der Landesverteidigung erhaltenen ehrenvollen Wunden gelähmt find... ujw.‘ Ja alfo, id) denk', Vater wird beftimmt fommen.“ Helene ſchwieg. In ihr arbeitete es: IISZZA Auf märliiher Erde. BSSSSssssse4d 185 Vater wird fommen, und Baters Jäger: augen find ſcharf. Es lag gewiß in ihrem Belicht, was fie erlebt. Und wenn er dann fragte! War’s doch überhaupt wie ein Wunder, dak bisher alle blind gewejen waren, bis auf ein Paar heller Jungen: augen! Wenn Vater fam und fie anjab und fragte — — — s Gerab rebjelig bijt Du nicht, Sene." „Wilhelm, mein armer Kopf. — Wann bijt Du denn zurüdgelommen?“ Gie fragte es eigentlich nur, um etwas zu jagen. „Geſtern nachmittag. Ich wär’ ſchon geitern zu Dir gefommen, aber meine eng: liſchen Freunde hatten mich auf acht Uhr zu Cweft eingeladen. Da traf ich übrigens aud) den Ruſſen, wie Du ihn immer nann: tejt, Herrn Schwarz. In einer höchſt fidelen Gejellichaft.“ Ganz weit lehnte fie fid) guriid und bedte bte Hand nod) fejter über bie Augen. „Theatervölkchen, weißt Du. Wirhaben ein paar Flaſchen Cliquot gujammenge- trunfen. Mteinen Engländern machte bas einen Sjeiben|paB. Der eine, Mtijter For: iter, hätte am liebften angebünbelt. (Ys war da eine bilbjd)one Perjon darunter, . aus Frankfurt, die gefiel dem edlen Briten über alle Maßen — doch bie war in fejten Händen. Aber was red’ id) da... das ijt ja nichts für Mädchenohren.“ Er [d)ümte fich ein wenig und lachte ver: legen. Gah nicht, wie die Schweiter ganz hintenüberjanf, wie fie fid) wieder aufrich- tete, ftarr unb fteif. Hörte nicht, wie ihr Atem jd)neller ging und immer fchneller. Er jah und hörtenichts. Er [prad) fdjon wieder von Rohlbed. Es ginge fo bod) nicht mehr lange mit dem ewigen Hin- und Sjerfutjd)teren. Wenn endlich bie Kon: zejlion für die Eifenbahn von Frankfurt nad) Pofen herauswäre — und er hätte fie ficher in der Tafche und das gäbe einen ordentlichen Bagen Geld —, bann müßten fie ganz nad) Berlin ziehen. Schon ber Jungens wegen, damit bie in eine orbent- liche Schule famen. „Ita, Lene, und nun Gott befohlen. Goll id) bie Lampe mit herausnehmen? Ja, joldeverdeubeltenRopfjdmergen. Donner: wetter, was haft Du fiir etsfalte Hände. Goll id) Dir ’n Doktor jdjiden? Gute Beljerung, Sene —“ Nun war er enblid) gegangen. 186 BESSFIFSFIFIFIZFE Hanns von 3obelti: RBBBRSSSSSSSSSSS Helene hatte ihr Tafchentuch herausge- zerrt und big auf bas Seinen. Sonſt hätte jie auffchreien müjjen. Aufjchreien, dak es burd) bas ganze Haus gellte. Ihm nachſchreien: Das ijt gelogen! Weißt Du denn nicht, bap Alfred mich liebt. Mich — nur mid! Gelogen! Gelogen! Gelogen! Immer wieder [prad) fie es tn Gedanfen vor fid) bin. Es tat ihr förperlich weh. Es war, als ob das Wort gleich einer ſpitzen Nadel ihr ins Behirn ftoße. Aber jie wieder: holte, wiederholte: Gelogen — gelogen — gelogen — Cine Stunde wohl jaB fie jo, ohne fid) zu rühren. Ohne einen einzigen anderen Gedanfen fajjen zu fónnen. Nur, daß ihr wohl ein Wort durch den Sinn ſchoß, bas er neulich gejprochen hatte, Iachend: ‚Du bift bod) nicht eiferfüchtig?‘ Wher es war nur wie eine unflare Erinnerung. Eifer: füchtig?! Wie follte fie eiferfüchtig fein? (s war bod) alles gelogen — gelogen — gelogen — Einmal jtedte Tante Oſchitz den Kopf durch die Türfpalte. „Ich muß zu Madame Sandern. Willit Du bas Ubendbrot auf Dein Zimmer ?" D Gott, dak aud) bteje fanfte Stimme Ichmerzen fonnte. „Recht gute Befferung, Kind. Ich ftelle Dir unten das Ufonit hin. Zehn Tropfen, bórjt Du?” | „a, liebe Tante.” Zangjam |djloB fid) die Tür wieder. Tante Marianne hatte |o gerdujdyloje Sohlen. Aber heut hörte Helene jeden, jeden ihrer Schritte auf der ‘Treppe, bis zur lebten Stufe, und jeder biejer janften, ſchleichenden Tritte ſchmerzte. Wieder ſaß ſie im tiefen Dunkel. Saß regungslos. Und dachte immer wieder: „Gelogen — gelogen — gelogen —‘ Und dachte nun doch zurück an den Deu- tigen Bormittag. Gerad weil fie ja wußte, was der Bruder da leichthin geredet hatte, war gelogen. Gelbjtverjtändlich gelogen. Alfred, der ihr heute — heute — ins Ohr geflüftert batte: ,SDtann und Frau‘... ‚wir allein, ganz allein‘: Alfred jollte geftern abend... Laden müßte man — wenn man es fonnte — ber fie felber: fie jelber war auchſchlecht gewefen. Denn [djledjt wares, daß fie fein volles Vertrauen zu ihm fafjen fonnte. Wie fam das überhaupt? Wenn man jemand [tebt, muß man volles Vertrauen haben. Unbedingtes, grenzenlofes Vertrauen. Muß Opfer bringen fónnen. Ja... hätte fie denn nicht für ihn fterben mögen... fterben mit taujenb Freuden... Gie aber... fie hatte nach Harro gerufen. Wie um Hilfe. Mad bem dummen Jun: gen, ber [eines Weges fam, jchlendernd, mit ber Mtappe unter dem Arm. Die Fäufte in den Dianteltajchen. In ben Augen bie: jes argwöhnijche Überwachen. Was fiel dem Jungen ein! Plötzlich [prang fie jah auf. Cie taftete im Dunfeln nad) ihrem Schrank, rif ihren Mantel heraus und den Pelghut. Alles im Dunfeln, ohne zu wählen; warf ben Mantelum. Mithaftenden, unficheren Hän- den. Der Hut wollte und wollte nicht [igen. Ihr Haar hatte fid) wohl gelodert. Sie griff hinein, preßte es gewaltjam unter bic Hutform, ſchürzte bie Bänder unter das Kinn. Aber als fie bie Tiirflinfe in der Hand hatte, wandte fie fid) noch einmal. Nun brauchte fie dod) Nicht. Strich das Schwefel: holz an, entzündete bie Kerze, Eniete vor der Rommode nieder. Dalag, ganz unten perjtedt, die Brojche mit den Topafen. Die mußte [ie bod) aniteden — heute. Die Topafen jdjimmerten und glängten, wie fie fo bei dem matten Schein der Kerze die Brojche vor jid) Hin hielt. Ein leifes Lächeln huſchte über ihr Gejidjt. Darüber wird er fid) gewiß freuen, bap Du bie an: geltedt haft. Heute — Nun war [ie fertig, war ruhig. Wirk: lid), glaubte fie, ich bin nun ganz ruhig. Es war ja nur der Entſchluß, der jo ſchwer war. Cie löſchte bie Kerze. Site hufchte bie Treppe hinunter und über ben Flur. Leije, vorlichtig öffnete fie bte Haustür. An Har: tos jdjarfe Ohren badjte fie babet. Leife, porjidjtig brüdte fie bie Tür wieder zu. (Ys war bod) etn Glüdsfall, daß Tante Oſchitz gerad heut abend aus war. Bei der alten Madame Sandern. Da faßen fie jest und [tridten Miſſionsſtrümpfe. Stomijd) eigentlich: um die Neger da hinten, da unten in Afrika jorgte fid) Tante Oſchitz. Draußen war es fdneidend falt. Aber ESSSSSSSSs3>s zz Auf markijdher Erde. bie Kälte tat Helene wohl. Sie atmete tief auf. Der Kopfichmerz war wie fortgezau- bert. Durch die Kälte vielleicht, Durch ben Entſchluß vielleicht. Durch einen großen Entihluß! Der das Herz fo leicht macht unb jo froh. Schnellen Schritts ging fie bie Tiergar: tenallee entlang, dann burd) bie Linne- ſtraße. Es war jehr leer auf den Straßen bei der ftarfen Kälte. Im Rauhreif ftan- den links die Bäume des Tiergartens, wink ten rechts bie bes Radziwillparfs über bie alte Stadtmauer. Sogar auf bem Parifer- pla war es jtill. Der Poften an der Bran- denburger Torwache lief in [djmerem Man⸗ tel hinter bem Gitter herum, um jid) warm zu halten. ‚Das ijt ber Weg, den wir am erjten Tage in Berlin gegangen find,‘ dachte Helene. ‚Und nun gehe id) zu ihm — zuihm!‘ Das furge Stiid unter den Linden, die Milhelmjtraße. Ja, au ibm! Was er wohl für Augen machen wird? „Du, Helene?!“ Uns Herz wird er mid) nehmen, und id) will ihm abbitten, alle meine Zweifel, alle meine häßlichen fleinen, Tleinlichen Ge: danfen.‘ Jetzt fam bie lange Behrenitraße. Ganz am Ende wohnte er, fajt gegenüber dem Dpernhaufe. Oft genug war fie ja vorüber: gegangen, hatte zu feinen Fenſtern empor: gefehen mit ſehnſüchtigem Herzen. Plötzlich fam ihr der Gedanke: ‚Wenn er nun nicht zu Haufe ijt?’ Aber das war ja unmöglich. Er mußte zu Haufe fein, heute: das wollte das Schidjal. Sie war fehr ſchnell gegangen, aulebt faft gelaufen. Nun, plóblidj, nachdem fie auf ber an- deren Straßenjeite die erleuchteten Fenſter des Eweſtſchen Reftaurants gejehen, ſtockte ihr der Atem. Dort alſo hatte er geſeſſen, in luſtiger Geſellſchaft, geſtern abend — in ſolcher Geſellſchaft! Was hatte Wilhelm erzählt? Dod) bas war ja gelogen — ge- logen — gelogen — Sie wiederholte es fid) immer wieder, immer eindringlicher. Aber das würgende Gefühl in der Bruft wurde fie nicht Ios, die atembeflemmende Enge. Mühjam nur fam fie vorwärts; jebt fühlte fie die [d)net- dende Kälte, ben [d)arfen Wind, ber bie Straße entlang jagte, ihr gerade ins Ge: jicht. Sie [d)auerte zufammen. An der Riidfront des Palais mußtefteeinen Augen: BSSsesssserssdi 187 blid ftehen bleiben. Und nun [djoB ihr plößlich ber Gebanfe burd) den Sinn: ‚Hier wohnt der alte König, und Vater fommt als fein Gajt. Bater!‘ ‚Bater —‘ ‚Bas Vater wohl dazu [agen würde, wenner Dich hierfände, aufdiefem Wege?!‘ Co oft hatte er ihr den Naden gejteift, hatte fie ben Kopf zurüctwerfen Iajfen, ber Hadentinjche Stolz. Halbunbewußt beides: gamilienjtol3 und Mädchenftolz. Heut hatte lie das beides weit Hinter jid) geworfen. Aber nun war’s bod), als hörte fie Vaters Stimme: ‚Mädel, wo haft Du Deinen Stolz?‘ Cie big die Zähne aufeinander, ftand nod) einen Moment mit gefchloflenen Augen. ‚Mein Stolz? Ja, mein Stolz! Was ijt mein Stolz gegen meine Liebe!’ Und weiter ging fie, an den fümmerlichen Bü- [den des Opernplages entlang, jest ſchon jeine Fenſter judjenb. Die Fenſter waren bunfel: nicht daheim. Wieder ftand fie ein paar Minuten, nad) dem Fenſter dort drüben hinüberfpähend, als ob im nádjiten Augenblid hinter ben Rouleaux eintichticheinaufflammen müßte. Dann wollte fie über die Straße. Gie mußte ja bod) über die Straße. In dies Haus drüber, die n^i Treppen hinauf, Cie mußte ja bod).. Aber es war wie eine Lahmung in ihr. Die Füße wollten fie nicht Dinübertragen. Der Mädchenſtolz, ber Hadentinjche Stolz waren mit einem Male wieder da: Helene Hadentin geht in |päter Abendftunde zu ihrem Geliebten! Als ob ihr das jemand ins Ohr raunte. Wie bdBlid) bas war, wie gemein das Hang! Ginmal [ab fiefich wirr um. War esbenn überhaupt ſchon |o |pät? — Cie hatte feine Uhr befragt. Die Straße, ber Plab war menjchenleer ; doch bie Häufer waren nod) nicht gejchlofjen; bas Opernhaus war nod) erleuchtet. Aber das tat ja alles gar nichts, bedeutete gar nichts. Und wenn es zur Mitternachtsitunde gewejen wäre! Ganz menfchenleer war die Straße. Plötlich hörte fie Stimmen. Und fie jab drüben, dicht an ben Häufern entlang, ein Baar gehen. Einen Mtann und eine rau, Arm in Arm — er war 188 B2395e-9:9 Hanns von 3obeltig: ESSSSSSSFIZZIZZZI ...Alfted... Starr aufgeridtet [tanb fie, ftarr, wie verfteint. Ihre Augen fpähten durch bie Dunfelheit. Nun traten die beiden in den fümmerlichen 2idjtfreis der nächſten La- terne. Nun Hangen nod) einmal ihre Stim: men beriiber, ein Scherzwort, ein furges Aufladen. Jetzt waren fie drüben am Haufe, ftiegen die paar Stufen zur Tür hinauf. Die Tür fnarrte, ging auf, ſchloß ſich wieder hinter den beiden. Starr aufgerichtet ſtand Helene, ſtarr, wie verſteint. Den Kopf weit vorgeſtreckt, die Augen auf die Tür gerichtet, hinter der die beiden verſchwunden waren. Mit einem Male flammte es hinter den Rouleaux auf. In einem ddmmrigenSdein, wie wenn jemand ein Schwefelholz ent: zündet. Ein leuchtender Punkt zuerſt, dann das ganze Fenſter füllend, dak ein breiter Lichtſtreif burd) bie blaue Stoffgardine auf die Straße fiel. Und Hinter dem blauen Vorhang filhouettenbaft, [charf umriſſen, zwei Gejtalten — Nod immer ftand Helene ftarr aufge- richtet, wie zu Stein eritarrt, mit weit vor: gejtredtem Kopf, bie Hände gegen bie feu- . @ende Bruft geprept. Das Unfaßbare bohrte fid) mit taujenb fpigen Nadeln ins Gehirn, es [d)nürte ihr den Atem ein: bas Unfaßbare, bas Unbegreiflide, bas Fürd)- terliche ... bie Erkenntnis! Dann fam endlid) ein einzelner Ton bes Sammers ausihrer Bruft, eineinziger Weh: laut. Die Starrheit wid). (ie jchlug bie Hände vor bas Gejid)t. Und dann rannte fie quer durch die fümmerlichen Büfche bes öden Plages, als ob fie bem (ntjeben ent: fliehen wollte, bas bod) in thr war und mit ihr ging und das [ie nie, nie verlaſſen konnte. Cie jagte über den Plab, als ob fie ge: Debt würde, als ob ber Schimpf und bie Schande hinter ihr brein wären. Mit einem Male aber waren ihre Kräfte zu Ende. Auf die ungeheure feelijde An: ſpamung folgte jäh der Rückſchlag. Sie tau: melte, raffte fid) nod) einmal auf. Stand, fal fid) wirr um, tat nod) ein paar müh- fame Schritte vorwärts — Da fühlte fie eine janfte, ſtarke Hand an ihrem Arm. Sórte eine Stimme: ,, Liebe Sjelene...id) bin's... Harro...fomm... erlaube, daß id) Dich jtiige... liebe He: lene..." Klar bewußt wurde ihr all bas nidjt. Aber in ihrer ohnmddtigen Hilflofigkeit empfand fie die hilfreiche Hand, empfand fie den zärtlichen, mitleibspollen Ton der Stimme. Sie lehnte fid) auf ben Arm, Tieß fid) halten unb ftiigen. Wie von fern Der hörte fie wieder: „Nicht burd) die vielen Menſchen, Helene, nicht wahr? Die Oper ijt eben aus... drüben befommen wir ge: wif einen Wagen...“ Gr führte fie, langſam, ſorglich, wie man eine Rranfe führt. Hob [ie indie Droſchke, fette lid) ftill neben fie, fragte nicht, hielt nur ihre Hand mit einem weichen, gleid): mäßigen Drud. Ganz aujammengejunfen [ag fie in ihrer Ede. Manchmal ging ein Schauer über fie bin, jie fchluchzte weh auf. Manchmal faßte ihre freie Hand nad) dem Hals, als judje fie etwas, das ihr den Atem zu: ſchnürte. Die Droſchke trottete und trottete über das Pflaſter. Es tat fo weh, fo weh... Einmal fuhr Helene auf, rief wie er: wachend, faſt fetndjelig: „Wohin bringit Du mid) ?^ Da war wieder bie junge, zärtliche, mit letdsvolle Stimme: „Ängitige Dich nicht, Helene...nacd) Haufe...” Gang jeltjam Hang die Stimme, fo ruhig, fo zuverjicht: lidj. War das wirklich Harros Stimme, Harros Hand... und tat fo wohl... Wieder fauerte fte jid) gujammen, tief in die Ede. Schredte von neuem auf: „Bo fommjt Du denn her?” „So laß bod), Helene. Ich fam ganz zufällig über ben Opernplab.” Ob er wohl log? Gewif log er. Das fühlte fie. Aber weiter fonnte fie nicht benfen. Nur dak er gut zu ihr war, bas wußte fie. Weiter und weiter rajjelte ber Wagen, immer im gleichmäßigen, Iangjamen Trot: teltrab. Jeden Hufjchlag empfand fie. Es Hang fat wie: Wie foll bas nun werden? Mie...foll...das...nun... werden? Endlich hielt der Wagen. . „Mama tjt nicht zu Haufe. Johann aud) nicht, nur £uije," hörte fie wieder. „Komm, gib mir Deine Hand...” Das war aljo doch Harro. Wie ver: ftändig ber Harro war! Der Junge! Und nun lag fie auf dem Sofa oben in ihrem Zimmer. Die Lampe brannte, aber as BESHEICHESEHESESEHE Auf märkiſcher Erde. Harro hatte ben Schirm vorgezogen, bas Licht blendete nicht. Es war ſchön warm! Draußen war es bod) eilig falt gewefen. Und die alte Luiſe war da, brachte heißen Tee, 30g ihr die Stiefel aus, rieb ihr die Füße. Und als fie gegangen, fam Harro nod) einmal herein, jebte fid) zu ihr, ftrei- djelte ihr bie Hand. Was war denn das? Der große Junge hatte ja bide Tränen an den Wimpern! Cie jah ibn an, richtete fid) mübjam hoch, jah thn wieder an, mit erwachenden Augen — janf zurüd und ſchluchzte — ſchluchzte bitterlich — (fine endlofe, endlofe Nadıt. Lante Marianne war gefommen, aufs Deftigite erjchroden. „Wir hatten nod) einen Spaziergang gemacht, Helene und ich,” hatte Harro erflärt. „Da ift fie plop: lid) ohnmddtig geworden. Sie war ja fon in den lebten Tagen nicht wohl. Erinnere Did) nur, Mama.” Der Arzt wurde gerufen, Tante brachte Helene zu Bett. Willenlos ließ fie alles mit itd) geichehen, ſprach nicht, lag mit ge- Ichloffenen Augen. Der Medizinalrat machte ein bedenfliches Geſicht. „Scheint ein jtarfer Nervenchok“ — verfchrieb ein Rezept, wollte am nächiten Morgen wiederlommen. Nicht von Helenens Bett wich die Tante. Ein paar Male fam Harro auf den Fup: iptben, öffnete eine Türjpalte, [chlich wie: der zurüd. Die Medizin wurde gebracht. „Du mußt einnehmen, liebes Kind!“ (e: horfam richtete Helene fid) auf. „Du bijt jo gut zu mir, liebe Tante —“ janf wie: der gurüd, lag mit gejchlojfenen Augen, endlofe, endlofe Stunden. Mtandmal dadte Tante Marianne: ‚Es [djeint doch, fie ſchläft.“ Aber bann [ab jie wieder, wie die Hände auf der Vettdecke leife hin und her gingen, immer als judjten [te nad) etwas Verlorenem. Wie bet einer Frebernden, und doch war der Puls ganz regelmäßig und die Stirn eher fühl als heiß. Wis der Morgen dämmerte, wurden bie Hände ruhiger. Manchmal bewegte He: lene die Lippen, als wollte fie etwas jagen, oder als jpräche fie mit fid) jelber. Tante Marianne jab alles, ja) aud, wie fid) gwijden ben Brauen ein paar Fältchen eingruben. ‚Wie bei Harro‘, dadhte fie; ‚es muß bod) etwas wie eine Familienähnlich— [333336233€343:34 189 feit fein.‘ Es [chien nun wirklich, als ſchliefe Helene fejt. Auch ihre Lippen waren jebt ruhig, feltjam aujammengeprept nur, ganz ſchmal und blutlos. Durch bie tiefen Genfternijden brach bas Tageslicht. Einerjterfchmaler Sonnen: jtrabl legte fid) quer über bie Bettdede. Tante Marianne wollte aufjtehen, den Vor- bang zuziehen, da ſchlug Helene bie Augen auf. Ste hafchte nad) der Hand der Tante und jagte matt, aberganzllar: „Daß id) Dir jo viel Mühe mache, Tante.” Tante Marianne war glüdlich. In auf: wallender Sjerglichfeit beugte fie fid) über die Nichte, füpte fie: „Du liebes böfes Kind! Was für Gefhichten machſt Du nur!” In Helenens Augen lag immer nod etwas Starres. „Ja... was für Befchich- ten..." Jagte jielangjam. Und banngleid): „Aber dngftigen braudt Ihr Euch nicht. Jetzt bin id) ganz wohl. Und Du hajt bie ganze Nacht hier gewadht... id) [d)ümemid), Tante.“ „Aber, Helene!“ Helene fah wieder auf, unficher und 3a- gend. Griff von neuem nad) der Hand der Tante, [agte langjam, als ob ihr jedes - Wort fchwer fiele: „Liebe Tante...ich . babe eine jehr große Bitte... ich möchte jo fchnell als möglich nad) Haufe... nad $tobIbed . . ." Dabei blieb fie. Immer wiederholte fie es. Der Tante, dem Arzt, auch Wilhelm, der gerufen worden war. Er wollte bie Schweiter am nächlten Tage wenigjtens bis Frankfurt bringen. Am Abend aber fam er, um jid) als unab: kömmlich zu entjdjulbigen. Nun follte Harro ein|pringen: „Zu unferer Beruhi⸗ gung, Rind! MWenigitens, daß wir wijjen, Du bijt gut in der Poft untergefommen." In ganz früher Morgenftunde mußte fie aus dem Haufe, denn ber Zug ging [d)on um acht Uhr, unb man gebrauchte bis zum Niederſchleſiſch-Märkiſchen Bahnhof fait eine Stunde. So elend und iibernddtig jab fie aus, als fie herunterfam, bap die Tante erjchraf. Uber Helene ſchien ganz ruhig. Sie jagte jedem einzelnen Dienjtboten Lebewobl; bann umarmte [ie die Tante, dankte ihr nod) einmal. „Liebes Rind, Dulommitjabaldwieder. Nimm’s nicht jo feierlich.” 190 BSSSSSeseesesaad 6. Frerids: flag. Baoooeccooooooocog „Wenn id) wirklich wieberfomme — “ „Aber, Selene!“ Gite ftand einen Moment mit hHängendem Kopf, wie tief in Gedanken ver[unfen, griff bann nad) der Hand der Tante, 30g fie an bie Lippen. Es war wie eine Wbbitte. Und jie fagte aud) wirklich nad) einer fleinen Pauſe: ,?Bergeib mir, Tante Mtarianne. Ich hätte wohl manchmal anders fein fón- nen. Behalt mid) ein wenig lieb...” Sdweigsam jaBen die beiden Reijenden nebeneinander. Bisweilen [ab Harro vet: ftohlen auf Helene, bisweilen wollte er ir: gendeine fleine Unterhaltung anfangen. Immer wieder verftummte er wieder. Aber er umgab fie mit [chonenditer Sorglichkeit. Einmal, kurz vor Frankfurt, [prad) Sje- lene wie aus einer langen Gedankenkette heraus: „Ich muß Dich nod) um etwas bitten — “ „Bewiß, Helene! Gag’s nur!“ „Bitte, gehe zu Frau Harriers-Wippern unb entjdjulbige mich. Gag’, daß ich plöß: lid) hätte abreijen müffen. Ich würde ihr von Rohlbed aus fchreiben.” „Sch gebe gleich) morgen.” Und bann jagte er fajt basjelbe wie feine Mutter: „Helene, Du fommjt bod) bald wieder!“ Da [ab fie ihn an, eigentlich zum erften Vale heute, und fie ſchüttelte ben Kopf. „Helene — “ (fs war, als ſuchte er nad) Worten. Über bas junge Belicht ſtrömte wieder das Rot. Er mußte erjt feine Scheu überwinden. „Helene, Du haft bod) Deine Kunft!“ fam es wie plóblid) heraus. Es flang faft wie vorwurfsvoll unb tröftend zugleich. Cie hatte bie Hände im Schoß gejchlof- jen. Ste drüdten fid) nod) fejter ineinander. Ihr 3Blid wid) wieder feinem Auge aus. Und dann jagte fie, aud) wie in einer in: neren Scheu, ganz leije: „Harro... mir iſt's, als fet aud) fie gerboriten...“ Grit als fie [don am Wagen ftand, in dem ſchmalen Frankfurter Bofthof, unmit: telbar vor bem Einfteigen, [prad) fie nod) einmal zu ihm. Ganz fura nur: „Du bift geftern [ehr gut zu mir gewejen, Harro. Ich danke Dir vielmals. Und wenn Du fannit, Harro ... denke nicht fchlecht von mir." Er [chludte ein paar Male, als ob er mit Tränen fümpfte. Dabei hatte er die Hände wieder in den Manteltajchen, zu gaujten geballt. Rudweife nur erwiderte er: „Schlecht von Dir! Wd... Helene... tie... niemals. Ich... Du weißt es... ich bab’ Dich ja jo lieb. Manchmal ben? ih, Du müßtelt eigentlich meine Schwe: jter fein... manchmal...“ Plöglich ri er die Fäufte aus ben Tajdjen und griff nad) ihrer Hand. Das Blut fam und ging in feinem Geſicht. „Nimm’s Dir bod) nicht fo zu Herzen, Helene! Das iit ja alles dummes Zeug...das... Der Poftillon blies. Der ftonbufteur drängte. Über Harro ſchien etwas wie in: nere Wut zu fommen, er mußte jid) irgend: wieLuftmachen. Miteinem Ellenbogenftoß ſchob er einen biden Wollhändler zur Seite, Ichrie ihn an: ,, Was machen Cie fid) hier maufig? Sehen Sie nicht, dak bie Dame einjteigen will!“. Dann bob er Helene in den Wagen, legte ihr die Neijedede über das Knie, brüdte nod) einmal ihre Hand. „Adieu, Helene... auf Wieder: leben..." Seine Stimme war [djon wie: ber fnabenhaft weich geworden. „Bleib gehimb..." Und dann jtanb er, bie Mübe in ber Hand, neben bem hohen Wagen. Der Wind fpielte mit feinen blonden Loden. „Adieu...liebe... liebe Helene...“ (Fortlegung folgt.) TER, B s : "ha s p Pu e A Ia Da Da BO BB U Klage. ) Wie fremd ijt alles Befchehen Es geht an mir vorbei Wie ferner Winde Wehen, Als ob id) gar nicht fet. Es ftreift wohl an mein Leben Dad ^ ohne Ginn und Klang; Sd) fann mid) nicht verweben N Als Ton in den Belang. >> ©. Frerids. FB pe Ich hörte nte bie Weife, zu der das Lied gehört, as nadtens in mir leije Vol Sehnjucht wiedertehrt. So wird das Leben gehen Nur fremd an mir vorbei Wie ferner Winde Wehen, Als ob id) gar nicht fet... Jj — — o — dl cl + Die Waijenhaustinoer. Den?’ ich an meinen erjten Gang In diefem Frühling: Am Graben entlang In den mageren Heden fängt’s an zu lengen. Es liegt ein jhüchternes Connenglangen Auf winterwelfem Wiejengras. In dürren Halmen, ganz tm fid gejunten, Glühn hundert ideue Funken Wie buntes Glas. Und nun — auf dem Weg, der den meinen jchneidet, Grau in grau gefletdet, Su zweien, im ——— ängſtlich, ver⸗ e gen — Kommen mir die Waiſenhauskinder entgegen. Die Waiſenhauskinder. Blaſſe Geſichter. Dünne Lippen und ſchmale Wangen. Scheue Herzen, vor Sehnſucht befangen. Doch tief in den Augen glühn heimliche Lichter. a Richter. Das ijt, als lehnten bre dürftenden Seelen hinter Fenſterſcheiben. Als febnten Cie fid) hinaus, wo bie Rnojpen treiben, Die Sonne lat, ein Vöglein lingt, Die Wolten wie weiße Cegel ſchwellen, Bom Berg, der wie ein Rieſe wintt, Die Heinen Schneebächlein niederquellen. Dod wie ihre Augen nun gierig und bang Im Glanz ertrinten — minutenlang — Da geht ein Lächeln um ihre Lippen, Das ijt, als wollten fie ängſtlich nippen Von bieler jungen Friihlingspradt. Und fommt ein Wörtlein von jtodenber Zunge (Schämt fic) bernad) nod), bet törichte n unge!) — Doch jebt — jebt hat eins gar geladt. Da fällt der Vann! — Dreißig Hände zeigen Nad ben braunen Rnofpen an allen Zweigen. Dreikig Mündchen ftehen vor Staunen offen, Weil jie ein feltjam Wunder betroffen: Ein wippendes Vöglein, bas nimmer müd’ Munter zwitjchert jetn Sriihlingslied ! Da gebt's wie Fieber burd) dreißig Köpfchen, Schimmern zaghafte Tränentröpfäjen Da ftimmen dreißig Mündchen etn — Das flattert wie Silber im Gonnenjdein —: „Winter ade! Scheiden tut weh! Aber Dein Scheiden mad, Dah jebt mein Herze lat” — Co war's. Ein überquellendes Lengen 2 an in banger Rinderbruft. n aller Augen ein Gonnenglanger Gprad mir von lang entbehrter Luft. — 3d) nidte lächelnd und ging fürbaß. Wie Diamanten, ganz feuertrunfen, — Glühten mir nun die Gonnenfunten Ringsum im Gras. Julius Berftl — &>—. DD 85 Sb «EB BB x AA a Mo oo > Ea — ( napa ^ > ^ * % a S v. \ — “a ( " "Nr * , > We . me ' * - " J “yw * NS. = « ! "w* Da Jd Se i. eeu " : ^ hd" ea ge “ <>: XR rS A ag Ra EM s | x * c en A1 " ~ en fi "€ Ss 1 = xv wm VU t ' T " » , | E . a. " & Mein Baterhaus. Gemälde von Prof. Hugo Frhr. von Habermann. g Vom Sdretbtijd und aus dem Welter. Hugo Freiherr von Habermann. Autobiographijdes, mitgeteilt von Georg Muſchner in München. Wer ugo von Habermann ijt unter den WG befannten Siinjtlern Münchens d einer Der wenigen wi Bayern. Sein Geburtsort ijt Dil- lingen in Bayern, wo fein Bater in Garnijon and: ion 1859 zogen aber eine Eltern nad München. Sein Bater war er f. b. mel a. D. und Ritterguts- befiger Philipp Freiherr von Habermann unb feine Mutter Paulina eine geborene Gräfin Leutrum von Ertingen. Gr jelber erzählte für dieje Hefte dem SBerfajjer (dem wir für die Einzelheiten die Verantwortung iiberlajjen. Die Red.), daß don jein Bater viel malerijdhe Begabung atte. Als Dilettant — unb aqua: rellierte er Hauptjächlich militäriſche Vorwürfe. Die Mutter bejaß fi dae a rope Verehrung per Runjt, namentli fiir Muſik. So wuds er Riinjtler in einem durch Runjtverftand- nis bereicherten intimen Familienmilieu auf. Er genoß eine in jeder Richtung liebe: volle Erziehung, die namentlich auf innere Ehrenbartigteit Tätigkeit und Bejcheidenheit gerichtet war. „Zum erften Male,“ erzählte der Künftler = ®)) ) — weiter, „habe ich Kunſt in den Zeich— nungen meines Vaters und in den alten — ee in unſerm Familienwohnſitz nsleben in Unterfranken; dann nad) ber Überjiedlung in München in der Pinafothet unb im Runftverein. In der Pinafothet war id) jeltjamerweije von dem Bilde Syor- baens mit den Pfauen frappiert. Sd) habe igen als Rnabe immer gezeich— net, in alle €ebrbüdjer; id) war immer von den Erjcheinungen der Umgebung angezogen. Ich babe immer gerne auf dem Lande in verborgenen Eden, die niemand een herumgelegen, geträumt und Bilder gejehen Bom Jahre 1859 an bejudhte id) in München bas Ludwigsgymnafium; 1863 erfolgte ber Eintritt in die Bagerie; 1868 bezog ich Die Uni: verlität, aber td) war Jurift ohne ?Begeijte- rung. Aufgerüttelt wurde id) durch ben fran: fen Feldzug 1870, ben ich als Landwehr— offizier mitgemadht habe. Ich habe aud während des gelbäuges gezeichnet und aqua: relliert unter Zeitung des Malers 9tejd). In der —— wohin ich, Anfan 1871 als Gouvernementsadjutant, ſpezie wegen meiner Kenntnis des Franzöſiſchen zur 3 — —— ————————JX EEE ——— EE E> 0 Bm 0 EE ^ 0 JB Jo 0 de 00 AD 0 OS 6 fee Ne TB e a e 0 se O «e oS O eM 1er > 13 194 EEEEA Georg Mujdner: Hugo Freiherr von Habermann. $8emadjung der zahlreichen franzöfilchen Ge: fangenen fommanbiert worden war, lernte ich viele Münchener Maler fennen, und Diefe, namentlich aber ein gefangener franzöliicher Major, ein Graf Beaurepaire, der jehr hübjche Aquarelle von gefangenen Turfos malte, haben mid) ermutigt, Riinjtler zu werden. Im Jahre 1871 habe ich einige Mtonate bei dem Maler Hermann Schneider gegoidnet, dann bin ich in den 9Intifenjaal ber age Akademie unter Strähuber eingetreten. 9tad) einem Se ging id) zur Staturt[ajje Barth, bann zur Malſchule Otto Seth, endlich trat id), etwa 1873, zur Meijterjchule Prlotys über. Gigentlid) babe id) mid) aber nirgends wohl befunden; nicht weil es zu akademiſch, Jondern weil es mir in den erjten Schulen u wenig afademijd, Piloty aber Damals on wegen Krankheit zu wenig ftreng war. Damals war ich jedenfalls lediglich von den Alten — unb zwar merkwürdiger— weile nicht von den er|ten Größen wie Rubens und Tizian, |onbern immer nod von or: Daens, von dem Dod nur ein Bild in der SBinafotbet durch bie etwas lebrbaft magi: trale Tedhnif mir imponierte. Immer hatte id) einen fleinen Hang nad) Gründlichkeit im a: das Begenteil im Temperament. Gelber jehr mma id), war id) bird) Muſik furchtbar erregbar, dabei hatte id) jedod großen Ginn für Exaftheit. Sd) fonnte, |o gu jagen, beim Klang eines flotten Militär: marjches allein ein Wrmeeforps befämpfen, fönnte aber nn eine Beethovenjdhe Sym— — wie ein Orcheſtrion mit Nachahmung er Inſtrumentation aufs exakteſte vorheulen. Der Rhythmus war mein ganz ſpezielles Feld. In der Malerei wurde damals furcht- jj bar afabemijd ge: | badj. Sd) empfand wohl aud) freier und wurde pon neuen Er: ideinungen wie 3.8. von Leibl fajzintert; aber man betrachtete Jie bod) als etwas ge: wijjermaßen ®erbo: tenes, Das vom bod): ften Ziel abwich und abzog. Ich erinnere mid), daß meiner ba: maligen Wnjdauung ein Wusjprud des befannten alers und ner ta Offi- giers $yaber du aur, der vor mir bei Piloty war, bejonders gu. iai und mid) beein: Bte. Der jagte in einem | EATER Dialeft: Weijdht Du, Du fan|dt made, was Du wilidt; wenn Du früher Offi- gier oder jo was Hugo Freiherr von Habermann. Photographie von Sof. Paul Böhm in Münden. warſcht, halte Dich bie Kollege immer für ein Dilettante!‘ Ich dachte mir, ich will’s ihnen eigen, daß ich fein Dilettant bin, und jo ver: obrte id) mid) immer mehr in meine fiber: zeugung, vor allem möglichjt ‚malen fünnen‘ zu lernen. Was, war ganz gleich, nur gut emalt mußte es fein. Und ba man be: anntlich nie ganz malen lernt, habe ich auch nod) jebt bas Gefühl, daß id) an bie Verkörpe— rung meiner Ideen (die mir ftandig jehr reid) zufließen, denn id) habe eine m be: wegliche Phantafie) erjt benfen darf, wenn id) malen fann, und das wird günitigiten- lim: in meinem neunzigjten Jahre der Fall ein. Was id) an Sbeen nicht rein malerijcher Art gemalt habe, war in mir nur zufällig an den Tagen, wo es gerade paßte, vorrätig und gegenwärtig aus dem libermaße von unzähligen anderen. Wenn damals die Zeit jo giinjtig gewejen wäre wie heute, wo eine differenzierte ae Wusdrudsweifen [it ver|djiebenarti e Sbeen gang und gäbe ijt, wäre td) wahricheinlich ein ftrenger Stilift geworden. 3d) hatte aber dafür feine An regung und fand dafür fein Verjtändnis bei anderen, und darum verführte mich bod) im- mer wieder bas abjolut Dtalerijche. So ijt eigentlich) aus meiner damaligen Zeit nur das etwas Ganzes, was ich mit Sjintanje&ung meiner ftrengen Überzeugung nebenher jfizziert habe. Das find die Sachen, Die heute ſchon im Preije ftehen: Der Arzt mit Barett De ae lung Beſitzer Herr Weigandz, München), Weibliches Bild— nis in dunkler Kleidung, ds aa ba (Beliger Profeſſor Cont Stadler), Mönd a : (SBinafotbef). Soldye | Sachen ausgujtellen hätte ich mich aber nie getraut; den Mön 3. 3B. ftellte ich erft zwanzig SA UR püter tn ber Sezeſſion aus (heutzutage ijt man etwas weniger ſchüch⸗ ern ie gejagt, litt ich in Diejem er[ten Jahr: zehnt unter beitän- bigem Hin= und Her: irren. Durch meine Ideale und burd) mei: ne Überproduftion an Phantalie. Und bas ilt zum Lachen, denn id) babe nichts davon gemalt, und bod) wa: rem es nie Einfälle, die nicht malerijd paritellbar gewejen wären. Gerade darin habe id) ein [febr feines Gefühl; und ba bil: bete fid) von [elbjt heraus, daß id) bei ra 9 «pe € << p pr ger war Se IE 0 DPE 6 20e o «d o «Be Je D 0 2 HE 2 Ee o get > ler 0 d e» O «e v a D ı do 4 0 4> 0 SP 4> 0 490» O «4800» 0 AP O dp SP 0 SP O SP O SP 0 90» 00 «30» 00 AD 0 «4320» 0D 0 «490 OP — Up ED 0 «480 > 13* 196 Besse esses reiferer Überficht über mein Inneres einfad dazu getrieben wurde, mid auf einen Gegen: tand |o zu fongentrieren, daß ich ihn er: chöpfen wollte, mußte. Daß dies nicht bie Sanb|djaft war, dazu hatte ich ein zu inten= ives tyormenbebürjnis, unb jo war es ber enjd. Daß es fein Mann war, ijt be- grati; es war jeweilig ein Weib. Die riti. beſchimpft mich, daß ich zu oft ein unb basje[be Weib male. Das ift jehr dumm von ber Kritit, denn bas ijf ganz meine Gade. Ein und basjelbe Wejen bat un: endlich viele Ceiten, bie fünjtlerijd) immer neu find, und in jede Phaſe fann man eine Welt legen. Ein Bild gebiert bas nüádjte. Mein Typus gefällt der Welt nicht. Ich bedaure, daß id) unter bem Fleijde auch die Belege der Struktur, die Form leben will, daß id) aud bier bas Meilterhafte in der Anlage bevorzuge. Ich haffe fippigfeit aud) aus bielem Grunde und bevorzuge deutliche Raffe; darum bedaure id), im deutjchen Typus, deſſen Art, meiner perjönlicdhen An⸗ (ibt nad), eine gewiffe Berwajdhenbeit ijt, das nicht zu finden. Jd male nad An: Ihauung des deutſchen PBublitums hap: liche Frauen, bedaure aljo, wenn fie nur mir gefallen. Daß id) feinen Hang zur Siig: lidjfeit habe, rechne id) mir gerade bei bem Metier des Damenmalers zum Vorzug; denn eigentlich iit es ein Prüfitein maleri- iden Könnens, folgendes Problem zu Iójen: ein hübjches, elegantes, oder irgendwie bijtin- gutertes Er nd zu malen, bas zu: gleich malerijd) frei behandelt, vollendet und ohne Güßlichkeit if. Gewöhnlich wird aber dabei bie Dame häßlich, wenn man breit und flott malt, ober bie Dtaleret ijt jig, wenn man die Dame hübjch malt. PBiele, bie „arme Leut” und dergleichen malen, tun es bes- halb, weil fie nicht fónnen ,joindre les deux bouts‘; fie würden fonjt recht gerne ein hübſches Belicht malen. Bor zwanzig Jahren galt man im Publi- fum Deutfchlands nidt für einen Künft- ler, wenn man nicht den Weg zu feinem een gefunden, b. D. ein erzählendes, ein enrebild gemalt batte. Da ich mich lebr leicht ‚korrigierte‘ und viele Einfälle hatte, bad)te id) mir: warum nicht, nur muß es ein Begenitand jein, ber nod) nie gun worden ilt. Und das war jehr fchwer bei ber Unmaffe von Genrebilbern. Es ijt mir aber bod) gelungen. Ich malte das ‚Sorgentind‘ und bie ‚Morgendämmerung in ber Rranfenjtube‘, Gegenjtände, die in der Tat nod) nicht behan- Delt worden waren. Merkwürdigerweiſe er: chien im Jahre 1886 im Barijer Salon aud) ein ‚Sorgentind‘, von deilen Gxijtena ich feine Ahnung hatte. Ich bedaure, baB das Leben nicht länger ijt, ſonſt hätte td) von meinen vielen guten Ideen auf bem Gebicte des Genrebildes nod) einiges gemalt. Ebenjo ilt es bei ben Hiltorienbildern. Aber wenn id) in den beiden Richtungen aud) Ideen hatte, fo war id) bod) zu wüblerijd) in ber Auswahl der WMtodelle, die mir nie bie Georg Diufchner: em m n a p m ip m p a m p qp p C. Typen darboten, welche td) mir gerade dachte; aud) ber mit Aufjuchen von Interieurs und Kojtiimen verbundene Zeitverluft machte mich nervös, |o daß id), ba ich mich nie er: Ihöpfte in ftändiger Umwandlung der Ge: jtaltung eines Gegenjtandes, gewöhnlich alles wieder wegwarf und malte, was mir ber Zufall bot, b. 5. das Modell, bas den Kopf zur Tür hereinjtedte und ein wenig inter: ejjanter ausjah als die andern. Go fompo: nierte id) einft eine Sjerobias und juchte mir dazu. nicht in einem Lande, wo folde jelten anzutreffen find, das paſſende Modell; fon: dern ich malte das Modell, das mid) zufällig dazu anregte, als Sjerobias (1897). Nas türlid) war der Titel gewilfermaßen nur ein anregenber geiltiger Rahmen für das Bild und den Darin Ddargeltellten Frauentypus. Sehr befreundet war id) mit Piglhein, ber, was leichte GBeftaltungsfraft anbetrifft, einzig war und ein ſympathiſcher, burd) unb burd) künſtleriſcher und alles verjtehender Menſch. Unjer Schaffen war gegenlählich, aber er war mit mir gleichfühlend tm Genuß der Kritif anderer Riinjtler. Allen Richtungen en war er wie id) [djarf und agrejjiv zugleich. Ende ber Weser sabre beichäftigte id) mid) fehr mit der Refonftruttion der Techniken der Alten, fpegziell widmete td) mid) mehr ber Renaijfance und las und forint viel. Und da ich in alten Tednifen o viel experimentierte und über dieſe jebr flar wurde, befamen bei aller Dtodernitat meine Bilder bod) bas von den Allten, daß s mit möglichit geringer ‚Schmiererei‘ ben d)pnen Vortrag und bie appetitliche Haltung einer bemalten Tafel erhielten. Dies ijt recht fdywer, wenn man dabei nicht [B werden will; und wenn man es jo tann, fann man es aud) anders. Dieje Vorzüge werden aber heutzutage nicht mehr anerfannt, fie werden in den roBen Ausftellungen von berb gemalten Nachbarn überjd)rien; man i. Dabet aud) an gewijfe Stimmungen und Effefte gebun: den, was bei bem rein empirijden Draufs losgehen nicht ber Gall ijt; man fann auf lebtere Art freilich ein größeres Mehrerlei anläufig behandeln. Zur erjteren Art ge: hören meine Bacdhantin (Beliger Herr Werle, Halle), bas Schweigen, die Sünde ujw. ulw. Abgeſehen von meiner Begeilterung für die ſyſtematiſche, glänzend vornehme, getit: reiche und weile Technik ber Alten, brachte mid) zu biejer Art der Malerei auch ber l1 mitanb, daß id) 1897 bis 1906 eine größere Reihe von Vildniffen einer Dame malte, die mid) ſehr ins terejlierte, bie aber infolge Nervenleidens mir nr ungeahnte Schwierigkeiten in puncto ubigligen bereitete, daß ich genötigt war, um den intenfiven Typus herauszubringen, nur den Schein des Lichtes Hinguwerfen und bewegter zu geben — eine ungemein ziels bewußte Technik, bie mir nad) Überwindung ber Gorm erlaubte, das Maleriſche in ein paar günftigen Stunden darüber zu breiten 222x225 63 Bildnis. unb in Anwendung zu bringen. Arbeits teilung war bie Lojung der Alten, ruhige, —556 — Unterbauung des Geſetzlichen, Akademiſchen; Ausnutzung der nur kurz— möglichen Inſpiration auf dieſer we war mein Ziel. Man Joll ernjt und afa: bemijd) anfangen und [ujtig aufhören; nicht umgefehrt luſtig anfangen und langweilig ober wenigjtens etwas weniger lujtig auf: Deren ei Beherrihung diejer Technit ann das Bild gediegen vollendet jein und bod) jo, dak es jcheinbar flüchtig gemalt ausjieht. Diejes Flüchtige muß es tn ber legten Bierteljtunde befommen. hatte mir ein jchwieriges Problem geftellt. Modern wollte ich jein, injofern als ich gegen|tánblid) dem Thema eines ſpezifiſch modern eleganten Damentypus mit aller bizarren Unruhe gerecht werden wollte, das Bild aber trogdem fünjtlerijch ruhig an der Wand wirken jollte. Wäre id) von Hugo Freiherr von Habermann. Gemälde. lebterem abgefommen, |o hätte id) viel auf: fallenber, jchärfer fein können, hätte viel mehr meine Individualität zur Geltung bringen fónnen; aber aller heutigen An: Ihauung zum Troß, daß die Individualität das einzige jet, meine ich, fie ijt nur bie Hälfte beim wirklichen RKiinjtler; beim Dilet: tanten freilich ijt fie alles. Beim Riinjftler muß die Individualität bie künſtleriſche Form ausfüllen; Form allein, an fic, ijt oder wird langweilige Runjt; Individualität fann jehr unterhaltend und merkwürdig jein, ijt aber feine Runft. Aus praftijdhen Gründen bedaure ich, daß id) mich durch bie mir innewohnende Kultur von rüdjichtslojer Entfaltung meiner Indi— pidualität habe abhalten lajjen. Man fönnte recht originell fein, aber bann fommt bie Er: ztehung und jagt: daß man nicht anders dis joll als. anbere. Namentlich in unjerer Pa: gerie wurde uns immer gejagt, daß ber wahre a Cdjleiertángerin. Gemälde. a Ariſtokrat nicht auffallen dürfte, was eigent: lid), wenn esrichtig verjtanden wird, aud) rid)- tig ift. Go wurde mir dort aud) Be Beilpiel ein gewilles Schamgefühl für viele Dinge, als da jind Gentimentalitaten, als Unmöglich: leiten anerzogen. ch würde mid) heute nod) genieren, ein Bild Jentimentalen Inhalts zu malen; ich geniere mich überhaupt ausgu- itellen, es ijt mir jedesmal gráfplid), und td) bin jehr zu meinem Schaden nicht imjtande, perjönlich fünjtlerijche Erfolge einzuheimien. Gelbjtverjtändlid) bin id) aud) ein Dtenjch, und 198 Georg Mujchner: Hugo Freiherr von Habermann. [2223333 günftige Rritifen freuen mich, namentlich aber wegen meiner Mutter; jchlechte ärgern mid) wegen meiner Köchin, der ich fie nicht wie meiner Mutter vorenthalten fann. Ich bin nicht Shafejpeare, aber nad) meinem ei müßte es herrlich für Bacon gewejen jein (wenn er wirklich der Verfaſſer der Shake: Ipearjhen Dramen gewelen jein ee un: ejdoren nad) bem Schluß der Borftellung Belinket uten. ua ds bas Haus no dem Beifall ber Maſſe bebte. Bon mir perjönlich darf id) lagen, daß unter pe:exeREX—-P Frida Schanz: Der Tod Ludwigs bes Fünfzehnten. BSSess 199 id) Außerft befcheiden Iebe und in berzlicher Sntimitdt mit meiner alten lieben Mutter. Sm Sjerbit haufen wir in unjerm entgiiden: den alten Neft Unsleben in Unterfranten, einem alten fránfijdjen Wafjerihloß mit originellem Fachwerk, malerijch und poetilch und voller Reminilzenzen. Sch gehe nicht gern in Gejellidja[t, habe ein großes Atelier, für deifen Einrichtung id) nie bie Zeit finde unb das auslieht wie eine Trödelbude nach einem Erdbeben, alles voll — Pinſeln uſw. uſw. Ich bin ſehr eißig, ſcheue keine noch ſo intenſive Arbeit, bin aber inſofern bequem, als ich alles ſcheue, was nicht direkt ‚malen‘ ijt. Alle Vorberei— tungen, das Cudjen in der Welt nad) Mo: tiven find mir läftig, id) male aljo immer im Utelier, da ich gerne von pn Uhr mor: gens bis jedjs Uhr abends ohne Unterbredung angeltrengt_ arbeite; id) will aber dazu fchreiten, Ctajfelet und Farben fortan tn den Garten zu tragen und dort qu malen. Leider reife id) jebt wenig, da id) feine Dee ae Bei meiner 9Borltebe fiir romanilche änder (id) ſpreche franzöſiſches Franzöſiſch und italieniſches Italieniſch), habe ich aber eigentlich ſtändige Sehnſucht nach Italien und — einmal im Jahr — nach Paris. J wäre aber ein ſehr geeigneter Reiſender; i glaube, wenn ich drei Wochen in China wäre, würde id) mich als Gbineje fühlen und einen Zopf tragen. Und zum Schluß diefer Gelbitbetenntiffe: Ich babe gar feinen Egoismus, tein Gelbjts gefühl; id) fühle mid) immer en passant und wäre am liebften auf der Welt ganz incognito; es unterhält mid) am mei[ten, nur zuzujehen und zu reflektieren.“ Der Tod Ludwigs des Fünfzehnten. Tiefblau bie Mainadt wie Email! Und ſcharf gelpannt auf Schiejalslettern! — Wie müd in welten Rofenblattern Schlichen die Schritte in Berjailles. Grabodem fdwelt ums Gterbebette Des fludbeladnen Louis - Quinze. Am bangen Blide des Dauphins Hängt groß Marie Antoinette. Wie eigen einfam ftehn fie heute, Die jungen Träger künftigen Lichts. Verſunken ijt bie Höflingsmeute Sn leeres, abgrundtiefes Nichts. Die Etikette wie verloren; — Kein Leudter brennt, fein Feuer glimmt. Todſchweigen, bas fein Ende nimmt, Hodt ſchauernd in den Korridoren! ro[titarre Grabmelandjolie! ies quälendlange Tod: Erharren. Die runden GFenjtcraugen ftarren Ins blaue Dämmern, ſchwarz wie nie. Zi dem einen eine Kerze. ie fladt bie Flamme trüb empor! Der an: in berbem Scherze „Sa vie!“ in Wntoinettes Ohr. Die Flamme fladte [yon |o haftend. Mon Dieu! Ob fie denn nie verlijcht? Wie in der oben Stille Iaitenb Sich Graufen mit Erwartung mifdt! Der Zukunft Sterne funfeln minder. Stumm grübeln beide, — wie ein paar Des Spiels im voraus müder Kinder, — Cie neungehn und er zwanzig Jahr. Kinder, zu ernitem Spiel geboren! Der Dauphin feufzt und küßt galant Der Spielgefahrtin feine Hand. — Kinder, zu früh zum Thron erloren! Ergriffen raunt er Wort um Wort. Wie eigen gut tut jest bie Stile! Verſunken ſcheint ibm Wunfch und Wille. — 9trmjelige Kerze, fladre fort. Als wade er zum erjtenmal In jeiner Ehe ebnen Tagen, Sieht er der Habsburgaugen Gtrahl In Schönheit zu fid) aufgeid)Iagen. Gein Welen ſchwingt in bóberm Schwung. Wie hat ibn der Moment begwungen. Co jung! Mein Gott! Go jhön und jung! Und zärtlid) Iniet er vor der Jungen. 3u feinem Mund will fie fich neigen, ein gutes großes Auge flammt. Wie a. und fo|tbar wird bas Schweigen, Wie reich ber Dammrung Veildenjamt! —— cin — d tei ieBt er bie Finger, heiß unb feufd). kA — Marie — Untoinette! —“ 9 Da fradjt ein bonnernbes Geráujd). Aufrauſcht ein Schallgewirr von Worten, Als brádjen Molen bonmernb ein. Gleichzeitig |pringen hundert Pforten, Die Höflingsmeute ftürzt herein, Die in 3Bereitjdjaft [tanb feit Stunden, Des Zeichens harrend. — Nun — o joie! Schmeichelnder Jubel ijt entbunden: „Le roi est mort! Vive le roi!‘ Unbaljamtert vom Totenbette Den König fort nad) Saint: Denis! $€ouis und arte Antoinette Ginfen erjchüttert in bie Knie. „Wir find zu jung! Ein O Gott! DUE. uns vorm Unglüd tiefen Falls!“ agelritz liegt wie ein Faden In Gnaden Um Marie Antoinettes Hals. Frida Schanz. An feiner inbaltsvollen und geiſt⸗ As reichen Steftoratsrebe am 15. Of: tober 1909 hat Grid Schmidt aud) oN bie Bedeutung der Parodie fiir die VIL Ertenntnis und Beurteilung der literari/den Berjönlichkeithervorgehoben. Und war ijt bie literarhiltorijche Bedeutung der arodie eine Doppelte. Einmal zeigt fie, was den Jeitgenojjen an bejtimmten Dich: tern bejonbers auffiel, fie befrembdete, be: Iuftigte, zum Widerjprud) reizte; und injo- fern idürit fie unjer Auge fiir die Eigen: heiten einer poettidjen Perjönlichkeit. Dann aber zeigt fie zugleich aud) ben Durchſchnitts⸗ geldjmad bes Publif{ums, dem eben gerade Dies ober jenes ſeltſam vorfam. Dieſe Wichtigkeit der Parodie für die Felt: ftellung des generellen Bejchmads und ber perjönlichen Abweichungen hat die Literatur: C a natiirlid) oft genug zunuße gemadjt; belonbers für die Blütezeit der literarifhen Parodie, bas Tahrhundert von 1750 — 1850. Der heftige Gegenja& don, ben Bottiched unb feine Anhänger der ,jera- bildjen^ Poeſie Klopftods („jehr affifden” agten fie) entgegen warfen, führte bei dem berufenen Gdonaid) und anderen zu paro- biltild)en Verzerrungen der poetijd)en Wort: wahl, burd) bie unjere erjten neuhochdeut- [den Lyrifer den vertrodneten Spradjtoff genial auffriichten ; ober bie dialektiſche Locke— rung ber pebanti]d) erftarrten Schriftiprache burd) bie Stürmer und Dränger retat jelbit den grundgeldeiten Lichtenberg zur Verſpot— tung, des Stils im „Werther“. enn J. Smelmann in einem hübjchen Büchlein „Deutiche Dichtung im 2iebe" Ur: teile gejammelt hat, die „Dichter über Dich: ter“ fällten, möchte ich als Gegenjtüd ein: mal die „Deutiche Dichtung im Cpottliebe" en eine Geldidte ber deutſchen iteratur in Parodien. Gang lüdenlos wäre fie zwar nicht, ſelbſt wenn wir den Begriff der Parodie weit neh: men: wie es eine „Itrafende Satire“ von tiefernftem Ton gibt (Syuvenal!), jo gibt es aud) ernite Parodien; freilich, wie jene, ftarf in ber Diinderzahl. (Zo fonnte man von Traveſtie ſelbſt jprechen, wenn in feierlichfter Abficht ber Dichter bes altfächliichen Heliand für feine Erzählung von Chrijtus die Form ber beibniid) - germanildjen Ethik nachahmt, um gerade auch burd) bicje áuperlid)e An: ähnlihung bie vermeintlidje Wertlojigfeit jener alten Sjelbenlieber hervortreten zu laffen. Über aud) die ganz eigentliche Parodie tritt früh auf: bie formelle Wnpaffung mit ironilierendem Inhalt. Walter von der Vogelweide ahmt den Ton eines berühmten Gedidjtes feines Lehrers Reinmar nad), um fein |dymadtendes Liebes: girren zu perfiflieren. Neidhart von Reuen- thal, ber geniale Begründer der „höfiichen Dorfpoefie”, eignet fid) bie Form der bauer: lidjen Tanglieder an, um die übermütigen Bauern zu verjpotten, bie ihm wiederum in bejonders merfwiirdigen „Trußftrophen“ bie- nen: mit Wiederholung feiner Strophenform lajjen jie thn als armen Schluder verhöhnen. Die jpáteren „Fahrenden“ madjen fid) wechjel: weile übereinander lujtig: ber eine verjpottet etwa bie geftaltenreide Pirtuofität bes an: dern, indem er ibn in einem Platatlied Ge: dichte jeder Art feilhalten läßt: Lcid= und Treudenlieder, Reife: und Hochzeitslieder habe Lcutold auf Lager. Und ganze Gat: tungen verfallen dem Spott: bas höfiſche „Taglied“ jdjilbert den minniglichen Abjchied des Ritters, und muß es ftd) gefallen laſſen, als Abjchied des Hirten von ber Kuhmagd bis ins einzelne nadjgejormt zu werden. Die formelhaft gewordene Mtinnetermino: logie wird parobtert: „wie ein Schwein in einem Cad" fährt bas unrubige Herz bin und ber... Man liebt diefe Übung jo, daß fid) ein bejonberer KRunftausdrud dafür etnbürgert: »vertéren”, verdrehen. Und das Spiel ward, wie auf bie Lyrif, jo aud) auf die Epik an: man: jobald fie in einem bejtimmten one |chreibt: ganz köſtlich parodiert bas Lied am „Weinſchwelg“, das einen Meifter: trinfer jchildert, den feierlichen Gtil bes Bolfsepos. In unjeren Tagen hat Johan: nes Trojan in „Des Edlen aus Gtelzad) Auszug“ dieſe Manier gliidlid) aufgefrilcht: Es trug der e Ein baumwollenes Sembe... Das mittelhochdeutjche Publikum ift, wie jo ziemlicy jedes arößere Publilum, bem Uberfdywang abhold: es behält ein Miß— trauen gegen den vom Ausland importierten Date es fühlt fid) durch zu viel eierlichteit gereizt. Und hier haben wir gleich Gelegenheit, jene zwei Typen ber Pa: rodiften zu unterjcheiden: ſolche, bie im Dienit oder bod) minbe|tens im Ginn ber Mehrheit bie fübnen Neuerer angreifen, wie der Rat von Salamanca den Rolumbus Ser und joldje, bie als fede Verfechter der Ju: gend die Alten und das Alte verhöhnen. 9tatürlid) wird jeder lebhafte literartide Kampf Vertreter beider Richtungen aufrufen: wie 9teibbart und Die ae der Trutzſtro⸗ phen, jo verlörpern in ber Neformationszeit etwa Murner und Diannel, oder in ber Epoche der Romantif Kotebue und A. 95. Schlegel, oder Börres und Voß bie beiden Prinzipien. Als nad) bem beijpiellofen Aufblühen ber beutidjen Literatur in der Stauferzeit lite: rarijd) wie politijd) ein rafcher Verfall eins trat, ftumpfte jid) auch bie Satire ab und LSSesssessscay Ridard M. Meyer: Parodieftudien. BSSSS3334 201 ging in der ebrbar-trodenen Bedmelferei der Meilterjinger unter. Und als dann nad langem Siechtum ber deutjche Geift i wies ber zu neuer Kraft unb Ausdrudsfähigteit — diesmal faft nur in ber Proſa — erhob, a freilich den Gatiren und Pasquillen er Epoche Luthers bie formale Parodie feineswegs; aber fie trat bod) hinter ber inhaltlichen Verſpottung [tarf in den Hinter: grund. Es ijt für den befannten inneren (Begenjat iden umen unb Refors matoren, 3wijden Crasmus und Luther, fennzeichnend, daß bie einzige berühmte pa: rodiſtiſche eng jener Zeit — freilich bie berühmtefte, bte Deutidland hervorgebradt cae und außer dem (der Parodie entwad)= enen) „Don Quijote“ des Cervantes Die gentalfte der Weltliteratur —, daß Die ,Epistolae obscurorum virorum“ bem Suma: nijten Grotus Rubeanus (1480 bis 1539) und feinem Kreis angehören; Grotus Rubeanus aber febrte jpäter vom Luthertum zur fatbos Iifchen Kirche zurüd. ie „Duntelmännerbriefe“ find nun Pas rodien im eigentlichiten Sinne Natürlich richtet (id) ber Spott auch gegen ben Geiit (oder die Se der Kölner Zeloten; aber vor allem ijt es bod) bie formale Un: bildung der orthodoxen Theologen, die dem Gelebrten|tol3 ber Klaſſiziſten als Zieljcheibe dient. Die Humanijten freben eine Erneue⸗ rung der Nation aus dem Beilt der 9Intite an, und bie Hajfifche Form ijt ihnen bie bei: ligfte Erbjdaft der Alten. Wenn nun bie Gegner Reudhlins in barbarijdem Kirchen» Iatetn ber neuen — widerſprechen, ſo fühlen die Humaniſten in den Germanismen, Soloecismen, Barbarismen ihr Heiligſtes verletzt. Deshalb bleibt jede Aberſetzung dieſer köſtlichen Parodien ſo lahm. Die „Epistolae“ bedienen i bes in Pa: robien naturgemäß sal en eliebten Kunſt⸗ gus. daß [te bie ver|]potteten Gegner ſchein⸗ rt felbjt reden lalfen. Go legten aud) bie Bauerndidter bem Neidhart ihre Trußftros phen in den Mund; fo läßt Rokebue im „HhHperboreifchen Ejel“ ein angebltd)es Ab: bild Friedrich Schlegels Phrajen und Frag: mente aus bejjet revolutionären Manifeſten häufen; [o gibt be|onbers bie moderne Pa⸗ robie [yrifder orange fid) fait ftets als » SOtiginalbeitrag". uf biele Weile find denn auch manche Irrtümer entitanden; jo wird eine Parodie, bie von Warnhagens Freund Wilhelm Neumann ftammt, nod heute oft für ein echtes Heineſches Gedicht gehalten, was jedenfalls für fid) ſpricht: Den Gartner nährt jein Spaten; Den Bettler fein lahmes Bein; Den Werdfler feine Dufaten; Mich meine Liebespein. Drum bin id) Dir febr verbunden, Mein Kind, für Dein treulos Herz: Biel Gold hab’ id) gefunden Und Ruhm im Liebesichmerz. Nun Ins ich bei nád)t'ger Lampe, Den Jammer, ber mid) traf; Gr tommt bet Hoffmann und Campe Heraus in Hein Oktav. Das berüdjtigtite Beiſpiel aber folder er: folgreichen „Andichtung“ ijt die Strophe vom „NRabenaas“: | Sd) bin ein echtes Rabenaas, Ein Fa ae ag aD Sn dd, Der in fid) ein die Sünden frag Als wie der Baul die Zwibbel — Diefe wilde Gelbitkafteiung in BWerjen hat burd) Sahrzehnte den Feinden chriitlichen Kirchenweſens als Waffe gedient. Schließ⸗ lid) lebte man einen Preis auf den Nachweis ber *Berje, und es ftellte jid) heraus, daß jie nie in einem Gefangbud geltanben hat: ten... Sie waren die wilde Parodie eines radifalen SJournaliften namens Friedrich Wilhelm Wolff! Wher der Ton mander älteren Gelangbiidjer mußte bod) gut VR fen fein, font hätte die Strophe nidt lo ange für echt gelten Tonnen. olde Meiſterſchaft iit nad) den „Epis- tolae“ nicht mehr m erreicht worden. Die Reidenichaft bes Ha bes XVI. Sahrhunderts zu gröblichen Über: treibungen; unb aud bie gemäßigtere Pals fion bes Ürgers und Neides im XVII. Jahr: hundert bleibt felten davon frei. Liscov ver|pottet bie Pedanterie, Windbeutelet und Eitelteit jchlechter Stribenten mit viel Wik, aber bod) die Rarifaturen ins Grotesfe ver: gerrend. Ihm fehlte, was ber rechte Paro: Dijt nicht ae fann: bie äfthetifche Freude an ber Lächerlichleit feines Opfers; ber Spaß, ben bie eigene Laune ihm berets tete, fann dafür nicht entidadigen. Größere Neuerungen, Exzentrizitäten muB: ten fommen, um bedeutende Barodien her: vorzuloden. Lavaters pbantaltijd)e Whnun- en und wortreiche Deflamattonen Tonnten bon in Richtenbergs glangendem „Fragment von Schwänzen“ ein köſtliches Echo ihrer begeijterten Formloſigkeit erweden. er „Werther“ rierjalzloje Barodien hervor, deren eine, bie Nicolais, Goethe wiederum nicht viel glüdlidjer im gleichen Ton beantwortete — wieviel wißiger ijt fein jatirifcher, erg: tober Bers als die „Anekdote aus den reuden bes jungen Werthers”! Die Anti» parobie als jolde ah ein Zeugnis, welche Widhtigteit Diele affe im literarijden Kampf wieder gewinnt. Aber die eigentliche Blütezeit ber deut— iden Parodie kommt erjt mit ber Romantit. Hier jdjiebt jie jo überreich auf, im neuen wie im alten Lager, daß nur ganz Tura auf Diejen Reichtum Dingebeutet werden Tann. Mertwürdig ijf babet, baB ber am wenigiten roduftive unter ben älteren Romantifern, . 9n. Bed der größte Virtuos auf bie: . fem Felde ijt; etwas Bollendeteres an iro: niſcher Nachformung tjt in deutfcher Sprache nicht geleijtet worden als feine „Ehrenpforte“ fes treibt bie Catiriter - 209 BSSSsssesssssssssy Nihard M. Meyer: EpaxoooGooGiacocGaoccoug fuc Rogebue ober ber „Wettgefang dreier veten“, Bofjens, Matthillons und Schmidts von Werneudhen. Hier erit it die Nachahmung an Form und Inhalt fo untrennbar in eins ebildet, wie bei den drei armen Schächern elbft (von denen bod Matthilfon ni ne Iprifden Retz und aa nidt ohne idylliſche Kraft ijt), beides zufammengehört: Voß: fBoefte wie bte ſchwarze Suppe Schmedt Eud allen nod) einft: Gott geb’s! Matthilfon: Stolz prangt mein Lied als Marmorgruppe Ra fern den 3Blid, als leb’s. Schmidt: Stotbefradt wie ein gelochter Krebs Qrüpt bte Muje mid in ſchmutz'ger Suppe. Der alademilche Klaſſiziſt Matthiffon, ber derbe Naturalift Schmidt und der antififies rende Realiſt Voß purodieren fid) gegenjei: tig, indem jeder jid) ſelbſt parobiert. Aber ijt es eigentlich merkwürdig, daß Auguft Wilhelm ein bejlerer Parodift ijt als Lied, bem in ben parodiltiichen Szenen pr ner Komödien bie Laune weglief, oder Fr. Schlegel, ber aud) Hier Yragmentilt und Epigrammatifer blieb? Denn parodiftijche Birtuolität geugt fait ftets von ein Hyper⸗ tropbie des fritt}den Organs. Und deshalb zeigt die parodiltiiche Vir⸗ tuofitat der Romantifer — auch ihre Schwächen: ihre Neigung, ſich an große Vor: bilder angulehnen, denen fie bod) zugleich entwadjen ſein mochten; ihre pirtuoje Ge: wandtheit ber Nachahmung und einer ge: wilfen feelifden Lautmalerei bei dem Wn: fprud) völliger Originalität und ze tliquen: afte Neigung zum Perliflteren aller „Draus enitebenben". o befampfen (id) Nicvlaiten ober Bof- ianer unb Romantifer, indem fie Hankey eitig in bie fremden Gewänder ſchlüpfen und der Welt zurufen: „Wie fomtfd ſieht bas aus!" Aber wenn ein niidterner Bürger im Prophetenmantel ober ein Seher im Frac eine lächerlihe Figur machen, fo ijt baburd) ſchließlich nod) nicht allzuviel bewiefen. Darauf beruht es, dab bie Hodflut der Parodien und Traveitien, in der Zeit rund von 1800 bis 1830, jo leer und unfrudtbar wirkt. Gie e. gar feine Abficht mehr, gar fein Leben. Gie begniigt fic damit, ein paar Augerlidteiten, die fie eigentlich gar nicht mißbilligt, zu übertreiben und foptert geijts los ben Schnörkel der Unterfchrift eines iroBer Mannes, ohne feinem Text zu be: igen. Diefe Entwidlung vollzieht ſich rajd). In der weimarijchen Peripherie weiß man nod) die Parodie oft mibbraudlid und unam: jtánbtg, aber treffend anzuwenden. Koßebues beriidtigtes Pamphlet „Doktor Bahrdt mit ber etfernen Stirn“ (1790) iit bas Gemeinite, was fid) benfen läßt; aber bie Gewandtheit, mit der „der uneigennüßige Campe“, „der wohlgezogene Gedife” (ein Berliner Aufflarer) und „der feufche Käftner” ihre Stimmen an: einander abheben, läßt p fait mit bem Glanz bes Gchlegeliihen Wettgejangs ver- gleichen. — In Varnhagens Rreis, wo wir den glüdlichen SHeineparodiiten Neumann don trafen, entfteht ein parodiſtiſches Mon⸗ trum: die „Verjuche und Hindernille Karls“ (1808) ; eine Anzahl Freunde jpinnen Romans mufter von Jean Paul, Lafontaine und ans deren Lieblingen des Publitums nad; oft recht gelungen — aber die 300 Geiten lange nn tötet ftd) felbft mit bem Stachel ber angeweile, mie ber Skorpion. — Und Jean Paul felbit macht es in feinem „Leben Fibels“ 1812) faum befler: er perlifliert biographifche ichtigtuerei und, verliert über der Lange des Weges das Ziel. Man He ion etn Cervantes jein, um eine weitläufige Parodie lebendig zu erhalten. Aber aud) die turze Parodie, die immer bie herrichende bleiben wird, und insbejondere die des lyriſchen Gedidtes ſank durch fiber: nun Man fing an handwerfsmapig berühmte Gedichte nadguahmen, wie man 9Stad)bilbungen berühmter Statuen als Ofens figuren und Uhrenhalter verwandte. Nun erjdetnen aud) Sammlungen, und fie find febr charakteriſtiſch. Der vtelgeld)áftige Lites rat Rarl Müchler, der aud feinen Batriotis: mus tüdjtig ausgumiingen wußte, indem er einen antinapoleoni|djen Wnefdotenalmanad herausgab, con be ia eine Sammlung „PBarodien“, von ber id) bie me Ausgabe (1820) befige. Geine Worrede beginnt er ganz redjt: „Eine Sammlung von Barodien beutid)er Dichter gehört mit zur Geſchichte der deutjchen ſchönen Literatur, und deshalb dürfte fie nicht nur dem Freunde einer aufs heiternden Leftiire, Jonbern auch denen nicht gang unwillfommen fein, die alles, was in iejer Literatur geleiftet worden ijt, fennen Ier: nen wollen.” Aber was bringt erdann ? Neben ein paar alten guten Travejtien und einigen intereffanten Stüden wie dem Gedicht, mit dem Lavater 1792 feine Begrüßung der fran: zöſiſchen Revolution von 1791 felbft wider: e ie abgeid)madte[ten Anwendungen von Gebidjten Goethes ober Schillers auf lite: rarildje ober gelellidjaftiidje Momente, bei denen jedes ernite Verhältnis gu bem Oris anal verfchrumpft und Derdampit ilt. Etwas ümmeres als die Parodie auf Goethes „Rechenſchaft“ oder den Monolog der „Jungs rau von Orleans” fann man nur — unter üchlers eigenen Leiftungen finden. Oft weiß man überhaupt faum, auf welder Geite die Parodie ftebt. Eine Sammlung „Traveitieen und Paro: bieen“, pebantijd) wie bie Orthographie der Titelworte, erjdjien (1837) in der „Bibliothet bes Frohſinns“ in Stuttgart. Gie lebt fajt nur von dem großen Landsmann bes Ver: legers; unter 21 Stiiden gehören zwei Drittel Schillerparodien! Natürlich hat bas popu: ldrjte und meilt parodierte aller deutjchen Gedichte „Die Gíode" (dem neuerdings Die Damenhutmode zu Hiibjden Bariationen verhalf) den Bortritt; etwa fo geiftreich wie bieje Probe: In der Walze Form gebrochen Liegt bie Trommel da von Bled). Seo will id) Kaffee kochen, Mägde, lauf’ mir feine weg, oder: Auf der Tafel ausgebreitet Liegt ber fchwarze Cafimir, Da er bald ben Stuger fleidet, Helft, Gelellen, rüftig mir! . $Bejonbers beliebt ift bie Aberſetzung in den Dialett. Go ift auch eben wieder ein Straßburger „Schiller in ber Krütenau“ er: De 1837 haben wir 3. B. wieder den onolog der Jungfrau: Wie? wat hör id? Sangmufite, Oder fommt's mid) man fo vor? Wiens ruft mid) fein Gefrade, Brengt (!) mir fein Portrett hervor! Wenn fie fid) bod) prügeln wollten, Rniippel um die Ohren flögen, In bie bidite Reileret Gar zu gerne wär id bei. Man fieht: es ijt bie ddefte philiftröfefte Ausmünzung befannter Bere, wie fie bet wes nig begabten Hochzeitsdichtern oder mittel: mäßigen Rnetpzeitungsfabrifanten floriert. Charatteriftijch aber ijt neben diejer Benugung der Form bie aaa Schillers. Keineswegs wollen bieje Parodien ihr widerftreben, wie etwa ältere in der Xenienperiobe; jie machen nur ihren Hörern den Cpaf, hinter jeder Neuerung das weltbefannte ee durch: bliden zu lalfen. Diefer Reiz des Rebus: ratens, ber bie Boltsliederpotpourris popu: lär madjt, ijt eigentlich alles, was Ddiefe Art Parodien am Leben erhält. Zwei dide Bände, bie © Th. A. Hoff: manns Verleger, Freund und 3. Fund (1840) berausgibt („Das Bu deutiher Parodien und Traveftien”) find faum eae Sjedes beliebte Gediht — „Kennit Du das Land” — „Am Rhein, am Rhein, ba wadjen unjre Reben“ — „Würde der Frauen” — „Drei Worte“ — ,Heftors en — „Das Mädchen aus der Fremde” — ,ReiterliedD“ von Schiller ujw. — erjcheint gleich in mehrfacher Spiegelung. Schiller herricht nod) immer unumjchränft, weil jein hohes Pathos zu ber philiftröfen Einbürgerung in irgendwelche raudjige Stu: benede den erwünjchtejten Hintergrund bil: det. Nur einer madht ibm, im „zweiten Zyklus“, die Beliebtheit fait ftrittig, wenn aud) nur mit Einem ratty bas zweite Buch (1841) ſchließt mit nicht weniger als fed)jgebn Parodien von Nilolaus ?Beders Rheinlied („Sie follen ihn nicht Baben!"). Natürlich befampft eins die Tendenz diejer ogenannten „deutlichen Marſeillaiſe“; teins te Happernden Bere, die nr zufolge dem Rbheinftrom fchwerer im Magen lagen wie J Parodieftudien. B A 203 eine Cdjiffslabung Steine: es wird nur bas Mufter auf Rarnevals:Seminar:Schriftjeßer: lieder geftidt — und bas iſt der Humor davon. Und dod) war inzwildhen bie echte alte fámpfenbe Parodie längjt wieder erwadht. Wolfgang Menzel weiß (1830) den Alters» ftil Goethes nicht übel nadguahmen: Liebe ward, nebft andern Gaben, ier uns fejfelnd, dort begleitend, ür den jung und alten Knaben o anmutig als bedeutend ... Und wie oe ber hieratifch= heitere Ton bes „klugen Rn jo ward in Her: weghs „Wiegenlied“ (1843) bie ſüße ein: Ihlummernde Melodie bes Iyrifchen Bau: berers angegriffen: Deutichland — auf weichem Pfühle Mad’ Dir den Kopf nicht ſchwer! Im irdifdhen Gewühle Sdlafe, was willft Du mehr? ... Und ob man Dir alles verböte, Dod) grame Dich nicht au febr, Du Bait ja Schiller und Goethe: Sdlafe, was willft Du mehr? Hier fteht bod) wieder eine Gejinnung au dem Gpiele, ein Ernit ee dem pak. Goethe erjchien ber deutichen poli: tijd) geichulten Jugend als le als Ins begriff eines äjthetiichen Lothophagentums, bas die Welt vergißt. Gr jchläfere bie gers manilche Kraft ein, meinte Mtengel; er laffe bas Baterland über den literariichen Die nationalen Interejlen vergejjen, meinte Hers wegh. Gervinus prebigte: man Jolle jebt ein paar Tan lang Dichtung Didy- tung fein laflen! Diejer Anjdauung, die an: ch berechtigt war, entipricht es, wenn enzel und Herwegh die weichen Töne des naditalientiden Goethe nadjabmen. Wher mehr nod) als feine Objektivität war die romantiſche Gubjeftivitat ber [tiirmenden Jugend zuwider. DT war Arnold Ruge, der Kritiker und Philoſoph, bas einflußreichite Organ ber Zeititimmung. Parodieren war ibm ein fait unentbehrlicher 3Bejtanbteil der olemif. Wo er weltfremde Riinftelet zu treffen glaubt, befämpft er das Prinzip des art pour l’art“, indem er zeigen will, nichts hy billiger als folche individuelle Runjt. Den erjuchen Tieds, leife Stimmungen im an: fchmiegendften Ausdrud einer poetifden a abzujpiegeln — Verſuche, die Arno olz und bie Phantafus : Schule neuerdings nicht glüdíidjer erneut haben — hängt er feine Fortjegung am: „— weit hinter uns liegt Rom, Wud) mein Freund ift en Der mit mir nad) Deutichland fehrt, Der mit allen Leibesfraften Cid) in alte und neue Kunſt gejentt, Der edle 9tumobr, Des Freundfchaft id) in mander franfen Stunde Troft und Erheitrung danke.” 204 BSSSSSsssessessa Ridard Mt. Meyer: Sodgeehrter 2 Hofrat! Diefer unmittelbaren Lyrik, Das verzeihn Sie giitight, weiß ich, Mit dem beiten Willen, Sowohl in alter als in neuer Poeſie Nichts zur Ceite zu ftellen, Als etwa biejen Schwachen Verſuch einer freien Nachbildung. In ber gleichen Weile reizt ihn etwa Nüderts Mortjpielerei zu einem Gonett; aber er findet felbft, er erreiche jein Vorbild nicht und das pel die werde vielmehr „als Parodie der Parodie er|djeinen": Ich lag dabingeftredt in meinem Bette, Da hört’ ich’s: Schläfer, Faulpelz! mid) an: nauzen, Wie lange wilft Du in den ebern faugen ? Geh, mad)’ Sid) auf, ber holden Henriette u bhuldigen im prangenben Gonette it Erlanger Reime majeltät’Ichem Plauzen; Geb, zögre nicht! ſelbſt ihren Schaß in Bauen Bewinneft Du mit jo metob'ider Kette; Cie aber, kommſt Du, ihr das Blatt zu reichen, Wird ſüß aus braunen Sternen auf Did lächeln, Shr holdes Patſchchen reichen auch zum Kuſſe, pom wird aller Jammer von Dir weiden nb jedes Leid, gleich wie von Sturmes ächeln, Bon Dir entfliehn zum ftarren Kaukaſuſſe. Die politijdje Tendenz vereinigt fid) aud) fonft mit ber literarifchen zum Kampf gegen bie ,Runjtpfaffen”, bte „Hofdichter“ und wie man fonjt jagte. SHerwegh bat aud im „Duett der PBenjionierten“, ne nicht ohne den Einfluß bes Schlegelichen Wettgelangs, Geibel und Freiligrath fid) anfingen laffen. Den Freiligrath ber vorrevolutionären Zeit natürlich, bejjen berühmtes, neulich aus trat: rigem Anlaß wieder zitiertes Gedicht auf den Tod eines politijdhen Märtyrers in Spanien um feines Belenntnijfes willen („Der Dichter fteht auf einer höheren Warte als auf ber Sinne der Partei”) bet Hermegh und vielen Beringeren entrüfteten Wider|pruch in Parodien erwedt Hatte. Oder Moritz Hartmann ver|pottet das weidhlide Cüujeln des Münchener Dichterfreifes: In Deiner Refidenz Goll fid) ein Flor erheben, Wie weimarifcher Leng — Laß uns nur leben... Wir fingen Deinen Ruhm, Wir fingen Lieb’ und Neben, Wir fingen Chriftentum — $aB uns nur leben! Sn biejer Zeit ber Gárung und der politi: (den Erbitterung, von der Vorbereitung der Revolution bis in den Konflift, wurde auch das „Spiel mit frommen Worten” wieder beliebt, die tendengidjen Parodien von Bibel und Gejangbud wie das befannte „Wo Du nicht bilt, Herr Organilt“ oder „Mein er[t Befühl 23 3$-35-3$3« 38 36943 <<< fet Preuß'ſch Courant”. Ste werden Beute befonders von ber Gogialdemofratie gepflegt; jo bat ber Mtinifterialdirettor Schwartzkop am 7. Mai 1906 ein Lied zitiert: Wer nur ben lieben Gott läßt walten Und zahlet Steuer allezeit, Dem wird er wunderbar erhalten Die Bunft der hohen Obrigfeit. Ein folches Antajten von Worten unb Verſen, bie Hunderttaujenden heilig find, bat immer etwas Unfchönes, zumal es felten aud) einen äfthetilchen Reig belitt. Im ganzen ijt es bod) gerade bie erneute Verbindung allgemeiner Tendenzen mit lites rarijdjen, bie ber 1810 bis 1830 jo beliebten als beruntergefommenen Parodie neue Kraft big p= Co wird ber Zeitraum von 1840 is 1860 zu einer neuen Blütezeit der Pas rodie, bie freilich bie geiltige Höhe ber ro: mantiſchen Epoche nicht erreicht, gerade aber in mimijdjer Satire Bedeutendes leiftet. In den Jahren 1844 bis 1846 muß bie erlte Auflage bes nod) heute weitverbreiteten Büch- leins , Mujenflange aus Deutſchlands Leters fajten^ erjchienen jein. Genaueres fonnte mit die Berlagsbudbandlung felbjt nicht angeben; aber Attualitäten wie bas befannte Lied „Freifrau von Drofte: Vifdering”, bas fid) auf bie Ausftellung des heiligen 9todes in Trier 1844 uhr und einzelne Datierungen (1845, 1846) laſſen feinen Zweifel. — Das Bud enthält viel, was nur dem damals febr beliebten „höheren Blödfinn“ angehört — einer Stimmung, bie bod) jelbft au nichts anderes ijt als ein Verfuch, bie Logi, die Ordnung der Dinge, die jelbitverjtänds lichen VBorausjegungen alles Tuns, zu paro» Dteren und ber als höchſte Blüte De: „Baudeamus“ entiprang. — Ebenjo fommt aud) gelegentlich bie politiihe Wnfptelung vor: in einer TFreiligrath: Parodie heibt es: Und burd) 9tajenlod) der goldene Ring Trägt fic) leichter als — v. Bodelichwingh, was aud) wieder zur Datierung hilft, denn H. v. Bodelihwingy war nur bis 1848 Minifter. — Mande andere politiihe Ans jptelung freilid), wie bie Gatire auf bas reaftiondre Denungiantentum der Jahre nad der Revolution („In Berlin, der preuß’fchen td egal wird erft in ſpäteren Auflagen hinzuge ommen fein. ber troßdem bleibt bas hiftoriiche Mo: ment unverfennbar. Denn bie literarifche Parodie beberrid)jt in den „Mufenklängen“ nidt mehr Schiller, fondern ‘Freiligrath. Das Pathos Schillers hat man (id) länglt nee als ein gegebenes Urphänomen zu etradjten; aber Freiligraths Retme Klingen bieler Zeit jo neu unb aufreizend, wie einjt die Rhythmen von Cdillers Jugendlyrik geflungen hatten: Bismard, Thiers — dort fällt für Eud fein Lob ab! How ob beider Wuchs ragt der Baobab; er Rulturfampf felbjt wird mäuschenftill In dem Wundergolf von Guayaquil. Sd) gitiere abfidjtlid) gerade biele offen. bar jüngere Strophe, werl bie Einlage bes weilt, wie lang bte ‘Freude an ber Häufung exotiiher Reimworte andauerte. Denn jchon Heine hatte hem Dichter des , 9 omenritts" bie „Barbarei beftändiger Janitſcharenmuſik“ vorgeworfen unb in „Atta Troll” feine Bes ihmadloligfeit parodiert, freilich zugleich aud) ben Begenjag ber ,Talente” zu den „Erinnerungen“ betont. Freiligrath, der bie bunten Reime felbft erft dem nicht minder oft barob verhdhnten Victor Fir abgejehen hatte, fteht als literarijcher Prügelknabe bet ben Barodilten jener Zeit fajt ohne Rontur: renz. Auch Gallet rief ja: Macht einer einmal einen feden Reim, . Nachahmer Freiligraths! ſchickt ihn heim! Co völlig Hatte fid) bie Vorjtelung von biejer Neuerung mit dem Namen bes weit: fälifchen Poeten verbunden ! o fehlt es denn aud) außerhalb des „Reierlajtens“ nicht an Freiligrath-Parodien. fBefonbers djarafterijtijd) fdeint mir eine ſolche, bie nod) Beute umläuft: Es Iebt in Ajien ber Chinefe, Es lebt in Afrita bas Gnu, Es lebt bie Milbe in bem Rafe — In meinem Herzen lebft nur Du! Das wisige Smpromptu fpielt ohne Zweifel mit „Freiligrathichen Reimen”, wofür ſchon bas Gnu aus dem ,Ldwenritt” (reimt auf „Karroo“ !) beweijend ijt. Zugleid) aber vers mute ich Sronifierung einer gang anderen Dich» terperjönlichteit, nämlich der SBlterreicherin Betty Paoli. Ihr Gedicht Heißt „Ergänzung“: Es gab der Bott, zu dem wir beten, Dem Leng der Blüten bunt Gewirr, Den Sonnen gab er die Planeten Und meine Seele gab er Dir. Er gab bem nadjtbebedten Meere Des Mondenftrahles lichte Zier, Dem dunfeln Grund bie goldne Ahre, Und Deine Liebe gab er mir! Sedenfalls ftectt hinter mandjem Bers, der heute als „reiner Unfinn“ gilt, eine pas rodiftiiche Abficht verjtedt. In unjeren Rom: mersbüchern ftehen bie lieblichen Berfe: Eine Wajfermaus und eine Kröte Bingen eines Abends fpate Einen fteilen Berg binan. Da jprad) bie Waffermaus zur Kröte: „Warum gebjt Du nod fo Ipäte Diefen fteilen Berg hinan?“ Shr Vorbild aber ift eine einjt berühmte abel Lichtwers: Bon dem Ufer eines Gee Krochen annod abends jpáte (fine Waffermaus unb Rröte An den Bergen in die Höh Die etwas gefudte Gegenüberftellung von fosmifdem und inbipibuellem Beji modte J Parodieftudien. RSSsesseesessess 205 ben Parodiften reizen, und er fam unwill: ar in bas Modeſchema ber Freiligra: iana. Allerdings, fo ficher wie die Beziehung auf Freiligrath ift bie oul die öfterreichifche Didterin nit. Und fo ijt denn aud in ben „Muſenklängen“ mandmal fraglich, ob reiner Hif vorliegt ober heitere Nachahmung. Cin Gedicht „Verrüdte Alzente” macht fi übet Wfzentverrenfungen [ujfig : Wenn id) zart bie Worte ftellte, Wenn id) [en Dich anládjelte, Schenkteſt Du fein Lächeln mir. Goll id) all den Schmerz Dir nennen, Wenn id) mit bem verlorenen Herzen ftand, o Weib, vor Dir? Das fonnte wohl auf irgendeinen befann: teren Stümper geben. Aber ganz diejelbe Form ber parobi[tijdjen Versverrückung ijt uns aus ber Jugend bes Dichters Mori artmann in einem erjt neuerdings veröffents lichten Scherzgedicht eines kritiſchen Freun—⸗ des erhalten, fo daß es fid) wohl um eine allgemeinere Gpielerei handeln mag, Die immerhin mit Emanuel Geibels ftrenger Erziehung aus metrijder Richtigkeit unter: irdiſch el Na Bedenklicher ijf ein anderer Fall. Wohl bas Tollfte in der ganzen Sammlung find die beiden Gedidte „An einen Schaufpieler” und ,9[n einen Tänzer“, aus deren frampf: n „göttlichen Unfinn“ (wie Gottfried eller 1851 etnmal an 9. Hetiner jid) aus« drüdt) id) nur folgende Proben heraushebe: Auch Geniiffe find verädhtlich, Der Vollgenuß nur ijt beträchtlich, Gefühl und Saite find Metall; ne war öfters Maler, us Formen werden dealer Und in dem Lichte wohnt der Schall... oder Bewahre fo die reine Geele, Und trinfe von bes Nachruhms Tau, Der Durft wohnt nicht nur im Kamele, Zur Nadıt find alle Ragen grau ... Das zweite Gedicht ijt offenbar felbft eine Kopie des erften. In biejem eriten aber geht die Kühnheit des „höheren Blödfinns“ an die Grenze des Erreichbaren. Ich babe früher einmal in einem Aufſatz „über bie Grenzen des Irrtums“ (in meiner Effay: Sammlung „Deutiche Charaktere”) bas Exs periment gemadt, felbjt in Strophen, wie bie oben zitierten, einigen Ginn nad)gumeijen oder vielmehr. die Möglichkeit einer Exegeje darzutun, die felbft in biele Verſe Sinn egt: jo unmöglich ijt bem Menjchen, bas abjolut Ginnlofe zu jagen! ch glaube aber, biejer Pirtuos bes Unfinns hatte nod) eine Stiige. Ic fürchte, er hatte die jafrilegiide Neben abjidt, eins ber tieffinnigiten Gedichte in deuticher © s zu verjpotten — fein ge: ringeres als Goethes „Eins und Alles”. Man [eje nur Strophen wie Diele: Im Grengenlofen fid) zu finden, Wird gern der einzelne verjdwinden, Da löſt fid) aller Überdruß. Statt heißem Wünjchen, wildem Wollen, Statt läft’gem Fordern, ftrengem Sollen, Cid) aufzugeben ijt Genuß. Mer verfenft (id) heute nicht völlig in den an jolcher Ne Aber als nod) ſelbſt ein SFr. Th. Viſcher den zweiten Teil des —— als ſinnloſe Künſtelei pers one durfte, mochten auch bieje ſchwierigen erfe übermütigen Hohn ees — und jo wäre denn ein ?Befenntnis, bas Goethe jelbft, freilich im ernfteften Ginn, in jeinem „Bermächtnis“ parodiert und wider: rufen Bat, von Parodijten zu reinem ler zerzaujt worden! Eine ernfte Vorlage jebe td) aud für bie viel feinere „Faldinella mistica“ voraus, die in elegildjem Ton gleich jinnfrete Rhythmen vorbringt: Das Herz, wohl tät es fid) Geniige, Mur daß es — Troſt vergaß, Vergaß in ſeiner Kinderwiege Bei Solothurn im grünen Gras. Und in der Sehnſucht ziehen Saiten, Im tauſendfarbigen Getön | Der Wellen, die vorübergleiten — Mod fab fein Auge fie fo fain. Wenn man bas recht gefühlvoll beffamiert, fann man wohl weidhherzigen Sjürern bie Träne ins Auge zaubern, bie fie vielleicht dem nachgeahmten Driginalgedicht (Qenaus ?) verjagen würden. Diefe Oberflächlichkeit des Hinhörens mit halbem Ohr al ya föftlich eine Ballade von Hieronymus Lorm, die auf dtefe Weile weniger gegen Unarten einzelner Dichter, als gegen joldhe bes Publifums gerichtet ijt; freilich aber geißelt fie zugleich aud) bie oblen Arrangements einer anfdauungslojen ersepif, wie fie in ber Bonn ber ſchlech⸗ ten Balladen graijterte. Injofern gehört fie mit den ,Berriidten Alzenten“ gujammen: wie dieſe gegen äußere, geht fte gegen innere „Schludrigkeit“ der Dilettanten und „Fami⸗ lienblattlyriker“ jener in Goldſchnitt gebuns denen Tage vor: Der Ritter ſprach zum een: Auf! fatt’le mir den 9tappen Drauf ritt er ins Getiimmel Der Schlacht auf feinem Schimmel. ei, wie er flog zum Tanze it Schwert und Schild und Lange, Er war der Feinde Cdjreden Auf feinem wilden Scheden. Da fdhwirrten bie mE — Der Ritter fant vom Rojje; Er fant zu aller Staunen Herab von feinem Braunen; — Beſah bie Todeswunde Und ED O RKunigunde, Sd) fterbe Deinethalben — Lag tot bet feinem Falben! Ridard M. Meyer: BSSssessssssesss erdinand Riirnberger, der „das leichte, ne Ihe Ding” ein ,fleines Meifterftüd von parodiftilcher Satire“ nennt (unb er lobte nicht zu leicht!), erzählt, wie bie „vaterlän- bilden Dichter“ F... und 98... (nad) ber Vermutung des Herausgebers von Kürnber: ers „Fünfzig Bann Frankl und eilen) bas Gedicht lafen und fich über jeine Leerheit wunderten: daß „Das Pferd in vier Strophen fünfmal die Farbe wedhjelt“, batten fie nicht bemerkt unb jo dies „Scherz- epigramm auf gedantenloje Reimjchmiede“ einfach für eine ernit gemeinte Ballade ges halten! Cin Beweis, wie rest Lorm und Kürnberger mit ihrer Meinung hatten, und au leid) eine 9Be|tárfung fiir uns, gelegent: v4 arodiſtiſche Abſicht aud) ba zu une, wo lie ih Au eigens ankündigt! aß eb viel häufiger umgefehrt in harmlojen robuften ſolche Abſicht gejucht wird, weiß id) wohl und habe es jelbit geltend gemadt. fiberbaupt aber ijt es ja natürlich, daß „interefjelojer” fibermut und parodiftifde Abſicht (td) Leicht berühren. Die Satire ge: rät in bas Fahrwaſſer harmlojen Scherzes, unb bie Ulfftimmung bemddtigt fid) irgend» eines Bildes, wie Studenten Stragen|dilder berunterreißen. — Dieje ous tritt denn aud) überall bei Dem König ber neue: ten Parodie hervor: bet Scheffels Freund Ludwig Eichrodt. Er veröffentlichte (1853) unter bem Namen Rudolf Root „Gedichte in allerlei Humoren“, bie in bem Verfaſſer des „Hortus deliciarum“ eine angeborene Begabung für dies ne offenbart. Geine Parodie tjt wieder wirfli tritijd), wie die Sdlegels und Tieds; ie zwingt jeder unedjte Ton, jede in Selbſt—⸗ opien untergehende Manier, jede aufdring- liche Tendenz zu überbietender Nachahmung. ,Simarantb" von Redwik und Hoffmanns von Sallersleben ,linpolitijde Gedichte” — bie gejuchte Süßlichkeit hier wie bte bequeme Derbheit ba müjjen auf den Mtofterftubl. Revolutionspoejie und Beibeljche Hofdichtung, Saphirihe Wie und Lenaufches Pathos — alles muB heran, in der Einheit von Form und Inhalt getroffen. Auch an die GróBten wagt er fih: nicht nur an Heine, bejfem Rhythmus und defjen Zynismus feit W. Neus mann oft nachgebildet wurden (aud) von Theodor Mommfen im „Liederbuch dreier Freunde”), fonbern aid) an die diijtere Größe der Annette v. Drofte. Es ijt der erfte ans ndbernd pollitánbige Verſuch, die Literatur der Gegenwart im Zerripiegel wiedergu:- geben, wie un Ipäter Fritz Mauthner, Hans pn. Gumppenberg und andere wiederholt has ben. Go fließt er feine Nachahmung Herweghs: Nie blüht der el Leng aus Trifoloren, Millionen Oriflammen braudt der Lenz; Sd aber prebigte nur tauben Ohren, Und eine Metze ward die Konjequenz. Der Weile geht mit trauernden Standarten Auf ftilles Gilanb fern im Meer, Des Herzens Frühling mag allein er warten, ESOSSVSSesoecsseessa”l Parodieftudien. Und ber Entfagung rettende &ofarben Stectt er fid) auf und lieft Homer. Dod) vielleiht find unfere Zeitgenoffen den „Liedern eines Lebendigen” jchon zu jebr entfremdet, um die Meilterfchaft zu würdi⸗ gen, mit der hier Herweghs Rhetorik, fein eigentümlicher Beriodenbau, feine literarifchen etaphern („der Cntjagung rettenbe Kos farden“) unb fein hochmütiger Ton getroffen (inb. Aber Beibel Iielt man nod) heute und fann bieje Probe „aus bem Handbuch ber Riebeleien und Geibeleten^ würdigen: Wenn Külfe flüftern durch die Nacht Mit e id) füBem Wehn, Und Sterne ftill in Gilbertradt Dur ihren Himmel gehn, . So ruf ich, ſchlafet wohl, jawohl! In Rub, Die lieben —— zu, Die Engel Go ee Cud, u Wet weinen fann, dem ijt jo wohl, Gebenedeit i ber, Vom Diinenjand bis nad) Tirol Und wieder bis ans Meer. Aud er Start wohl, wie Ihr, jawohl! n Rub, Die lieben Auglein gu, Die Engel Gottes hüten Euch, Lulu! Man mußte ben verftorbenen Alexander Meyer diefe Perlen vortragen hören, um lie in ihrem vollen Glange zu erfajjen. Und fie verdienen einen Vortrag, wie ber unver: pep Mann fie ihnen angedeihen ließ, in dem feine Bildung und volfstiimlides Bes gegen jid), wie bei Eichrodt jelbit, einten. ier haben wir we bie fongeniale Pa: tobie, erwadjen aus dem Geiſt der Kritik — aber aud) bes Verſtändniſſes; ja nicht ohne jene Liebe zum Opfer, bie wir den Romantifern abipradjen. Und dieje Eigen- idaften erreichen ihren Gipfel in Eichrodts unvergleidliden „Literaturballaden“, Die wieder mehr bem Publiftum gelten als bem Dichter — einem Publifum, bas in philiftrö- fem Anftaunen das lebendige Mitfühlen mit den Großen verlernt Bat; einem Publikum von Frömmlern, nicht von Frommen unjerer un Co mag [id in Gebirnen, bie burd) Nachbeten von Zitaten abgeltumpft find, bas Bild unjerer Großen malen: Gegen Abend in ber Abendröte, — von der Menſchen rohem Schwarme, andelten der Schiller und der Goethe Oft ſpazieren Arm in Arm. Sie betrachteten die ſchöne Landſchaft, Drückten ſich die großen edlen Händ', Glücklich im Gefühl der Wahlverwandtſchaft, Unterhielten ſie ſich exzellent. Dieſer war ſchon etwas grau von Haaren, Jener zwar nicht weit vom frühen Grab, Aber grad' in ſeinen beſten Jahren Als ein Dichter und getreuer Schwab. ESSSSSSSAGSSSSM 207 Keiner tät dem andern was verhehlen, Sie vertauſchten ihre Lorbeerkränz', Und die wunderſchöne Harmonie der Seelen Trübte nicht der Wahn der Konvenienz. Sehen Sie, ſo redete der Goethe, Dort die ſchönen Pflanzen in dem Gras, enes Steingebilde, Diele Kröte, ort den Schmetterling und dies und bas. Und die Sonn’, erwiderte verwundert Drauf der Schiller, re Cie, o Freund, Eben, Jeon Ste, seht ie eben unter, Go hab’ icy’s im Rauber Moor gemeint. Unter ua göttlichen Beiprächen, Schritten bie verflárten Dichter oft. Auf bes Waldes unbetretnen Hagen, Bis es dunfel wurde, unverhofft. Und bie weltberühmtelten ber Berje Machten miteinander unterwegs, Co der Dichter Tells und ber bes Sterje, Eingedent des großen KRünftlerzweds. Die Zeit, in ber ein rein dilettantijdes Verſemachen einerfeits unb ein in Routine erjtarrendes Birtuofentum anberleits unjere Lyrif unb fait unjere on beherrſchten, in der aber auch ſchon die ſteptiſche Kritik ſich zu regen begann, dieſe Zeit J. V. Scheffels in Eichrodts Parodien ihr nicht nur iterarhiſtoriſch, ſondern auch kulturhiſtoriſch merkwürdiges Denkmal hinterlaſſen. Gleiche Bedeutung tann keiner ſeiner Nachfolger be— anſpruchen; doch ſind unter ihnen noch manche Virtuoſen der Formnachahmung und einige mimiſche Herzenskinder. Gerade aber eine Geſtalt wie Eichrodt fordert die Frage heraus, ob durch ſolches „Nachäffen“ nicht der Ehrfurcht vor den Großen zu nahe getreten werde. Mit der Antwort, daß es ſich zumeiſt nicht um die Größten handle, ijt es nicht getan — einfach, weil fie der Wirklichkeit nicht entjpricht. Die originellften Neuerer, bie eindrudspolliten Meiſter find ja gerade bie Lieblinge der Parodiften. Und gwar ber Parodiften in allen Jtuancen: von der unbewußten zu der dispersi Seta gibt es vielerlei Gdjattie: rungen. ilbelm Hauff hatte einen Roman im Stil des berüchtigten Clauren gejchrieben; auf Wolfgang Vtenzels Rat arbeitete er ihn in eine Parodie („Der Dann im Monde“) um. Willibald Wlexis hatte einer Wette genügt, ein von ihm gelchriebener Roman („Walladmor“) werde für ein Wert Walter Scotts gehalten werden; als er dann aber das Kunſtſtück wiederholte („Schloß Avalun“), inb er in bie Parodie bes „jchottiichen auberers” hinein. Wenn nun gar unfabige igonen in Schillers Jamben)pradye ober Goethes Kunftproja ihre eigene Diirftigfert verhüllen, jo hat man oft den Eindrud der ironilden Uberbietung oder Nachahmung; ja jelbjt Barnhagens „Goethilches —8 wirkt zuweilen ſo. Und manchmal vermag eine —* gutgemeinte Kopie uns die Schwächen des bewunderten Vorbildes greller zu beleuchten, als eine kunſtvolle Parodie. 908 Bessssessssq Richard M. Meyer: Parodieftudien. : Wie oft aber zweigt aud) eine foldje an einem lauten Zn das wir uns erft um Schillers willen verbeißen möchten? Es ift aljo nichts mit Mtirza Schaffys billigem Troft: Der Spötter Wik fann nichts verächtlich machen, Was felber nicht veradhtlid ijt. Ich bin allerdings der Überzeugung, daß Fr. Th. Vilchers dritter Teil des ,tyauft^ trob allen gegenteiligen Beteuerungen zu wenig von der Ehrfurcht belit, bie wir bem Großen ſchulden, aud) wo wir zu feinem Berftändnis n nicht gereift find; unb nicht minder bin id) der Meinung, daß bas Gchriftchen dem Anfehen Goethes in Deutfchland, bem Wer: (tánbnis feiner Lebenswerfe, dem Durch» dringen reblidjer unb tüchtiger Arbeit zur Erflarung des „Fauft“ wefentlid) gejchadet - bat. — Oder wer fann jid) gar ber vielen sem Karikaturen freuen, mit denen nicht etwa die Auswüchje bes Wagnerfultus, aud) nicht bie Schwächen bes Metiters felbjt oder feines Wertes, jondern irgendweldye belang: lofe Außerlichteit nachgemadht wurde? Oder aud) der abgeihmadten Wikden, bie an Stefan Georges Poeſie vorbeiichießend feine Interpunttion lächerlich zu machen ſuchen? Nein, es gibt fchlechte, ſchädliche, törichte Parodien gerade gegenüber den Grogen; wos gegen irgendein mittlerer Poet nur geehrt wird, wenn Cidrodt, Mauthner ober tm Ausland etwa die Brüder Smith, Bret Harte, Bayard Taylor fein Bild in ihre Galerie von Ctrobfrángen ons Trokdem bin id) ber Meinung, daß eine Parodie, bie den Kern trifft, nie ganz zu verachten ift, und daß eine folde, wenn fie mit QGeijt und eal e eit aud) Jelbjt gegen einen oetbe, Schiller, Heine gerichtet ijt, mehr Wert hat als bie gahme und Außerlidhe Rarifatur einer ZagesgrüBe. Cine Parodie hat Be: deutung nur wenn fie fdarf ift. Dann fann fie ergteblid) wirfen, auf bie Dichter felbft und aud) auf ihre Lefer. Denn wenn wir aud) auf jene beiden Richtungen hinweilen, die Parodie der Jungen und die der Alten, jo ijt bieje lebtere bod) immer ftarfer ver: treten. Bor allem bei uns aber, wo bie Originalitatsjudt zum Gdjaden ber fünft: ferifhen Tradition iibermadtig entwidelt iit, fann bie fonjerpative Funltion einer Hug beobadtenden Parodie nur nüßlich fein. Goethe hat wirklich gelernt, daß beim „Götz“ ihn „Shakeſpeare De verdorben hatte“; eine t/t von dem Mißbrauch der Traum: ilder im „Buch der Lieder” zurüdgelommen — bie Parodiften, bie bie Übertreibungen neuer Tendenzen feftnagelten, find im Redt geblteben. Uber bie Schärfe der Parodie verträgt fid) mit Wohlwollen. Es gilt aud) bier, die Sünde auszurotten, nicht die Sünder. Nicht in den Zeiten, in denen Liscov die Philippi und Sievers bis in ben Tod CES iit bie Kunſtform ber Parodie zur höchſten Blüte gelangt; unb jelbit die &otebue unb Diertel, BSSeseessesd obwohl wirklich elende Gefellen, wären viel: leicht sled He betämpft worden, wenn die Schlegel jid) fachlicher gehalten hätten. Die neuere Parodie vermeidet über: wiegend bas Perjinlide. Zwar im higigiten Kampf um bie neue Oper oder bas neue Drama ijt nidjt nur 9tidjatb Wagners ftart hervortretende Perſönlichkeit in bte literari: iden von hineingezogen worden, fondern aud) die viel weniger herausfordernden Ibſens und Hauptmanns. Auch konnte die parodiftiiche Überproduktion unjerer Wit: blätter nicht ohne grobe Übergriffe bleiben. Im ganzen jedoch blieb bas Formalprinzip der rechten Barodie gemabit: den Künſtler nur in jeinen Rundgebungen zu treffen. Co in einer feinen fleinen Sammlung „Blüten aus bem Treibhauje der Lyrik“ (dritte Auflage 1882), die tein Geringerer als Max Klinger illuftriert hat. Gite nimmt bes londers Die gedantenlojfe „Cliches Dichtung” aufs Korn, nachgeleierte Heinefopien, äußer⸗ lider Lärm patriotijder Poefie, platte — Daneben wendet ſie ich gegen die Ausländerei mit einigen glück⸗ lichen Proben anges ſerbiſcher, perfiicher, chineſiſcher ?Bolfsbidjtung und einem prad): tigen Bret Harte eigener Mache, ber bte effettvollen Geelenfontrajte ber falifornijden Übenteurer und ihres Dichters gewaltjam jentimentalen Vortrag gut illujtriert: „KRaliforniiches Nachtſtück.“ (Sm tugendhaften Raubertone.) Wir fien. ber &ut|d) am Waldesjaum -Und |pielten Monte unterm Fichtenbaum, Der Stunden trägen — zu fördern; Ich, Higgins, der die Bank erbrach bei Nacht, Bil Taylor, der viel Farmer umgebracht, Nebit jechs bis fieben andern Mördern. pest Seiten Geant the ihe Cie rollt heran. ie Büchlen hoch! Ein jeder feinen Dann! Der Mond bricht durd. — Drauf ohne Säumen! — Damnation! — Nicht ein einzig Stüd Gepad! Drin alles Ieer, und nur in einer Ed’ Ein Mütterlein in fanften Träumen!” Da ſchmolz bie Krufte vom Verbrecherherz; Die Büchje ſank. Wir ſchlichen heimatwärts; Gebroden war der fiind ge Wille. „Auf morgen, Burfdje; heute laßt es fein!” — Und wantten trüben Muts zur Scyenf’ hinein Und tranfen Grog und wernten |tille. In Diejer Epoche ijt es eine belonbers bes liebte Übung, ein berühmtes Gedidt in eine anze Reihe von Stilen zu übertragen: Der S anbidub in dreizehn — (1881), Va⸗ riationen über bas Thema „Laura am Kla— vier“ in zwölf Dichtercharakteren (1883), Der Kampf mit dem Trachen nach Schiller von Platen, W. Buſch u. a. mt. amals hatte Siegfried Ochs, der Schöpfer und Leiter des Philharmoniſchen Chors in Berlin, bas Boltslied ,Rommt ein Bogel geflogen“ in die Manier en &omponilten trans: poniert. Ebenio wird bier bie Schillerſche Das tapfere Schneiderlein. Skulptur von Philipp Rittler. PSSSS SS SSS SS SS SS SSIS IS SL IV SS SLI Sugendlyrif etwa in Julius Wolffs Art tojtümiert: Nun 5eiBt es fid) tummeln, ibr jáumigen Leut' Ihr Taſten, die hölzern und beinern! Da träumt ihr und ſchlummert, ſo morgen wie heut, Als wolltet ihr ſchier noch verſteinern. Nun heißt es gehupfet, Getanzt und geſchlupfet, Denn Laura, die jungfriſche Maide, Cie kehrt zu der Töne Gejaide... Schon daß EN Parodiften fajt nur nod Lyrika bringen, ijt bezeichnend; und bezeid)- nenb iff denn aud) für ben Umſchwung im Ge[djmtad ber £ejewelt, daß die erfolgreichite arodienfammlung unjerer Zeit vor allem roja bringt : Fri Mauthners „Parodiſtiſche tubien," „Nach berühmten Mujtern“(1.1878). Cs iit ein Meifterwert. Auerbachs behäbige Lehrhaftigtett und Spielhagens rhetorilche 9tufgeregtbeit, Franzos' tendengidje Gentis mentalität und Schefels bequeme Berstunft, Hans Hopfens bajuvarijde Kraftmeierei und inbaus Ddreijtes Witeln find da erfaßt, wo i: in ber Form ihren innerlich notwendigen usdrud finden. Unvergeßlich find Anmers fungen wie bie zu Gbers „Blaubeeren⸗-Iſis“: „Die Exiftenz von Kindern im alten Ägypten u bejtreiten, fann nad) den eingehenden orjdungen von Champollion und Lepfius nur eingefleijchten Gfeptifern einfallen. Schon die Auffindung zahlreicher Kindermumien iit für mid) beweistráftig.^ Rann überflüffige Gelehrttuerei, am faljden Ort nod) dazu, beffer ad absurdum geführt werden? Oder der Anfang des , Peters von GCáffingen": „tober war’s und gutes Weinjahr.. .” Hier ift bie Politik wirklich „produktive Kritit“ unb literarhiſtoriſch ganz unmittels bar wertvoll; und die Polemik hat, wie bei selling, Schlegel, Heine, an fid) künſtleriſchen ert! galt nur nad) ben berühmten Mtuftern von VPtauthners „Berühmten Mujtern“ find einige |pätere Sammlungen geformt, bie aber wieder zu den Gedidjten zurüdgreifen. Die wißigite iit Hans v. Gumppenbergs „Deutiches Didjterrog, in allen Gangarten eingeritten“ (1901), bas von Eichendorff bis Hermann Bahr allerlei Phyfiognomien zeigt. Fr. Otto: Nacht. Be II I 3323] 209 Die Wiefe. Verſchleiert fid) bie Ferne Am grünen Wiejenplan, Dann [dau ich mir fo gerne Die lieben Berge an. Wohl manchmal bin id) fröhlid), Dod) traurig bleibt mein Sinn, Und immer wieder ſtehl' id) Mich auf bie Wieje hin. Martin Greif. Frühling. Seht Ihr den Frühling feine Rader jchlagen Im goldgeftidten, wundergrünen Flaus? Nun ift’s zu Ende mit den grauen Tagen, Und was nur Beine hat, das läuft heraus. Die Heinen Kinder gehen Kätzchen fangen, Die größern fpielen lachend unterm Tor, Und jelbit ber Negiltrator fommt gegangen, Und gudt bedddtig in bie Sonne vor. Backfiſchchen tidern im Worübergleiten, Und jede glüht wie eine junge No’: | Kußhändchen regnet’s jet von allen Seiten — Herr Bott von Bentheim, ift die Welt famos! Mad Carl Buffe. Man wird nicht verfennen, daß eine ge: wiffe Berfladung der Parodie ſchon bier vorliegt. Nur aus den ftiliftiihen Eigen» heiten der Autoren find, allerdings mit viel Geift, bie Konfequenzen gezogen; bas innere Leben eines Paul Henje oder Martin Greif berühren bieje mimtjden Gaben (oder bie in Chr. Morgenfterns „Balgenliedern“) nicht. Wieder find wir in der Birtuofität bes 9tadjabmens, 9tadjmadjens, Nachäffens fo weit, daß es gar nichts mehr zu [agen pat, wenn ein Dichter parodiert wird. “Die ugen find gejchärft, die Finger im Ted): nifdyen geidjuít; ba fommen bald „Atelier: bilder” aujtanbe und bald Karikaturen. (Cie wirfen nicht mehr; fie erziehen nicht mehr; fie haben bódjitens nod) literarhiftorijche Be: deutung. Es gibt feine Poelie mehr, bie enügend zum Widerſpruch aufregt; es gibt aum nod) eine folche, die thre Verehrer zu leidenfchaftlicdem Haß gegen Andersgläubige begeijtert. Das Parodieren iit faft jo leicht geworden wie das Dichten. Der gegenwdr: tige Verbrauch von Parodten bemweilt nur, daß fie überflüflig find, wie geldjidte Nach: ahmungen allezeit. Und fo ijt bie Bejchichte ber deutjchen Barodie auch zur Beurteilung unlerer Zeit nicht ohne Bedeutung! Nad Nacht. Von Friedrich Otto. Der 9tadjtminb, der vorüberweht, Geht wie bas Atembolen Der Welt, die nun in Sternen fteht. — Dir hab’ ich mid) befohlen! — a] 9tur ein In biejem Frieden nimm mid hin, Golft mir bie Arme breiten, Bis id) vergeffen, daß id) bin, Daß meine Stunden gleiten. 8g Schatten ftetgen an ben Wegen über Flug und Hain, u icht zieht auf dem Waſſer, und dann ſchläft es ein. sabe Du fdon die Schatten, bap Dein Herz fo ebt, agen nddt’ge Stimmen Dir: Du haft gelebt? Velhagen & Rlafings Mtonatshefte. XXIV. Jahrg. 19091910. II. Bd. 14 t3 Einladung zu einem Balle bes Regatta: Klubs. Karte von F. Bartologgt vom Sabre 1775. Griffelfiinjtler im Dienjte der Ge]elligteit. Bon Walter von Zur Weiten. aves \efanntlid) find heute Theoretifer Zags und Praftifer eifrig bemüht, die DES) Kunſt in möglichjt ausgedehnten Trew) Mtake in ben Dienft bes Lebens gu ftellen, dahin zu wirfen, daß die Dinge des täglichen Gebrauchs durch Fünftlerijche Form veredelt werden. Bon biejen Be: itrebungen find unjere graphilchen Bedarfs: artifel bisher nur wenig berührt worden, und bod) wäre gerade hier bie Löſung ber Aufgabe verhältnismäßig einfach; fónnen fie Dod) reichen Schmud ohne Beeinträc): tigung ihres Gebrauchszweds aufnehmen. Und wahrhaftig: fünjtlerijd)e Veredelung tite ihnen not! Wie unfäglich nüchtern und langweilig find unjere Bejudsfarten, find die Einladungen, bie uns zu heiteren Feſten entbieten, [inb bie Anzeigen, Die uns von frohen und traurigen Greigni|]en in befreundeten Familien unterrichten! Wie funjt- und ideenarm find aud) meijt die Karten, Durch bie wir unjeren Freun— den unjere Glückwünſche zum neuen Jahre E iibermitteln, find bie Speiſefolgen unb Tijch: farten, mit denen wir Felttafeln in recht fragwürdiger Weile ſchmücken! Gewiß find wir in allen Dingen bes Komforts, der Eleganz unjeren bejcheide: neren Voreltern aus ben Tagen bes Zopfes, des Empires, der Biedermeierei weit vor: angefommen, aber in ber finnigen, ge: \hmadvollen YAusjtattung ihrer graphijchen Bedarfsartifel waren fie uns zweifellos erheblich überlegen. Wenn jene Zeit, wie man jebr hübjch gejagt hat, in allem Gro: Ben flein, dafür aber in allem Kleinen groß war, jo zeigt itd) das nirgends deutlicher als in der erfindungsreichen Schöpfung diejer graphijchen Niedlichleiten, an denen man damals offenbar große Freude hatte. Man betrachte beijpielsweije eine Wn- zahl von Bejuchsfarten aus jenen Tagen — . weld) einen Gegenjat zu der heutigen öden Bleichförmigfeit bieten bieje hübjchen klei— nen Kupfer! Die Bejuchsfarte ijt ein Kind bes Rofofo, fie ijt in Frankreich ent[tan: (ERR -4] 2B. v. Zur Welten: Griffeltünftler im Dienjte der Ge] Ld S- FES P | r o, = — Speijelarte von Th. Hofemann vom Jahre 1853 3 Riinjtlervereins. E mr = Gtiftungsfelt bes — — | elligteit. IBSed 211 bann bem Empfänger feiner — 3Bejudjstarte nicht Durch deren Darjtelung deutlich machen, wes Geiltes Kind man fei, ihm gleichſam ein grapht- ches Charafterbild in die Hand geben? Co zeigte man durch bie Darjtellung berühm: ter antifer Gebäude und Statuen, dak man feinen Windelmann unb Leffing mit Nutzen gelejen und fid) einen geläuterten klaſſiſchen Geſchmack anergogen habe, jo gab man durch einjame Wald: landjchaften mit mur: melnben Bächen und moosbewadjenen ben, wohl im Zufammenhang mit den zere: | Steinen zu verjtehen, daß man mit moniellen Neujahrsbejuchen, bei denen der Bejucher froh war, wenn er verjchlofjene Türen fand. Satirifche Leute machten id) damals über bie neue Mode weidlich luftig, aber die Bejuchsfarte hatte [o viele zweifelloje praftijdje Vorzüge, dak [ie durch alle über fie gemachten Scherze nicht wieder verdrängt werden fonnte; fie blieb in ber Mode, und etwa feit 1760 ging man daran, fie möglichſt Dübjd) und mannig: faltig zu deforieren. Mit einer Bordiire in flajjijder Ornamentif begnügten jid) verhältnismäßig wenige; die große Mehr: zahl wollte Bildchen auf ihren Bejuchs: farten haben. Da fieht man die Gala: fut|dje, in der bie Kartenbejigerin ihre Vilitentour erledigt, voran der Laufer mit der Bejudsfarte in der Hand; da fieht man Stilleben aus allen möglichen auf Beruf oder Liebhabereien beutenben Dingen, ba fiebt man Porträts, fieht man Venus und Minerva, Genien, Mtujen, Grazien und Amoretten. Viele benubten thre Bejuchs: farten [ogar zu Befenntnijjen über ihre Empfindungen und Anjchauungen. Das ijt nicht fo wunderbar, wie es im erjten Augenblid erjcheint. Wenn man, wie es damals [o viele taten, gelegentlichen Be: fannten in überjchwenglichen Briefen fein volles Herz ausjchüttete, warum jollte man Bejudstarte für (9. Schadow mit defien Bildnis; Bejudstarte für Frau Shadow. Bon Fr. Bolt. 14* 212 Walter von Zur Welten: RBRBRARXASSSSSSSA Rouffeau für die unberührte Natur Ichwärme und da am liebiten weile, wo der Menjd nod) nicht hingefommen fei mit feiner Qual. Fühlte man fid aber mit Werther von ber Menjchheit gahgem Jam: mer angefapt, jo brüdte man'fetne welt: Ihmerzliche Stimmung aus, indem man feinen Namen auf einem Grabjtein oder einer Urne anbringen ließ; Trauerweiden neigten fid) auf das Monument, und ein Genius mit gejenfter Fadel ftand daneben. Und joldje Bejuchsfarten brauchten nicht nur ſchmachtende Badfilche weiblichen und männlichen Geſchlechts, fondern hohe HoF: beamte und Diplomaten! Gewiß jteht bas zu unſerer Empfindungsweife in ſchärfſtem Gegenja5, aber um jo charakteriſtiſcher find bieje Blättchen für ihre Entitehungsgeit. uch fünjtlerijd) find fie zum Teil von hohem Reiz. Wie prächtig find nicht bie Karten, die der Berliner Stecher Bolt dem Bildhauer Gottfried Schadow unb jeiner Gattin ſchuf. Biel Gr. 19. v. i m Pal. fe fet aci 3. Ag. € Si €. tf. M fe -- Se. U e 3a guo y- EAE BMG CARE & — Sünftlerfefttarte von Gottfr. Shadow vom Jahre 1532. Gr6. Cr 19. 31. G^ (à por a psalm ag ı wh. | 2 p"... on: - Kes fi £7. ea. | A me! 0 wif? esos Überhaupt wurden gelegentlich bie eriten Kräfte mit einem foldjen Auftrag bedacht und ließen fid) ihre Arbeit dann natürlich tüchtig bezahlen. So hat Bartolozzi, der englijdje Modeqraphifer, für [eine Bejuchs: farte der Lady Beßborough zwanzig Pfund Sterling befommen, für die damalige Zeit gewiß ein jchönes Stüd Geld. Deutfche Stecher waren befcheidener; immerhin willen wir, bap 3.8. Chodowiecki jid) fein Exlibris für den Schweizer Arzt Schinz mit jechs Friedrichsdors bezahlen ließ; weniger würde er für eine Bejuchstarte natürlid) auch nicht genommen haben. Mer nicht fovtel Geld dafür ausgeben wollte, ging aum Papierhändler und faujte fid) Rartenblanfetts mit ähnlichen Dar: itellungen, wie bie gejchilderten, und fügte feinen Namen durd) Schrift ober Drud ein. — Natürlich) benugte man folde Befuchs: farten auch zu Gliidwiinjfden. Was lag näher, als zu biejent Zwede bejondere Karten mit Bild- den herzuftellen, bie auf diefe Aufgabe hindeuteten ? Co entwidelt ſich etwa [eit 1780 eine Wunjchlarten: induftrie, deren Mittelpunft Mien bildet. Man erneuerte Dadurd), unbewuft natiir- lid), eine Gitte, bie ſchon im XV. Jahrhundert in Deutfchland geblüht hatte. Damals overjdentte man meilt Darjtellungen des Chriftfindleins mit der Bei- ſchrift: Ein gut felig Jahr. Jet war man weltlicher und mannigfaltiger. Uner: \höpflich war man im Aus: benfen geeigneter Vorwürfe, unerſchöpflich aud) im Er: finden technifcher Kunſtſtücke. Man madte Wufflappfarten, Biehfarten, Transparent: farten, Die man gegen das Licht halten follte, (injted: farten und vor allem Sebel: gugtarten, deren Figürchen ; bie jchwierigften 3Bemegun- aen ausführten, fid) zierlich verneigten, aus Körben und Käſten Gaben unb Wünfche uam md %. — im —— der aes | 213 A oy ss e ; x | = = ae * con ee LASER TFeltlarte von H. Scherenberg für ben Berein Berliner Künjtler im Jahre 1862. "m hervorholten ober jid) [|ogar füften. Gang hat. Höchſt charakteriſtiſch für bie Zeit allerliebft find dieje Heinen Kunjtwerfe der unb teilweije höchſt amiijant [inb bie beige: Papierindujtrie, an denen Jelb|t ein Goethe jebten Berje, in denen Eltern, Gefdwifter, feine helle Syreube gehabt hat, ber er in Freunde, ja jelbjt die Schwiegermütter in einem Brief lebhaften Ausdrucd gegeben meijtüberjchwenglichen Worten angejungen 214 EESSSTSSIERETN Walter von Zur Wejten: — — —ö werden. Nur ein Bei— ſpiel: Sage Iden? teles Fien Menn’s picid aud) nichts Bejondres hat, Denn es ijt Dir zu wohlbefannt, Was ftets mein Herz ME Did) em Leb’ immer glüdlich, liebe mid), Ich bleibe unveränder: lich ! Gemeint ijt natürlich, jo ‚unveränderlich‘, wie 3. B. Goethe feinen ver|d)iebenen Freundinnen gegenüber war. Auch der Humor ijt vertreten — ein Hu- mor, ber nichts mit den rohen Wißeleien gemein hat, bie man heute zur Neujahrs: zeit in Papier: und Bigarrengejchäften ausgelegt findet. Hidjtens gejtattete man iid) eine bejcheidene Pifanterie, wie die folgende: Gefüpt von einem ſchönen Kinde, Schlaf Du an jedem Abend ein, Das füjjen ijt ja feine Sünde, Es ijt nod) ſüßer als ber Wein. Ein Ruß [pabt neue Lebensfunfen, Dod) wird man aud) vom Küjjen trunten, Und jo ein 3taujd) joll mehr als Wein Bon großer übler Folge fern. Much damals gab es manchen Realijten, der, ber allgemeinen ZBeitjtrömung zum E) $jodjseitsfarte von D. Chodowiecti. Trok, höchſt materielle Wünſche äußerte, wie ber durch Jeine Borliebe für das Nach: druden erfolgreicher Bücher unrübmlid) befannte Berliner Verleger Himburg, der zur Jahrhundertwende feinen Freunden unb Befannten lediglich „guten Appetit unb guten Schlaf“ wünjchte. Dieje Karte hat er freilich nicht gefaujt, jondern fid) eigens [tedjen lajjen, ein Braud), der ſonſt nur in ſüddeutſchen Künftlerfreijen, bejon: ders in Nürnberg blübte. Künftlerijch ftehen bieje Blätter meijt erheblich höher als die Erzeugnijje der Karteninduftrie. Allerliebit find 3.8. die Kärtchen, die der wadere Johann Adam Klein alljábrlid) verjandte, und auf denen natürlich feine geliebten Pferde und Hunde eine bedeu- tende Rolle |pielen. — Um 1830 voll: Vorderfeite ber Feitlarte von Adolf von Menzel zur Feier im Berliner Rathaus für die heimfehrenden Krieger am 22. September 1856. Mit Genehmigung von %. Brudmann U.: . in München. Griffelfiinftler im Dienjte ber Gejelligteit. [2«2«2«2«3«2«23]. 215 zieht fic) ziemlich unvermittelt der Nieder: gang ber Wunjchfarte, nachdem die befo: rierte Bejuchsfarte jchon [eit etwa 1820 von der einfachen Schriftfarte verdrängt war. Freilich entjtanden in den dreißiger Jahren nod) die famofen JBunjdjfarten für verjchtedene Berufsjtände, die der junge Menzel ums liebe Brot für ben Sachſeſchen Runjtverlag zeichnete, und bie mit ihren Verulfungen des Beglüdwünjchten ein intereffantes Berliner Gegenjtüd zu der jentimentalen Äberjchwenglichfeit der Wie: ner Wunjchlarten bilden. Aber ber Ver: fall jchritt unaufhaltjam weiter, und nod) TP | Real Turtle |) 2. Austern 3. Quartier de boeuf a l'historique junge Puten a la finangiere . Rhein Lachs a la Genevoise. Hummer a la provengale . Cotelettes von Frischlingen a la Cumberland À . Pchoten. Stangenspargel Rehzimmer Salat Fasan Eis in Fruchten, Compore melde. (| * Co. die der Feltlarte von Adolf von Menzel zur Feier im Berliner Rathaus für bie Deimfebrenben Krieger am 22. September 1866. Mit Genehmigung von F. Brudmann heute warten wir vergebens auf eine fünjt: leriiche Wiedergeburt ber Wunjchkarte. Wer hat nicht ſchon einmal verjucht, zum Jahreswechjel ein paar Wunjchfarten zu erjtehen, die finnig erdadjt und fünjt lerijd) gut fein follten? Berjucht — um immer aufs neue eine arge Enttäufchung zu erleben. Was man in den Papier: geſchäften vorlegt, ijt ficherlich zum aller: größten Teile jüßlich, unfünjtlerijcb, ja ge: radezu gejchmadlos. Aber auch die beiten und fojtijptelig|ten Blätter find meijtens erftaunlid) armjelig in der Erfindung, zeigen oft eine Landſchaft, eine Genrejzene, id M — WO lm) wy iac T St. Perray m mousseux. / é die mit Dem Zwed der Karte in gar feinem Zujammenhang fteht. Immerhin — eine gute Wirkung hat biejer bedauerliche Zu: ftand bod) gehabt. Verſchiedene Künitler und Runjtfreunde haben fich eigene Wunſch— farten hergejtellt oder herjtellen laſſen, an denen man feine helle Freude haben muß. Da fieht man Gratulanten der verjchie: benjten Art, würdige Dorfjchulgzen, grotesfe Neger, fieht man Gnomen, bie auf einem Bigeunerwagen eine Fülle quter Gaben zum Ausjuchen für ben Beglüdwünjchten berbeijchaffen und vieles andere mehr. Bejonders häufig wird natürlich das Scharlachberger. Margaux Durfort. 62° Johannisberger Schlofs. ] 58*' Chateau Lafitte. Scharlachberger. ^7» Margaux Durfort Crampagnes (Lambry & Geldermann) .:®. in Münden. neue Jahr [ymbolijiert, über defjen Alter unb Geſchlecht die Künftler mertwürdig uneinig find. Die einen ftellen es als Baby in der Wiege dar, andere als einen fleinen Jungen, der jchon Chronos ent: gegenlaufen fann, um die Sanduhr in Empfang zu nehmen. Wieder andere als erwachjenes junges Mädchen, das von Chronos entjchleiert wird ober aus Dunſt und Nebel urplóblid) emportaudt. Cs ijt Schwer zu begreifen, daß bieje Riinjtler, die für ihren privaten (Sebraud) jo Reizen: des Ichaffen, von ber Papierinduftrie gar nicht herangezogen werden. Angeblich) Walter von Zur Welten: [BSESsSsesesssssssA Glidwunjdtarte von A. Kolb vom Jahre 1906. 5m Jol bas Publifum für fünftlerifche Graeug: nifje nicht bas nötige Verjtändnis haben. chen eines tráumerijdjen jungen Mädchens in Biedermeiergejchmad als 3Bejudjsfarte Das fommt aber bod) wohl erit auf einen Ber: jud) an! Kürzlich Hat man fic) daran gemacht, durch cin reich Ddotier: tes — 9Breisaus: |d)reiben bie fünjtlerijch befo- rierte Bejuchs: farte wieder ins Leben zu rufen, A )& BVEHNE abgeben, wie es 3.8. Vogeler ber Herzogin Io: Dann Georg von Sachjen zumuten will, oder wer möchte Herrn X unb 9) bei einer gelegentlichen Vorjtellung an ber Table d’hote in feiner arte gleid) ein Cha: rafterbild in leider mit jehr graphiſcher geringem prafti- Form überrei— ſchen Erfolge. chen? Ich glaube Gewiß war vom rein künſteriſchen Standpunkt manches hübſche Blatt unter den eingelaufenen Arbeiten, aber wer möchte in unſerer ſachlich— nüchternen Zeit ein poetiſch emp— fundenes Bild— Karte von Prof. Max Liebermann zum Feſtmahl der „Freien Bühne“ am 22. März 1595. niemand. Die einzige mögliche Reform der Be: judjsfarte ijt mei: nes — Gradjytens die, daß man Namen und Ti: tel von einem geſchickten Schriftkünſtler ſchreiben, ein be— ſcheidenes Orna— FSSSSSSsssa) Grijfeltünjtler im Dienjte ber Gejelligtcit. BISIS3331 217 ^ 4 | | darfsartifel vorneh: puo c NN ; | mes Gepräge tragen — und was fönnte vorneDmer fein, als Die Arbeit eines ech: CN ten Künftlers? Und dus weiter: Allzu jd)nell T d — | verraufchen fröhliche Bi» " TE | | Stunden, allzuſchnell Rie ^ | © xd vergebt bie Pracht teh E ee N | glángenber Zefte, auf TE — —— > Die fid) bie Teilneh— LY aM — AE T — oe mer Jett langem ge: " » | jet S. | freut haben, deren [2 6. En u.) Vorbereitung unenb- — — QM MR - | lide Mühe fojtete. i ^ MM E MEETS. S20 — MEME m Liegt esdanichtnahe, SR EON Pu —— Miele Nw bert Feſtgenoſſen in —— ae — Te * | einem fünftlerijchen Ginlabungstarte von ©. Greiner. Programm, — einer fünjtlerijchen (Sina: ment ober Wappen hinzufügen, und das | dung ein Mittel in die Hand zu geben, Oo Di MO UCT: DERL DINDNIOM: a a Tönen auf beftem Papier drucken läßt. Auch hieran wird mancher noch Anftop nehmen, fürchtet man bod) in der guten Bejellichaft nichts jo jebr als aufzufallen. Aber jolltemanwirf: lid) durch bejjeren Geſchmack nicht auffallen dürfen? Auch für bie Ver: lobungs: und Geburtsangeigen wird man mit Ausſicht auf Verwirf: lihung faum mehr erhoffen können, als gejchmadvollere Ausgejtaltung in Schrift, Ornament, Barbe und Papier. Die Verwendung größerer fünftlerifcher Kompojitionen zu fol: chen Sweden wird wohl jtets auf einen verhältnismäßig Kleinen Kreis von Künftlern und Kunjtfreunden bejchränft bleiben, in bem fie jchon heute nicht jelten vorfommt. Den interejjante|ten und umfang: reichiten Teil der Arbeiten, bie Grif- felfünftler im Dienjte ber Gejelligfeit gejchaffen haben, bilden aber zweifel: los bie Cinladungen, Programme, Tanzfarten, Gpeijefolgen, Tijch: farten und Erinnerungsblätter, bie feftlichen Veranftaltungen ihre Ent: [tebung verbanten. Zum Arrangement eines wahrhaft vornehmen Feſtes gehört, daß auch Einladungskarte von Olaf Gulbranſon zu einem die erforderlichen graphiſchen Be— Mastenfeſt. 218 Walter von Zur Weiten: bei be|]en Betrach: tung fie fid) ber genojjenen Freu: den, ber geldjauten Schönheit erinnern fónnen? Die vor: nehme Gejellichaft des ancien régime hat bas wohl emp: funden, und [o ba: ben die beiten Illu⸗ jtratoren, bie Schöpfer der rei zenden Kupferſtich— werte jener Tage, Moreau le jeune, Cochin fils unb wie lie alle heißen, für Hochzeiten im kö— niglidjen Haufe, für Galavorjtellun- gen, für 3Botjdjaj: terbälle und ähn— liche Gelegenheiten manches feingeftochene, graziöje Blatt gefertigt. Auch in England legte man auf die vornehme fünjtlerijd)e Einladung großen Wert. Cipriant, Wn: — — — — Te von I. Goller zur Künftler:Redoute in Dresden im Jahre 1901. R 9Steujabrsfarte von Rudolf Scieitl. — — I3$3$ 3534363435353 $353$3$341 gelifa Kauffmann und andere Klaſſi— gijten fertigten bie Entwürfe,diedann von dem Mode: graphifer der Zeit, von francesco Bartolozzi geito: chen wurden. Nicht nurdiePrinzenund Herzöge, jelbjt Ru: derflubs wandten jid), wie unjere Ab: bildung auf C. 210 zeigt, an den Mei: jter, ber Dann, dem für bie Antife be: geijterten Zeitge— mad entjpre: chend, Neptun in bódjit eigener Ber: jon bemühte. In dem drmeren, Da: mals vorwiegend literarijd) interejlierten Deutjchland Ieijteten ſich nur wenige jolde Karten und was 3.B. Kininger und Kholda: mals in Wien [djufen, Hältden Bergleich mit — — — Griffelfiinjtler im Dienfte der Gejelligteit. 219 ya nm un t VAVKLERT TH (SEVA Janu »2 „um — TA 1907 ereinigüng Münchener Ke :ademikei (e.V) "1907, | "A i y I ms) or j [ 1 | ' 1 BN W G DInG PI 3raueri Ginlabungsfarte von Otto Ropp aum — der DEHTIGUNG Münchener &unftafabemiter im Sabre 1 den Arbeiten der franzöliichen Feinſtecher ober Bartologzis feineswegs aus. Das hier wiedergegebene fleine Hochzeitsfärt: chen Chodowiecfis bildet eine der jeltenen Dajen auf diefem ziemlich wüjten Gebiete. Die glüdlichiten Fejtblätter find aber ent: ftanden, wenn die Künftler jelbjt die Gajt- geber waren, wenn fie, ungehemmt burd) bie Münfche fremder Auftraggeber, ihrerfrohen Laune, ihrer Phantaſie, ihrer Geftaltungs- luft die Zügel ſchießen laſſen fonnten. In: folgedefjen ijt der Sulammenjd)lug der Künftlerfchaft zu gejelligen Vereinen für die Gntwidlung unjeres Gebietes von großer Bedeutung geworden. Im Jahre 1814 wurde der Berliner Künjtlerverein gegrün: det mit Dr. G. Schadow, bem Wfademie- bireftor, als „Vorſteher“, einem „Schreiber“ und einem „Sädelmeilter“. Am St. Yufas: tage, dem 18. Oftober, feierte der Verein fein Stiftungsfeft. Seine ältejte Feſtkarte mit ber Darjtellung bes Schußheiligen nad) Mt. Wohlgemut ijt heute ein gejuchter Sammelgegenjtand — gehört fie dod) zu ben jogenannten , SnfunabeIn^, den Früh: druden ber Lithographie. Auch baburd) ijt [ie intereffant, daß fie wahrjcheinlich von Sdhadow jelbjt auf den Stein gezeichnet ijt, Diefem großen Künjtler und prächtigen Menſchen, bejjen fernige Eigenart uns gontane in feinen „Wanderungen durd) die Mark Brandenburg“ uniibertrefflid) ge: \childert Hat. „Mittagsmahl, Sang und Klang” verhieß die Karte den Mit: 220 Walter von Zur Weiten: -- ee dea damen AN a NS Ay. ERFRFRFRRFFTZTZTT On. OU CRT Dr AN ‘= S UR T D YSN — AE Poftlarte von 9. Sy. CIbert für ben Gautlertag des Vereins Münchener Runjftatademifer im Jahre 1907. gliedern, bie dem Rufe ins „Englijche | gegenüber den Herrjdenden Richtungen, Haus“ folg: ten. Dort fand aud) das Stif— tungsfejt des Sabres 1832 itatt, für bas Schadow die auf Seite 212 abgebildete Karte zeichne: te. Die jungen Berliner Künftler grün: deten 1825 einen neuen Verein, Die „unio Junior“, den „jüngeren Künftlerver: ein”. (Sine Reihe der be: deutendjten Talente hat biejer Gemein: \haft ange: hört, in der offenbar ein [tart oppolitto: neller Geiſt Gamenfarte von 2. v. Sumbufd zur 71. 2 — deutſcher Naturforicher und Yirgte zu München im Sabre 1599. Rlaffizismus unb Nazare: nertum berrichte, de: ren Zug „zum Heidentum“ und „zum Mittelalter” bas iyeitblatt vom 31. Ofto- ber 1834 ver: |pottet. Da madte man fid) aud) luſtig liber Leute, bie Bilder , „aus der Grinne: rung malten“ oderihreKunft nad) dem Kommando hoher Wür— denträger aus: übten, und ſtellte ſchließ— lich den Sieg und Triumph— zug jugend— kräftiger Kunſt Griffelfünftler im Dienfte ber Gejelligteit. ipg«2«2«2«2«3«24y. 991 über Zopf und Schematismus bar. Der Hauptteil dtejer achtteiligen Folge ijt wohl von bem neunzehnjährigen Menzel, damals Schüler ber Bipsklajje der Ber: liner Afademie, gezeichnet, deren Leiter Dähling ihm 1834 in feinem Rapport „Biel Genie” atteftterte. Wud) Adolf Schrödter und Theodor Hojemann follen an dem Blatte mitgearbeitet haben. Die \pätejte mir befannte Feſtkarte bes jünge- ren Rünjtlervereins jtammt aus bem Jahre 1838; dann jdjeint jid) bie Vereinigung aufgelöjt zu haben. Aber bald erjtand ihr ein Nachfolger in dem „Verein jün- gerer Berliner Künjtler“, der am 19. Mai 1841 im Atelier des Malers Rojenfelder in der Artilleriejtraße aejtiftet wurde. Der ältere Künftlerverein, ber übrigens nod) be: fteht, wurde allmäh: lid) in den Hinter: grund gedrängt, und bald begegnet uns auf den Karten der neue Verein unter dem Namen ,, Verein Ber: liner Riinftler”, unter dem er noch heute blüht. In den erjten vierzig Jahren feines Beitehens ijt aus dem Kreije feiner Mtitglie- ber eine Fülle reiz: voller Feitblätter her: vorgegangen, eine Feſtchronik von hohem fünjtlerifchen Werte, an der u.a. Wilhelm Scholz, Wisniewski, L. Löffler, Heiden: reid), Paul Meyer: heim, H. Scherenberg, F. Sfarbina mitgear: beitet haben. Der eifrigite von allen war aber Ludwig Burger, in dejjen €ebenswert jeine Feſtkarten viel: leicht ben friſcheſten, reizvolljten Teil bil: bem. Es ijt erjtaun: lich, wie es ihm ge: lingt, dem Thema immer neue Wendun: gen zu geben, fid) faſt niemals zu wiederholen. Künjtlerijc) be: deutender als jeine Lithographien und Ra: Dierungen find freilich bie Blätter Theodor Sjojemanns, der auch für den Verein zur Be: förderung des Gewerbefleißes für ben Ver: ein jüngerer Ärzte und andere tätig war. Dod) nun zu dem größten aller Feft- fartenzeichner — zu Adolf Menzel. Er war offenbar ein eifriges Mitglied des Vereins; auf verjchiedenen Karten erblidt man [einen charafterijtiichen Kopf, jo auf dem Seite 213 wiedergegebenen Blatte 9. Scherenbergs, wo er mit Burger, Steffed, Hojemann, Eſchke, Löffler, W. Scholz u. a. fröhlich den Becher jchwingt. Seine Teltfarten bilden wohl ficherlid) den Höhepunkt bejjen, was auf unjerem Ge: biete geleitet worden ijt. Ich erwähne Einladungstarte von Eugen Opwald zur Shwabinger Bauerntirta i. J. 1907. 299 [eee] Walter von Zur Welten: unter ihnen das feierlich getragene Blatt zur Säfularfeier Gottfried Schadows (1864), mit deſſen Hauptwerk, dem Grabmal des Grafen von der Mark, als Mittelpunft, um den fic) die befannteften Denfmaler bes Meilters, fein Ziethen, fein Friedrich der Große, fein Blücher gruppieren, wäh— rend wir unten einen Blick in die Treuen: briegener MWochenftube werfen fónnen, in net, ibm find aud) eine Reihe von joldjen gewidmet worden, vor allem das berühmte Grinnerungsblatt an die eier, bie der Verein Berliner 8ünjtler am 5. April1884 zu Ehren der vor fünfzig Jahren erfolgten Veröffentlichung bes erjten größeren Wer: fes von Menzel: „Künſtlers Erdenwallen” veranjtaltete. Hier hat Max Klinger, ber große Schöpfer einer eigenen Idealwelt, der Schadow jeiner Ber: als Sohn ehrung für eines Schnei: ben Damali: ders das gen hervor: Licht ber ragendjten Welt erblid: Vertreter te. Sd)nenne deutjcher ferner — bie Wirklich— Karte für das keitskunſt in Knausfeſt einer groß: 1890, wo ein artigen alle: dreifter goriſchen Schufterjun: Rompofition ge einer em: einen bewun⸗ pörten Re: derungswür: naifjance- digen Aus: Dame urb art: brud gege: dern Perſo— ben. wet nen in Dijto: vom Simmel riiem Ko: berablan- ftiim und mo: gende Göt— dernem Ge: terhände ſellſchaftsan⸗ drücken auf zug den Gin: dieSchultern tritt in den antifer Feſtſaal ver: Meermen: wehrt. „Ge: Ichen, die mit ſellſchaftstoi⸗ gewaltiger lette und Ko⸗ Anſtrengung ſtüm früherer aus der brau⸗ Jahrhun⸗ ſenden Flut derte abſolut empor⸗ ausgeſchloſ⸗ Tanzkarte von J. R. Witzel. Ej Itreben,einen jen“ bat rieſigen Fels: Menzel mit fraftigen Zügen über die Dar: ftellung gejchrieben. Und [djlieBlid) weife id) nod) auf bas genial erfundene Blatt für das von der Stadt Berlin veranftaltete Siegesmahl 1866 hin, wo das „des neuen Herkules Darrenbe Tatenfeld“, ein Spar: qelwald, von all den Tieren belebt ijt, die nad) der in reigenber Umrahmung die Rück— jeite füllenden Speijenfolge auf der Tafel erjcheinen Jollen (Seite 214). Wher Menzel hat nicht nur herrliche Feſtkarten gezeich: bloc, ber Menzels Namen trägt und deffen Wucht fie niederhält. — Wie ein Höhepunkt und zugleich wie ein letter Ausklang der fiinjtlerijden Glanzzeit der Berliner Feſtkarte mutet dies Dienzelblatt Mtax Klingers uns an. Denn in den letten Jahrzehnten ijt nur wenig Neues und nod) weniger Gutes ent[tanben. Max Liebermanns Karte für eine Ibſen— feier, ein paar Sachen von Loofdjen, Fed): ner, Sattler, weld) [pürlidje Ausbeute Griffeltiinjtler im Dienfte der Gelelligteit. 223 MHNTERNATIONALER KONGRESS FUR GEWERBL REGHISSGIUTZ BERUN N IM LANDESAUSSTELLUNGSPARK revere 26MAI 1904 farte von YW. Kleufens zum Internatio: en Kongreß für gewerblichen Redts: [but in Berlin im Jahre 1904. Fe na im Vergleich zu dem Reichtum der Vergangenheit! Wher wenn auch die Feltkarte in Berlin abgejtorben ijt, um |o mehr blüht jie in Mün— chen. Früher war das Verhältnis umgekehrt. Wenn jid) auch unter den älteren Münchner Karten manches hübjche und interejjante Blatt von F. Neureuther, Mori v. Schwind, Karl v. Piloty, Max Wdamo u. a. findet — in der Ge: jamtbeit [tanben die Berliner Felt: farten weit höher. Übrigens be- gnügte man fic) in München meijt mit jehr bejcheidenen Formaten, während die Berliner für ihre vielfigurigen Kompojitionen be: trächtlich größeren Raum gebrauch: ten. Sehr amiijant [inb die Per: jonenzettel der in ber $yibelia und anderen Siinjtlerverciniqungen aufgeführten „Ritters, Geilterz, Schau-, Rühr: und Spektakelſtücke“ mit Titeln, wie wir fie aus den vor etwa fünfzehn Jahren auftauchenden Parodiethea: tern fennen: „Hein von SHöllenjtein“ ober „Der Unfchuld Sieg und Rettung“, „Emma von Drachenfels” u. |. f. Bejonders poetijche Schönheiten werden bieje Dramen faum auf: gewiejen haben, aber an Draftif haben fie ge: wiß bas möglichite geleijtet, darauf lajjen die Sluftrationen [d)lieBen, bie zum größten Teil von Ludwig Bechjtein herrühren, neben dem ih aud) Wilhelm Buſch mehrfach betätigt Dat, ber hier ja in feinem eigenjten Fahrwaſſer war. In den achtziger Jahren des vorigen Jahr: Dunberts ragt bejonders F. A. Kaulbach unter der immer ftattlid) werdenden Zahl bedeuten- Der Feſtkartenzeichner hervor. Neben köſtlichen weltfarten hat er bejonbers Kneipzeitungen für die Allotria gejchaffen, eine 1873 gegründete Gejellidaft, ber bie befannte|ten Münchner Künftler unter Lenbad)s Ägide angehörten. Ne: ben ifm hat fid) Stuck im Dienfte biejes feucht: fröhlichen Klubs betätigt, dejjen Kneipzeitungen fünjtlerijch fajt allen JBi&blüttern überlegen find. Geit ben neunziger Jahren entitanden zahl: reiche, mehr oder minder jtarf auf deforativen x M z * — b 9 = @ 4 E. | J ^ | | H " » ith I Ü f. V, 4 xz rr TENET: IRL) ei «»- o . Lust — > m m Sy ‘ =>. oO x — Lm xm Ü >” b. -— > \ u — ET — = — — ^ "e Y icr m Aes a ~ — > — a PAR es BS FI f » ' J sr. — * ^ a vi =“ Der Herr von Parts. Erzählung von Paul Sifferer. ^ Frankreich, ber treu ergeben zu FANE) dem armen König Louis: Phi: ftrecfer feiner Strafurteile, Herr Clément Henri Sanfon. Das Volf nannte ihn den Herrn von Paris. Deffen eigener Vater hatte den jeligen Vater des Königs, Herrn Philippe (Egalité, vom Leben zum Tode befördert. Das brachte ihn dem Haufe Orléans nahe. Es jchien ihm fat wie eine Art Berwandtichaft. Einmal war er Seiner Dlajeftät begegnet, als fie gerade, einen diden Schirm unterm Arm, die Elyfäijchen Felder entlang promenierte. Nicht [chnell genug fonnte er den Hut vom Kopfe reißen. Und der König hatte ihm vertraulid) zu: genidt wie einem alten Befannten. Herr Clément Henri Sanfon [taf in argen Nöten. Denn bie Gejdjáfte gingen ſchlecht. Der Verdienft wurde immer ge: ringer, und die Spefen wuchjen von Tag zu Tag. Dabei fonnte er niemandem feine Beſorgniſſe mitteilen. Etwa feiner Tochter? Die durfte gewiß nicht merfen, wie ſchwer es ihm gefallen war, ihr eine ordentliche Ausjteuer zu geben. Und wenn fie bis- weilen Sonntags mit ihrem Gatten, dem Chirurgen, zum Abendeſſen fam, jdjien Herr Sanjon immer vorzüglich gelaunt, lobte den fiiffigen Wein, bas gute Elfen, faltete feine Hände zufrieden über bem Baud, als gäbe es gar nicht fo etwas wie D UM unb Wechjelfälligfeiten in ber elt. Auch vor feiner Frau verbarg er feinen Kummer. Er vermieb es ängjftlich, ihr von Gefchäften zu erzählen. Sie frünfelte bas ganze Jahr lang und verließ niemals ihre Gemächer. Seufzend flomm Herr Sanfon des Abends bie enge Wendeltreppe zu ihr empor. VBorlichtig füpte er bie Stirne ber zarten Frau, als fürchtete er, bie leiſeſte Berührung fonnte fie zerbrechen. Dann jebte er fic) zum Harmonium und begleitete bingebungsvoll bie weichen, gebebnten Romanzen, bie fie mit leijer, zirpender Stimme fang. Und die Gebilfen? Herr Sanfon hatte Belhagen & Klafings Monatshefte. XXIV. Jahrg. 1909/1910. II. Bod. ihnen neben feiner eigenen Schlaflammer bie MWohnftatt angewiejen. Er war nad: giebtg und freundlich gegen fie. Wher zu Mtitwifjern feiner Sorgen wollte er fie nicht machen. Mit haftigen, lautlofen Schritten durd)- maß er feine Stube. Er war flein unb fett: leibig. Sein Atem ging kurz und feudjenb. Sedesmal, wenn er an dem großen Wand: Jptegel voriiberfam, der über bem Kamin bing, warf er fid) einen rajchen befümmers ten Blid zu. Cr hatte bie demütigen, flehenden Augen eines Kettenhundes, der um einen Rnodjen bettelt. Sein Haar war von den breiten Schläfen forgfaltig über den fablen Scheitel gebür|tet. Und von weitem glänzte bas feijte Kinn. Herr Clément Henri Canjon rieb es täglich mehrmals mit einer Kräuterfalbe ein, um feine Haut fdmiegfam zu erhalten. Cr war ängjtlicd) unb wehleidig. Nur ungern betrat er den Laden eines Barbiers und fürchtete fid) heimlich vor bem eigenen Rafiermeffer, wie er jid) vor dem Leben fiirdjtete, bem er allerlei bóje Zufälle und liftige Tiiden gufprad. Und daran trug fein Beruf die Schuld, der ihm ftets von neuem bie Hinfälligfeit bes Dafeins vor Augen führte. Der Titel eines Vollftreders der Straf: urteile in Paris gehörte zu feinem Erbe, wie bas Amt felbft. Er war ihm vom König Louts- Philippe befonders beftätigt worden. Und fein berühmter Großvater, der Bürger Sanjon, hatte einen böswilligen Berleum- der, ber ihn furgweg Henfer [djalt, un: barmherzig vor Gericht verffagt. Stamm: ten doch bie Sanfons aus dem Wbdels- geichlecht derer von Longval. „Mon cher cousin,‘ begrüßten fie einander, wie etwa bie Bourbonen älterer Linie ihre Vettern in Spanien begrüßten. Ganz Frankreich batten fie unter fich geteilt, gleich erobertes Land. Es regierte jeder in feiner Proving. Herr Clément Henri Sanjon erzählte dies allen, die es hören wollten. Wenn er Bejud aus der Proving befam, führte er ben Gaſt gleich in fein Muſeum, das er in einem Zimmer bes Erdgeſchoſſes unter: 15 990 PSSssSsSsssssessssq Paul Zifferer: III 3737373737 3337 33733 gebracht, zeigte ihm bas Tafchentuch, bas den Händen des Königs von Frankreich entglitten war, als man ihn auf das Brett Ichnallte, und das Schwert, bas den Mtar- quis de Lally enthauptet hatte. Much eine alte Gipsbüfte des Doktor Guillotin in Puderperücde und Halsfraufe, bejfen glatte Lippen, wie im Krampfe, zu einem breiten Lächeln verzogen jd)ienen. Gerne erfldrte Herr Clément Henri Sanfon fein Werkzeug, die Guillotine. Die Gehilfen mußten fie im Hof aufbauen. Er jelber jchob bie Strohpuppe unter bie Lunette, ließ behutfam das Beil fallen und horchte aufmerfjam zu, als freute er fic an bem bump[en, flopfenben Ton. Für bejonbers vornehmen Befuch wurde bie Strohpuppe burd) ein Lamm erjebt. Herr Ganjon ftretdhelte und liebfojte es. „Komm, mein Tierchen,“ fagte er, „komm!“ Und das Lamm ließ fid) wirt: lid) ganz ruhig und geduldig den Kopf ab: Ichneiden. | Im Wmte aber befam bas Gehaben des Herm Clément Henri Ganjon etwas ge- Ihäftig Weierlidjes. Er war ſchon um Mitternacht auf dem Richtplab, traf bie lebten Anordnungen, rüttelte an feinem Inftrument, tätjchelte es mit der flachen Hand, prüfte die Schärfe des Beiles, rieb es mit einem Lederlappen blanf, daß es Ipiegelte und gldngte. Herr Clément Henri Sanfon war ein Pedant. Immer wieder blicdte er zum Himmel empor, ob denn noch nicht der Morgen graute. Cine Stunde zu früh fand er fich vor dem Gefängnis ein, trippelte unges duldig hin und her. Er verbeugte fid) vor dem armen Sünder, er begrüßte thn um: ftindlid), er fprad) unermüdlich auf ihn ein. Nadjlichtig, liebevoll, wie man Kin: bern zuredet, ihre Frühſtücksmilch gu trinfen. Mit bem plätichernden Tonfall eines Ver: fäufers, ber bejonbers wohlfeile Ware an: trägt. Seine Stimme Hang fanft und gut: miitig, als wollte er um Verzeihung bitten, babet von der eigenen Wichtigkeit über: zeugt, wie bie Stimme des Todes felber, vor dejjen Majejtät wir zittern. Und wenn wir ihm einmalbegegnen, merfen wir, daß ihm jede Größe fehlt. Nun hatte der Staat allerdings fdjon feit längerer Zeit auf die Dienjte bes Herrn Clément Henri Sanfon verzichtet. Dean brauchte in Paris feine Vollftreder ber Strafurtetle mehr. Man begnabigte die ſchlimmſten Verbrecher. Man [prad) nur nod) von fogialen Reformen, von Menfdenredten, von einer neuen Ord: nung der Dinge, vom republifanijchen Beift. Herr Clément Henri Sanjon hate den republifanijchen Geijt. Vor wenigen Jah: ren erjt war Vater Henri Sanjon geftorben, hoch betagt, ein aufred)ter, ftattlicher Greis. Der hatte in feiner frühen Jugend nod) die große Zeit der Guillotine miterlebt. Uber die Revolution, die [ein Gewerbe be: rühmt gemadjt, hatte es untergraben. Das farge Gebalt, bas ber Staat bezahlte, langte faum nod) für die Gebilfen. Und wo waren die lieben Vettern? Gie lebten im ganzen Land zerjtreut, ließen nichts mehr von jid) hören... . Mod) bewohnte Herr Clément Henri Sanfon das Heine Häuschen in der Rue bes Mtarats: Saint-Martin, gleich gegen: über ber Rue Albouy. Aber fein Stein des Gebdudes gehörte ihm mehr. Schwere Hypotheken Iajteten darauf, drohten nieder: zuftürzen, wie bas Fallbeil einer Guillotine. Indejjen ging alles leidlich gut bis zu dem Tage, da die Herren Badiche, Legras und Boilin ihren 3Bejud) ankündigten. Herr Voijin war Eigentümer einer Geld): warenhandlung und Mtufifliebhaber. In frühreren Jahren hatte er oftmals mit Madame Sanfon Duette gelungen, wäh: rend Monjieur Ganfon am Harmonium fap. Dann war er mit einem Male aus: geblieben ... Herr Legras befleibete bie Stelle eines Vortdngers in der Komijchen Oper und befaßte fid) in feinen freien Stunden mit der Vermittlung von Sar: lehen. Herr Badiche aber war Geldverleiher von Beruf, überdies Gemeinderat. In lebter Beit hatte fid) bes öfteren ber gall ereignet, bap der eine ober ber andere Diefer Herren an der Klingel bes Haufes in ber Rue bes Mtarais-Gaint-Martin 30g. Herr Clement Henri Sanfon fannte ben wimmernden, Hagenden Ton ... Wie aber hatten jid) die drei Peiniger zufammen- gefunden? Auf weld) rätjelhafte Weife ? Genug, fie jtellten fid) in gefchloffener Reihe vor Herrn Sanjon auf. Dem abnte nichts Gutes. Cr lief aufgeregt hin und ber, bot feinen Gäſten Stühle an. Wher [ie wehrten ab. 1-725 2^ 25 21^ 25 25^ 25^ 25^ 25 25^ 25^ 29 Herr Boilin, der Charcutier, Tächelte vergnügt, Herr Legras, der Vortdnger, blickte ernjthaft auf feine Fußſpitzen, bie fid) im Tate hoben und fenften, während Herr Badiche in großer Berlegenheit feinen Ro auf: und zufnöpfte, wie er allemal gu tun pflegte, wenn er öffentlich [predjen jollte. Plötzlich brad) er los. Mit fleinen, zudenden, boshaften (Sejten. Er babe im Stadthaus erfahren, daß man daran dente, die Stelle des Herrn Sanfon gänzlid) ab: zufchaffen. Es fet aud) hoch an ber Zeit, einen Dann zu unterbrüden, ber feinen Verpflichtungen im feinerlei Weife nad): fomme. Und bann hielt er eine große Rede zur Abjchaffung ber Todesitrafe mit genau benjelben Argumenten, bie fein Freund Ducros geftern im Stadthaus vorgebradt hatte. Doc, ber Vortänzer Legras unterbrach ibn. Gr ließ zuerft feine Fußſpitzen ein paarmal heftig auf und nieder wippen, dann jagte er mit flötender Stimme: „Es wäre uns peinlich, alles Geld zu verlieren.“ Und ber Charcutier Voilin fügte nod lächelnd ein paar Worte von einer acht: tägigen Frift, von Schuldarreft und anderen dergleichen Dingen hinzu, die Herrn Gan: fon in Unruhe und Schreden verjebten. Aber ehe er fid) nod von feiner erjten Verbliiffung erholt hatte, waren die drei Herren auch [don einer nad) dem andern zur Türe hinausgefchlüpft. Herr Clément Henri Ganjon fagte fid): ‚Du mußt etwas tun, Du mußt etwas unter: nehmen.‘ Wher er tat nichts, er unternahm nidjts. Er warf nur immer wieder bem Kopf hin und her und murmelte: ‚Ich bin in einer böjen Berlegenheit, in einer ver: teufelt bójen Verlegenheit.‘ Als feine Tochter zum Wbendeffen fam, vergaß er ihr bie Wangen zu tätjcheln. Gr berührte nicht einmal das faftige Stüd Braten, das fie ihm auf den Teller legte, und tranf feinen Wein. Der Schwieger: john Chirurgus [djielte über feine Brillen bejorgt nad) thm hinüber und verjicherte fauend: „Sie brauchen einen Aderlaß, Papa.” Da zudte Herr Clément Henri Sanfon erjd)redt zufammen und flüfterte: „Nur das nicht, Gott bebüte." An diefem Tage gejchah es zum erften Male, dak Madame Ganjon die üble Laune ihres Batten zu fühlen befam. Als Der Herr von Paris. BESSsesesssesssd 997 fie ihn nämlich liebevoll darauf au[mert: jam madjte, er habe auf bem Harmonium ein wenig ben Ton vergriffen, erfldrte er iroden, fie verjtünde nidts von Muſik. Und als fie ihm wie alltäglich ihre viel: fadjen Gebreften aufzuzählen begann, Schnitt er ihr fühl bas Wortab. „Dulang: weilſt mich,” ſagte er. Den nächſten Tag bereute Herr Sanfon feine (Oraujamfeit. Cr begleitete wieder den Gejang feiner Battin nad) allen Regeln der Kunſt, und als fie ihm tief gefränft ihre Leiden vorwarf, tröftete er [ie gerührt, mit zitternder Stimme. Denn heimlich dachte er babet an feinen eigenen Kummer. Co gelang es ibm nicht, Madame Sanfon zu überzeugen, aber er felbjt fühlte fich durch jeine Worte erleichtert. Der Beſuch der Herren Badiche, Legras und Boilin hatte für ihn alles Geſpenſtiſche verloren. Gie würden eben mad) acht Tagen wiederlommen, und dann fonnte er mit ihnen unterhandeln, fie auf einen befferen Ge[d)áftsgang vertröften. Er über: legte, mit welchen Worten er den Herren feine Lage ausetnanberjeben wollte. Wher es fam garnicht dazu. Die Herren ließen fic) nicht wieder bliden. Wn ihrer Stelle flatterte ein Bogen Ctempelpapiet ins Haus, ber ganz eng be|d)rieben war. Darin ftand zu Iejen, Herr Clément Henri Canjon, Volljtreder ber Strafurteile von Paris, folle fid) unverzüglich im Gefängnis von Clidy einfinden, zur Schuldhaft. Die hatten feine Gläubiger beantragt. Auch bte Koſten feiner Verpflegung waren fchon im vorhinein für einen Monat erlegt worden. Das traf Herrn Clément Henri Sanfon freilich Dart. Er refpeftierte bie Geſetze. Er wußte: nun gibt es fein Entrinnen. Ängſtlich fletterte er bte Wendeltreppe zu Madame Sanjon empor und fagte ihr mit jtoenber Stimme, er müſſe für einige Zeit verreijen; gefchäftlich. Sie blicdte ihn miß: trauifch an, als ſchenkte fie feinen Worten feinen rechten Glauben. Wie er fie aber zärtlich zum Abjchied füpte mit Tränen in den Augen, ahnte [ie doch, daß es fid) um etwas fehr Ernjtes handelte, und empfahl ihm, fid) nur recht warm anzuziehen, weil man fic) [o leicht erfalte. Nod einen Brief an feine Tochter ſchrieb Herr Can|on und bat [ie, während feiner 15* 228 EEISSSSSTISIIZT Paul Bifferer: Wbwefenhett bei der Mutter zu bleiben. Geinen Gebilfen gab er Urlaub. Dann padte er fein Rofferden unb fuhr in einer Droſchke bie äußeren Boulevards entlang, ben Mtontmartre hinauf bis zur Rue be Clichy. Sort verabjchiedete er ben Wagen. Niemand follte willen, weld) traurigen Meg er ging. Herr Clément Henri Canjon wurde in eine winzige Belle ge|perrt. Er fonnte gerade zwei und einen halben Schritt vom Bett zum fleinen Tifchchen machen, auf bem ein Waſchbecken aus gewalgtem Eiſen⸗ bled) [tanb, und genau drei Schritte vom Tiſchchen zum vergitterten Fenjter, bas in einen engen Hof führte, ber Drohend und finiter ausfah, wie ein rußiger Ramin. Herrn Clément Henri Sanjon fam feine Lage ungeheuerlich vor. Nicht [o febr um jeinetwillen, als vom Standpunft der Welt aus. (fs war ihm zumute, als hätte man nicht ben Bolljtreder ber Todesurteile, fondern den Tod jelber ins Gefängnis ge: worfen. Als fónnte bie Menfchheit feinen Augenblid länger beftehen. ‚Es ijt unmög⸗ lich,‘ dachte er, ‚etwas Schredliches fteht bevor.‘ Er Hatte bie unbe|timmte Bor: jtellung, als müßte jid) die Erde öffnen, genau an der Stelle, wo er eingelerfertfaß. Doch nichts dergleichen gefdah. Man bot ihm Erbauungsbiider an und brachte ibm gueffen. Er wies bie Erbauungsbiider zurüd; denn er hatte den Glauben an bie göttliche Vorfehung verloren. Aber ergriff feufzend nad) Mteffer und Gabel; denn er dachte: ‚Es ijt gut, Kräfte zu fammeln, ehe man den Kampf gegen das widrige Cdjidjal aufnimmt.‘ Die Herren Badiche, Legras und Voiſin hatten ihre Sache gut gemadjt. Herr Voi⸗ jin, der Charcutier, meinte nämlich, beim Eſſen dürfe man nidt fparen. Die Tafel war reichlich bejebt und jede einzelne Speife belifat zubereitet. Nach bem Deffert ſchrieb Herr Canjon feinen Gläubigern einen langen Brief. Sie müßten bod) felbjt etn: feben, daß esnicht anginge, ihn, den Herrn von Paris, nod) länger in Arreſt zu halten. Sein Kredit bet den Nachbarn könne hier: durch empfindlich Schaden leiden. Go be: gann er. Und bann famen nod) mancherlet zterliche Wendungen, auf die Herr Clement Henri Sanjon fo ftolg war, daß er [id) zur Belohnung eine Zigarre anftectte. IE SEES Wenige Stunden [päter fanden jid) bie Herren Badide, Legras und Voiſin bei ihm ein. Herr Clément Henri Sanjon mußte fid) aufs Bett fauern, um ihnen Platz zu machen. Der Gemeinderat Badiche neſtelte aufs geregt an feinem Node. Der Brief des Herrn Sanjon habe ihn gerührt, jagte er ſchluckend. Herr Boifin, der Charcutier, fügte verbindlich Hinzu, man wolle ja ge: wif Herren Sanfon nicht zugrunde richten. Das wiber|predje dem Intereffe der Glau: biger, und es brauche überhaupt niemand von der peinlichen Angelegenheit zu er: fahren. Herr Legras, ber Vortdnger, aber bog fic) zweis, breimal nad) links und rechts und flötete: Es wäre ihm angenehm, wenn Herr Sanfon je eher je lieber den Schuld: arreft verließe; nämlich wegen der Koften. Dann trat eine Baufe ein. Herr Clement Henri Sanfon getraute fid) nicht zu |prechen, weil er fürdjtete, nod) im leßten Augen: blide bie günftige Stimmung zu verderben. Seine Bläubiger jtanben verlegen ba und blidten einander an. Endlich war's Herr Badiche, der von neuem zu jpredjen an: Dub. Es müjje fid) ja ein Ausweg finden lajfen. Herr Boijin meinte fogar, man brauche gar nicht auf fofortiger Bezahlung zu bejtehen, wenn die Schuld gleichjam be: fejtigt würde... Und Herr Legras nidte eifrig dazu: „Etwa bird) ein Pfand...” Traurig fchüttelfe Herr Sanjon ben Kopf. Es folle nicht an feinem guten Willen fehlen, ver[idjerte er, aber die Herren wüßten ja jelber, wie arg belajtet fein Haus jet. Und an fahrbarer Habe befike er nur feine befcheidene Wohnungseinrichtung. „Richt dod,” beichwichtigte Herr Bas bidje. Niemand denfe daran, ihm fein Bett fortzunehmen. Ja, die Herren hätten fid) fogar entſchloſſen, von bem Verfauf bes Haufes in der Rue des Mtarais-Saint: Martin abzuftehen, weil nämlid) .. Kurz und gut, es handle fich um ein ganz anderes, tauglidjes Pfandobjeft . . . Herr Clément Henri Sanjon madte große Augen. Wie? Geine Gläubiger wußten um einen Gegenjtand, von fold hohem Werte, daß er alle Anfprüche ber geltrengen Herren zu befriedigen geeignet war? Und diejer Begenftand gehörte ihm? Ungläubig jchüttelte Herr Sanjon den Kopf. Er war fehr neugierig geworden. PSISSSSSSSZIIISZA Der Herr von Paris. BESSSSsssssesd 229 Serr Badiche vergaß an feinem Rod zu nefteln, Herr Legras wippte nicht mehr auf feinen Zehenfpigen, und bas Ladeln des Herrn Voilin erjtarrte. Alle drei gaben fid) Mühe, recht feierlich auszufehen, aber feiner wagte es als erfter, den Namen bes Gegenjtandes auszufprechen, den fie bod) alle drei fo heiß begehrten. Wie auf Verab- redung jTandierten fie endlich im Chor, jede Silbe ſcharf betonend: „Die Guillotine.“ Herr Clément Henri Sanjon vermeinte nicht recht zuhören. Die Guillotine? Man erlaubte fid) wohl einen Scherz mit ihm. Die Guillotine! Das ging bod) gar nidjt. Chenjogut hätte man von ihm verlangen fönnen, daß er Die Gerechtigfeit felber ver: pfände mit Wage und Schwert. Oder gleich den franzöfifchen Königsthron ... Nein, es ging nicht. Die Guillotine! ... ‚Herr Clément Henri Sanfon geriet in furdtbare Erregung. Gr feudjte, er jtöhnte. Aber Herr Badiche fagte ruhig: „Die Guillotine oder bas Gefängnis, bitte zu wählen.” Hierauf hörte Herr Sanfon bie fdwere Türe feiner Zelle ächzend ins Schloß fallen. Raſſelnd wurde der Riegel vorgejchoben. Herr Clément Henri Sanfon, der Voll: ftredfer der Gtrafurteile in Paris, war wieder allein in feinem Rerfer. ‚Es geht nicht,‘ fagte er fich den erften Tag und rannte unermiidlid) hin und Der, immer zwei und einen halben Schritt vom Bett zum Tijd) und drei Schritte zum Fenſter. „Es geht nicht, wiederholte er ſich den zweiten Tag. Aber da wußte er ſchon heimlich, bap es gehen mußte... . Und den dritten Tag überlegteer: ‚Vor: läufig brauche id) ja die Maſchine nicht. Bellern fid) aber die Zeiten, fann ich bod) mein Injtrument wieder auslöfen.‘ Warum ihm dies nicht früher eingefallen war! Er rieb fic) bie Hände unb begann vor fid hin zu pfeifen, wie ein liftiger Rrdmer, dem es gelungen ijt, einen Runden übers Ohr zu bauen. Dann jebte er fid) hin und fchrieb einen ‚neuen Brief an feine Gläubiger. Er hatte fid) die Sache überlegt. Sie könnten jid) die Maſchine abholen. Aber es müßte fo gejhehen, daß niemand in der Nachbar: Ichaft etwas davon merkte. Und fie follten ibm vorher verjprechen, daß er nun feine Schuld nad) Tunlichkeit und Möglichkeit zurüdzahlen dürfe und daß fie ihn fürder: hin mit ihren Anfprüchen nicht mehr quälen würden. Man entlieh Herr Clément Henri Ganjon aljo vorläufig aus der Haft. Als er auf die Straße trat, blingelte er mit den Augen und ftemmte bie Arme weit in bie Luft. , Mterfwiirdig,” murmelte er, „merl- würdig.” Die Freiheit tdngelte vor ihm Der über ben erjten glibernben November: Ichnee. Wber der Vollitreder der Straf: urteile in Paris erfannte fie nicht. Des Nachts hielt in der Rue des Marais: Saint-Martin ein feltjamer Wagen. Der beftand aus einem baudjigen jchwarzen Kajten, ber mit einem unheimlich fnaden: den Beräufch nad) Hinten aufflappte. Der Charcutier, Herr Boifin, ber lächelnd vom Bode [tieg, verwendete diefen Wagen ge- wöhnlich für den Transport bes Borften: viehs, bas er friihmorgens auf bem Mtarfte einzufaufen pflegte: lauter tadellofe Stüde, fein fduberlid) in der Mitte entatveige- ſchnitten. An dem Gittertor ſtand noch eine andere vermummte Geſtalt. Es war der Vortänzer, Herr Legras. Er zitterte vor Kälte. Der Gemeinderat Badiche fehlte. Der hatte es mit ſeiner Würde nicht vereinbar ge- funden, fid) an diefem nächtlichen Ausflug zu beteiligen. Der Bollftreder der Strafurteile in Paris erwartete [don feine Bäfte. Er half ihnen jeufgenb und feuchend mehrere gewidtige Kiſten und Kaften in den Wagen [djaffen. Mißtrauiſch Tüftete der Vortdnger, Herr Legras, bie Hülle von diefem unb jenem Bündel, ſchloß vorſichtig bie Raffetten auf, gab fid) nicht eher zufrieden, bis Dak thm aus einem ſchwarzen Futteral das Richt: beil entgegenglänzte. Der rote, fladernde Schein einer Laterne rann davon herunter wie flüjfiges Blut. Treundlich grüpenb fletterte Herr Voilin wieder auf ben Boe und trieb feine Pferde an. Serr Leqras fag neben ihm und baumelte mit den Beinen. Voll Rümmer: nis blidte ber Vollftreder der Strafurteile in Paris dem Karren nad), der über die gefrorene Straße babinpolterte. Cr fah aus wie ein Leichenwagen. Herr Sanfon mußte jid) an das Gittertor lehnen, fo Ihwindlig wurde ibm plóblid) ... 230 i Mtan begrub feine Guillottne. Herr Clément Henri Sanjon hatte ein Ichlechtes Gewifjen. Seine geheimnisvolle Reife war in der Jtad)barjd)ajt gar nicht aufgefallen. Wher er getraute jid) nieman: bem ins Geſicht zu bliden. Ihn peinigte bas Gefühl, einen Verrat begangen zu haben. Den Gebilfen fagte er, bie Maſchine fet bei jeinem lieben Vetter in Blois. Und die Gebilfen glaubten es gerne. Wher er meinte, man miijje ihm bie Liige vom Gelidt ab: lejen. Er hatte das Bewußtjein, man ver: achte ihn. Niemals war er von feinen Gläubigern |o jehr gequalt worden, wie er fd) felber quälte. Für Madame Sanjon fuchte er jest bie traurigiten, ſchwermütig⸗ jter Romangen aus, und feiner Tochter empfahl er fleißig gu beten. Cs war ihm gumute, als habe er jeine Seele bem Teufel verjchrieben. Dabei fab er nun mitten im Blüde. Uber er merkte es nicht. Das Glüd ver- folgte ibn. Es [trómte mit einem Male über ihn nieder, als habe es alle Jahre nur barum fo fehr gefnaufert, um dann: aus dem vollen ſchöpfen zu können und zu verichwenden. Als habe es nur auf den geeigneten Augenblid gewartet, um vor Herrn Clément Henri Sanfon zu treten unb ihm au jagen: Hier bin id), nimm mid bin! Das Glüd [djien eingufehen, wie viel Unrecht es bem armen Bolljtreder ber Strafurteile in Paris zugefügt hatte. Das Glück bereute. Und es bediente ftd) bes erlauchten Armes Geiner Majeltät des Königs Louis: Philippe, um ihn zu ver: \öhnen. Jawohl! Der König entjann fich ber guten Dienfte des Herrn Clément Henri Ganjon. Er gedachte jie wieder in 9In|prud) zu nehmen. Und reicher Lohn jtanb in 9fusfid)t. Der Herr von Paris follte zum Herrn von ganz Frankreich werden, follte alle Provinzen unter fid) vereinigen... Co hatte es der König bejtimmt. Wer wagte nod) von Abjchaffung ber Todes- ftrafe zu fprechen? Nein! Es follte wieder getóp[t werden. Da war zum Beifpiel Herr Firmin Trapu. Der hatte dreimal fein Terzerol auf bie geheiligte Perjon des Königs ge: richtet und noch dazu gerufen: „Es lebe bie Reform! Es lebe die Freiheit!" Cin verwegener Schurfe, der Trapu. Aller⸗ dings war nur ein verhußeltes Weiblein getötet worden, das gerade tief gebeugt an dem König vorüberfnid|te. Und ein Ge- heimpolizift, ber bem König folgte, hatte das rechte Auge verloren. Uber Seine Majeſtät wollte ein warnendes Exempel geben. Firmin Trapu follte das Schafott be|teigen. Und man munfelte, daß andere Sujtififationen folgen würden. Herr San- fon berechnete fdjon insgeheim die Höhe der einzelnen Honorare und Extrahonorare. (fs gab ein nettes Cümmdjen. Herr Clément Henri Sanfon, 3Bolljtreder der Strafurteile in Paris, war plößlich in den Mtittelpuntt des Interejjes gerüdt. Die Zeitungen bradjten fein Bild. Man wollte feine Meinung hören. Und zwar über bie Politif im allgemeinen, fowie unter befonderer Beriidjidtigung des Falles Lrapu. Man umwarb ihn, man [chmeichelte jeiner Citelfeit. Man ließ ihn feine Memoiren erzählen. Herr Clément Henri Sanfon fühlte fid) ungeheuer wichtig. Er fand feine Beit mehr, Harmonium zu \pielen, und er mußte feine Tochter bitten, ihren Gonntagsbejud) diesmal zu unter: laſſen. Das Bejchäft nehme ihn jo fchred: lich in Anfpruch. Er brauche jede Minute. Er fei geradezu iiberbiirdet. Eigentlich fühlte fid) Herr Clément Henri Canj[on dem Mörder Firmin Trapu von ganzem Herzen verpflichtet. Cs wollte ibm nicht gelingen, den Miſſetäter zu hafjen. Er vertrat zwar denrepublifanijchen Geiſt. Wher Herr Clément Henri Sanjon dachte jebt nicht an Rade und Vergeltung. Er war edel. Er war nahe daran, feinen Feind zu lieben. Cin baumlanger, breit: ſchultriger Bengel, diefer Firmin Trapu. Trug weite Pluderhofen, die fid) um bie Knöchel verengten, und eine braune Samt: joppe, aus der jich fein roter, jehniger Maden redte, rund und majjig, wie ein Baum: ſtrunk. Der [chien eigens für bte Guillotine gewadjen zu fein. Wenn Herr Clément Henri Sanjon die Augen [d)IoB, [ab er, wie fid) bieler Hals ganz von jelber unter bie Lunette [dob . .. Die Guillotine! Die batte Herr Clément Henri Sanjon ganz vergefjen. ‚Ich muß jie rechtzeitig abholen,‘ dachte er jetzt. Das (dien bod) febr einfach. Aber der Voll: ſtrecker der Strafurteile in Paris fonnte fid) einer peinigenden Unruhe nicht er: ESSe9eeeeeeeees) Der Herr von Paris. ExX3€343£3€36£342€£3€36$2€24]|. 231 wehren. (fs war vielleicht am beiten, gleich Hinzugehen und die Majchine feinen Gläubigern abzuverlangen. Zuerſt bejuchte er Herrn Legras. Der war gerade im Theater bei einer Probe. Man führte ben Vollftreder der Straf: urteile von Paris ins Tanzfoyer und hieß ihn warten. Durch eine winzige Liide tröpfelte bünn und fadenjcheinig bas Tages: licht. Ein alterndes Mädchen im weißen Gazeröckchen und roja Trikot wiegte fid) fofett in ben Hüften. (ie war fehr blak und hatte ſchwarze Ringe unter den Augen. ‚Ein begüterter Kaufmann etwa aus Orleans‘, ſchätzte fie und fuchte jtd) Herrn Ganjon zu nähern. Dem wurde es bang zumute. Er griff plößlich nad) feinem Hut und lief davon, ohne ein Wort zu [prechen. Man hörte feinen fchleppenden Schritt über die ‘Treppe jtolpern. Nun ging er zu dem Gemeinderat Herrn Badide. Den traf erim Stadthaus, wie er gerade beim Büfett für fic) und feinen Freund Ducros einen Abſinth be: ftellte: „Nicht guvtel Wafler, feine Zitrone, feinen. Suder."^ Buerft fchien fich Herr Badiche gar nicht an Herren Clément Henri Sanfon erinnern gu fónnen. Dann erklärte er, es widerjpreche feiner republifanijd)en Überzeugung, dem Volljtreder ber Straf: urteile in Paris Rede und Antwort zu fteben. Dabei blickte er auf feinen Freund Ducros, ob er ihm wohl beijtimme. Und außerdem ginge ihn die ganze Sache nichts mehr an, er habe die Forderung längjt an Herrn Voiſin übertragen. Begab fid) alfo Herr Clément Henri Sanfon zu feinem dritten Gläubiger, bem Charcutier Herrn Boilin. Der ftand gravi- tátijd) Hinter feinem marmornen Berlaufs- pult und wog hundert Gramm Schinken ab. Er war vorzüglich gelaunt. Die Ge: Ichäfte gingen ausgezeichnet. Herr Canjon mußte Blak nehmen und eine ganze Weile zuhören, was ihm Herr Boilin erzählte. Bis er [chließlich felber zögernd auf bie Guillotine zu [prechen fam. „Sie bringen uns das Geld,” fiel ihm Herr Voifin ins Wort. „Sie wollen bez zahlen. Das hat ja gar feine Eile.” Nun fonnte bod) Herr Sanjon vorläufig nicht ans Bezahlen denfen, aber für einen Tag wollte er fich die Guillotine ausleihen. Nur gerade für einen Tag. Darauf freilich durften fid) die Gläubiger nicht einlajfen. Go wenigitens verficherte Herr Boilin, ber den beftiirgten Vollſtrecker der Strafurteile in Paris Iüdjelnb zur Türe begleitete. ,Bedenfen Sie bod), Herr Sanfon, es wäre töricht, unjer [dines Geld zu opfern. Jest, wo der Staat fo dringend die Guillotine braucht. Der Staat wird fchon bezahlen. Machen Sie fid) feine Sorgen, lieber Herr Ganjon...” Aber Herr Clément Henri Sanjon hatte Grund genug zur Sorge. Er begriff mit einem Male, daß er verloren war. Das Verhängnis hatte bie Maske bes Glüds aufgejegt, um ihn völlig zu verderben. Sein fpärliches dunkles Haar, bas er früher jo vorfichtig über ben fahlen Scheitel gebürjtet trug, hing nun in langen, grauen Strähnen von feiner Schläfe. Sein Kinn war nicht mehr glatt und glänzend wie ehedem, jondern raub und [truppig von den groben Bartitoppeln, die hervor: wucherten. Herr Clément Henri Sanjon tieb es nicht mehr mit Rrduterfalbe ein, er vergaß jogar, fid) zurafieren. Seine Augen hatten einen unruhigen, [djeuen Wusdrud befommen. Gein Utem rajjelte und feuchte, obgwar fein Baudlein täglich mehr dabin: ſchwand ... Herr Clément Henri Sanfon fühlte fid) febr unglüdlih. Cs war ibm zumute, wie dem Chef einer alten ehren: werten Firma, die nun plößlich vor dem Konkurſe Steht. Da entichloß er fic), von der Regierung einen Vorſchuß zu verlangen. Man nahm mit ihm ein umftändliches Protofoll auf, fragte ihn des langen und breiten, wozu er bas Geld brauche, und gab ihm nichts. Es fet mit der Würde des Strafvollguges nicht vereinbar. Man könne Syujtififattonen nicht im vorhinein verlaufen, wie iyelb- frucht auf dem Halme. Herr Sanjon badjte daran, fid) eine Guillotine aus der Proving zu verjchreiben. Aber feine Amtsbrüder haften ihn. Denn es war befannt worden, daß er fie allefamt verdrängen follte. Dann fafte er den Plan, fid) eine neue Mafchine in Paris anfertigen zu lafjen. Wher wie bie Behilfen táujd)en? Wie verläßliche Handwerker finden, die ihn nicht verrieten? Und wie fie bezahlen? e Er war nahe daran, dem Profurator des Königs feine Cd)ulb zu befennen. Es ärgerte ihn, daß man thm [o feljenfejt ver: 232 BSSSSeseasecsssy Paul Bifferer: IBGGGOGGGIGGGGGocGoc3d traute. Da fällten die Herren Urteile und meinten, nun [ei alles erledigt. Stan ver- IteB fid) auf ihn. Wie aber, wenn es ihm, Herrn Element Henri Sanfon einmal gefiel, ein Urteil nicht zu volljtreden. Die Rube all biejer Menſchen ſchien ihm taftlos. Sie verlegte ihn. ‚Herr Profurator,‘ wollte er [agen ... Nein, es fehlte ihm der Mut. Bradte er’s bod) nicht zuwege, fid) feinem Schwiegerjohn, dem Chirurgus, zu ent: beden. Go oft er fid)’s aud) vornahm ... Lieber ftillhalten, zuwarten, dem Schidjal die Entjcheidung iiberlaffen. Nur einmal noch wollte er es verfuchen, feine hartherzigen Gläubiger umguftimmen. Und ba er bei dem Gemeinderat Badiche und dem Charcutier Voiſin nichts mehr zu erhoffen hatte, begab er fid) neuerlich zu dem Bortänzer Legras in die Romijde Dper. Wieder begegnete er dem alternden Mädchen im roja Trifot. Aber diesmal hielt er tapfer jtand. Wud) das Mädchen erfannte ihn. ‚Aha,‘ dachte fie, ‚mein Rauf: mann aus Orleans! Man hat ihn tüchtig gerupft in Paris. Er fieht abjcheulich aus.‘ Und fie febrte thm den Rüden. Herr Legras probte gerade ein Inter: mezzo für den erjten Ball der Romifden Oper. Es jolíte etwas ganz Befonderes werden. Galt’s doch, bie Académie de Musique zu fchlagen. In dem Lederfoller eines Höflings aus der Zeit Heinrichs IV. begrüßte er ben Gaſt. Gein gefdminttes Antlitz verſchwand in ber jteifen Halstraufe. Zwiſchen zwei Entrechats fragte er Herrn Clément Henri Canjon, womit er dienen fonne. Und während er unermüblid) durch bas Foyer hüpfte, brachte Herr Sanfon, ibm mit ängftlichen, trippelnden Schritten folgend, fein Anliegen vor: „Ich bitte Cie ... um des Himmels willen ... haben Cie Mitleid mit meiner armen, unjchul: digen Familie ... unternehmen Sie nichts gegen mid." Die wirbligen Fußſpitzen bes Herm Legras [chlugen in der Luft vierfache Triller, während er verfprad): , Wir wollen nichts unternehmen, gar nichts. Wir warten ruhig, daß man zu uns fommt, die Guillotine holen. Mit fehönen glatten Banknoten in ber Hand, verjteht lich.“ Und trillerte weiter. . Bu Haufe wurde Herr Clément Henri Canjon von feinen Gebilfen erwartet. Sie waren unruhig geworden. Wann denn der Better aus Blois die Guillotine fchiden werde? Und was denn Herr Sanfon zu tun gebenfe, wenn das Inftrument nicht rechtzeitig eintreffe ? Ja, wenn Herr Sanfon das gewußt hätte! Wher er wußte es nicht. (Yr hatte bie Dumpfe Empfindung, daß er felber ge- fopft werden follte, und wie ein zum Tode Berurteilter hoffte er heimlichauf Gnade... Seine Gehilfen idjidte er auf bie Straße nad) Blois, der Guillotine entgegen. Und obgwar er bod) wußte, daß fie unverrichteter Dinge wieder zurüdfehren würden, ges währte es ihm eine gewilje Beruhigung, als er fie ziehen fab. Er dachte: ‚Es muß etwas gejchehen, etwas ganz Unerwartetes, wodurd) id) gerettet werde.‘ Und dies war der lebte Abend. Cr: barmungslos jchritt bie Uhr vorwärts. Herr Clément Henri Sanjon faß in eine Ede feines Mufeums gefauert. Kalter Schweiß ftand ihm auf der Stirne. Er gitterte am ganzen Körper. Unabläflig jtarrte er auf die Türe. Ws erwartete er jeden Augenblid, man müßte fommen, ihn zum Richtplatz Holen. Bei dem leijeften Geräufch ſchrak er heftig zufammen. Wie graujam die Menfchen ſchienen! Wie fie ihn quälten! Gr war bod) immer brav und ehrlich gewefen. Womit hatte er fein Ichlimmes Schidfal verdient? Gein ganzes Leben ließ er an fid) vorübergleiten. Cr fab fid) felber im Sonntagsgewand, wie ihn fein Vater gum erjtenmal ins Amt einfiihrte. Er hörte bte tiefe Stimme bes Alten, der ihn miindig fprad: „Komm, mein Junge!” Wäre ihm felbjt nur ein Sohn bejchieden gewefen! Vielleicht hatte fid) alles anders gefügt. Jedes Fältchen feines Dajeins durchforfchte er. Nirgends fand er eine Schuld. Und von neuem begann er zu grübeln: ‚Wie bod) bie Mtenfden graujam find!‘ Rings anden Wänden hingen die Bilder feiner Vorfahren. Zuerſt Herr Charles Canjon, ber unter der glorreichen Regie: rung Ludwigs XIV. in fein Amt eingejebt worden war, wie in ein Zehen, und dem jeder Händler bes Parijer Marktes ben Behent fdjuldete. Dann Charles Jean Baptijte Sanjon, das Kind. Mit fieben Jahren war er feinem Water gefolgt. | Lächelnd, gletd)jam tm Spiele, legte er feine o aque OBE e AS 0 GIS 6 — 6 ASE ee 5 AS 0 GS O AS 0 a EP o o ES D AES Be > 0 GSE 0 KIS 9 BS 0 AS een Der Kunſtfreund. Gemälde von Prof. Claus Meyer. <> Que $ rho 29 ati 0 ade 5 eR 6 EE O EE I SH A 0 KFS I D chu € dO 3 ES 6 pee 20 WEN u BD 0 Ti ti IS 0 ER 6-385 AE 0 ce —— — — € eee eee ee eee — r — — ann ESSSessessesSsSsesaq Der Herr von Paris. RRBBESESSSSSSOSA 233 winzige, gepoliterte Hand auf den Knauf der Waffe, bie ein Gebilfe für ihn nieder: laufen ließ. Dann Sanfon der Große, ber Bürger Sanjon. Bornehm gefleidet, wie. man ihm jeden Nachmittag in ben Wandel: gängen der Conciergerie begegnete. Den Zylinder nad) englifcher Mtode gefchweift, lorgfältig glatt gejtridjen das Haar, ben eng anliegenden dunflen Rod fehr affurat über ber Brujt zugefnöpft. Cin Gentil: homme der alten Schule. Mtan hätte ihn gewiß dem Herrn von Paris überantwortet, wäre er nicht zufällig felber der Herr von Paris gewejen. Schließlich Vater Henri Sanjon. Der war fo [din von Angeficht, bap fid) die eleganten Parijerinnen zum Schafott drängten, um ihn arbeiten zu fehen, wie fie bie Gomébte bejuchten, wenn Talma fpielte. Herr Clément Henri Sanjon wußte be: ftimmt, daß feine Vorfahren alle längſt tot unb begraben waren. Bor furgem erft hatte er bie Familiengruft in der Sanft Laurentius Kirche mit einem fitange aus Smmortellen geſchmückt. Aber plößlich war es ihm, als hörte er die Bilder [prechen mit bobler, vorwurfspoller Stimme. ‚Du bait Schande über uns gebracht,‘ flang es. Und dann [djien es ihm, als ob fid) bie Bilder bewegten. Langjam, feierlic) ftiegen fie aus ihren Rahmen nieder. Schritten brobenb auf ihn zu, immer näher und näher. Herr Clément Henri Sanfon flammerte fid) an den Türpfojten. Verglaſt ftierten feine Wugen... Da vernahm er, wie aus weiter Ferne, leijen Glodenjdlag. Cine Uhr fünbete die fünfte Stunde. Die Pflicht rief... Müh— Jam [chleppte er fid) an ber Wendeltreppe vorbei, bie gu den Gemächern feiner Gattin führte. Sein flehender Blick flammerte fid) an die Stufen. Gab es wirklich feine Hilfe? Bögernd, mit vielen angftvollen Paufen, Ichritt er ber Place de la Roquette zu. Bor dem Befängnistor warteteeinegroße Menjdenmenge. Männer und Frauen, in ihre Mäntel gehüllt, Hochgeftellt bte Kragen, drunter Faltnachtsgewänder. Sie famen vom Ball der Romifden Oper. Auch bie Herren Badide, Legras und Voiſin waren da. Der Vortdnger ftaf in einem Höflings- fleib aus der Beit Heinrichs IV. Der Charcutier hatte eine eijerne Rüftung an: gelegt. Die war Eigentum eines Dialers, der feit zwei Monaten nichts als falten Aufjchnitt ak, weil Herr Voijin ihm Kredit gewährte. Herr Voiſin liebte bie Kunft. Dod bie 9tüjtung hinderte ihn an jeder freten Bewegung. Dies verleidete ihm das ganze Vergnügen. Nur ber Gemeinderat Badiche trug einen ſchwarzen rac. Wber feine gefraujte Hemdbruft war von vergofjenem Wein durchnäßt, und der Zylinder jaB ihm chief und zerdrüdt auf dem Kopf. So hatten ihn bie Herren Legras und Voiſin ange: troffen, als fie gerade zum Gefängnis fuhren, ‚um dem waderen Firmin Trapu bas [ebte Geleite zu geben‘. Dies waren thre Worte. Cie hatten fid) wohl gehütet, bas Ges beimnis des Volljtreders der Strafurteile in Paris vorzeitig zu verraten. Dann ver: (dob man am Ende das ganze Speftafel, baute in aller Stille eine neue Maſchine, unb fie famen um ihr [dines Geld. Wher nun mußte der Staat bas verpfändete Nichtbeil auslöfen. Ohne fie fonnte ber Spaß nicht beginnen. Sie führten den Tod gleid)jjam am Bängelbande mit. Bor ihnen im Wagen lagen leere Cham: pagnerflafchen. Halbgefüllte Glajer hielten jie in der Hand und tranfen lallend ein: ander zu. Die Menge johlte und jchrie. Man wollte biejen Firmin Trapu fehen. Mo blieb er fo lange? Man fang Spott: lieder auf ihn. Man bradjte ihm eine Katzenmuſik. Der alſo Geſchmähte aber hörte nicht das Lärmen und Kreiſchen auf der Straße, hörte nicht ſeinen Namen rufen. Erſchlief. Man mußte ihn tüchtig rütteln, ehe er aufwachte. Dann räkelte er ſich langmächtig, gähnte etn paarmal und beflagte ſich ärger: lich, daß er aus einem fo wunderjchönen Traum gerifjen worden fei. ‚Die Freiheit, eine blutrote phrygifhe Mübe auf dem Haupte, habe ihn an der Hand genommen und aus der Stadt hinaus über blumige Wieſen geführt, auf denen die Sonne lag...‘ Und dann verlangte er fein Früh— [tüd. (Yr aß mit vielem Appetit, ohne fid zu becilen. Dem Almofenier bes Gefangniffes, der ihn zu [tóren verjudjte, wies er bie Türe. Noch auf ein drittes Brötchen ver: teilte er den Reſt feiner Butter, wilchte 234 SSSSsssesssosescsa” Paul Zifferer: BEGSSSSseesssssesa fid) umjtändlich ben Mund unb erflärte, daß er nun bereit jet, aufzubrechen. Gelber trennte er den Kragen von feinem Hemde und ließ jid) willig das lange Nackenhaar abjdneiden. Plumpe Scherze verfuchte er fogar: Ob man ihm nicht gleich den Bart deren könne. Dann erjpare er wenigitens, fid in den nächſten Tagen gum Barbier zu bemühen. Dem ?Dolljtreder der Straf: urteile in Paris, ber bei feinem Anblid zu erichreden ſchien, fchüttelte er frdftig bie Hand. „Ich werde Ihnen nicht viel Arbeit geben,” prablte er. „Sie follen jeDen, wie ein Patriot zu fterben verjteht.” Unten in dem Gefängnishof [tiegen beide in ben vergitterten Karren, ber fie auf den Richt: plat; bringen follte. Der Mörder Firmin Trapu mit einer rajchen entjchloffenen Be- wegung. Unjicher und zaudernd fein Bes gleiter. Hinter dem Wagen drein jagte, Bajtete die Mtenge, galoppierten atemloje, müde Drofdfengdule. Herr Voifin hatte einen Lotenhymnus zu fingen begonnen, den er von feinen mufifalijden Übungen Der aus: wendig wußte. Der Chor begleitete ihn. Mtan gab dem lateinischen Text die Melodie eines Gaſſenhauers. Es war febr lujtig. Manchmal jah man, wie jid) an bie ver: gitterte Luke des Nichtlarrens ein bleiches, etjd)redtes Antlib preBte. Da dachten die Leute, dies fet ber Verurteilte. Wher es war Herr Clément Henri Can[on. Und mandmal wieder fonnte man ein Paar funfelnbe Augen erfennen und finjtere, harte Züge. Da dachten die Leute, dies fet der Volljtreder der Strafurteile in Paris. Und fie erfchauerten. Wher es war nur der arme Sünder Firmin Trapu, ber fie fo angenehm grujeln machte. Soldaten hielten dite Place Saint-Tacques bejebt. Rings herum hatten findige Unter: nehmer SHolzgerüfte aufgejtellt, bie unter der Lajt der vielen Menfchen bedenklich ächzten und fnadten. Bon allen Geiten ftrdmte bas Volk herbei. Schon lange hatten bie Parijer ein ähnliches Speftalel ver: mißt. Einzelne Familien waren tags zuvor aufgebrochen, um fic) einen guten Plat zu lichern. Nun breiteten fie ihre Mund: vorräte aus und pofulierten. Junge Burfden waren auf die hohen Akazien ge: flettert und vergnügten fid) damit, Schnee: ballen auf bie 9taden der Mädchen zu werfen, bie fid an Heimen fnifternden Ofen bie Hände wärmten. Hier unb dort Hatte man Kantinen aufgejchlagen, bie gute Befchäfte machten. Flugblatter wurden verfauft. Darin waren in derben Worten Lebenswandel und Miſſetaten des Ver: urteilten erzählt. Schwertichluder und Tafchenfpieler gaben, blaurot vor Kälte, ihre Künfte zum Beſten. Herumziehende Mufifanten fpielten auf ihren gefrorenen Inftrumenten zum Tange auf, wie bei einem Jahrmarft. In der Mitte des Plakes war das Schafott aufgerichtet. Die Guillotine fehlte. Niemand fonnte jid) den Grund erklären. Allerlei Vermutungen [chwirrten burd) die Luft. Sollte der Verbrecher bod) nod) im lebten Wugenblide begnadigt werden? Diefer Lump, diefer Taugenidts! Wollte er denn alle um ihr Schaufpiel betrügen?... Da jab man ihn aus bem Ridtfarren jteigen. In feiner weiten Hofe, mit bem weißen gebaujdjten Hemde, das feinen Kragen mehr hatte, ſchien aud) er gerade: aus vom Mummenſchanz zu fommen. „Harlekin,“ johlte bie Menge. „Bapple, zapple, Harlefin!” ... Doc wo blieb die Guillotine? Mtan hatte fid) in der Tat auf Herrn Clément Henri Ganjon verlafjen. Es lag ja aud) gar fein Grund vor, fid) in fein Amt zu mengen, ibm zu mißtrauen. Dan fannte feinen Gifer, feine Bewifjenhaftigfeit. Die Guil; lotine war immer zur Stelle gewefen, wenn man fie brauchte. Sie würde wieder zur Stelle fein; pünktlich zur rechten Zeit ... Verblüfft ftarrte nun ber Profurator bes Königs bas leere Schafott an. Die (e: tidjtsfommijjion beftürmte Herrn Clément Henri Sanfon mit Fragen: „Die Guillo: tine! Schnell die Guillotine! Wo ift fie? Man fann bod) ben Verurteilten nicht warten lafjen!“ Hilflos ftand der *Bolljtreder der Straf: urteile da. Als verjtünde er bie Fragen nidj Er ftammelte, er ftotterte: „Die Gehilfen ... in Blois...” Glaubte er wirklich immer nod), fie würden wie Durch ein Wunder die Mafchine finden, aus dem Boden zaubern ? Noch [d)ritt ber Verurteilte ruhig auf und nieder. ,,Harlefin!” rief bie Menge erboft. Man wollte bod) feine Todesangjt (eben. Dazu hatte man ftd) herbemüht. ESSSSessssssssaa] Der Herr von Paris. BSSSSSSSsessd 235 Sdon fühlte man jid) halb unb halb ge: prellt. „Schlagt ihn nieder! Gefdwind! Cdjlagt ihn nieder!” Wo blieb die Guillotine? Jest. famen bte Gebilfen zurüd, ftaubbebedt, atemlos. Bis nad) Blois waren fie gereift. Aber der Vetter hatte vorgegeben, von der ganzen Angelegenheit nichts zu willen ... Wo war die Guillotine? Wo? Man nahm Herrn Clément Henri Sanfon ins Kreuz: verhör. Er ver|tanb nicht mehr, was man mit ihm fprad). Warum marterte man ihn? Warum tötete man ihn nicht gleich? Und plößlich blidte er in bas lächelnde Antlit der Herren Badiche, Legras und Voiſin ... Ach ja, bie Guillotine! ... Die Guillotine! Man Harte immer wieder bas eine Wort. Die Menge war ungeduldig geworden und fdjrie nad) thr. Grollend, drohend, fanatifd. Auch ber Verurteilte wurde drgerfid). ‚Wann diefe lächerliche Szene ein Ende finden werde?!‘ In bar[djem Ton bedeutete ihm ein Garbijt zu |chweigen. Das war zuviel. Mit furchtbar dröhnen: der Stimme begann er loszubrüllen, daß man es über den ganzen Blak hören fonnte: ‚er wollte endlich geföpft werden. Sein gutes Recht fet es, und er beftehe darauf. (fr Babe fich’s zugefchworen, für bie Frei: heit zu fterben.‘ Diefe Rede machte großen Eindrud. Die Stimmung [d)lug plötzlich um. Der wenige Minuten vorher ein Mifjetäter gewefen, ward nun zum Helden. Die Mtenge tram: pelte, [tampite mit den Füßen und applau: bierte. „Einwacerer Dann!” hießes. „Ein braver Mann. Ein mutiger Mann! Cr fol weiter jprechen!“ Und bann begann ber Verurteilte von neuem: „Bürger .. ." Weiter fam er nicht. Man fdjrie, man rafte. Man durchbrach die Doppelte Reihe der Soldaten, drang bis zum Blutgeriift vor und [tedte es in Brand. Man jchob die Wache beifeite, hob den Mörder Firmin Trapu auf die Schulter und fang revolu- tionäre Rieder: „Et dansons la Carma- gnole.. .“ Doch immer wieder dazwiſchen gurgelte, gellte der Ruf: „Tötet ihn, aufs Schafott mit ihm!“ Aber der Ruf galt nicht mehr dem Ber: urteilten, fondern bem Bollitreder ber Strafurteile in Paris, Herrn Clément Henri Sanfon. Wo war er? Wo Hatte er fid plöglich verborgen? Verſtand er die ſchwarze Kunft, bag er fid) und die Maſchine unjidjtbar machte? Die Mtenge durchjuchte den ganzen Blak. Man ftürzte den Nicht: farren um. Er war leer. Einzelne wollten gejehen haben, wie Herr Clément Henri Sanjon von einem Pilett Gardiſten forts geführt worden war. Andere glaubten, er habe jid) in ein Haus geflüchtet. Dan durchſuchte ringsum alle Gebäude vom Keller zum Boden. Hartnädig, erboft, wie Tagdhunde ihrem Wild nachpirjchen. Aber man fand ihn nicht. Herr Element Henri Sanfon blieb verjchollen . . . Viele Jahre fpäter behauptete diefer und jener, er jet ihm begegnet, einem zittrigen alten Männchen, bas fofort ängftlich ba- vonhumpelte, wenn es fic) beobachtet glaubte. In dem Kleinen Städtchen Pro: pins wurde [ogar das alte verfallene Haus gezeigt, bas er angeblich bewohnt. Das Haus des Henfers nannte man es ver: üdjtlid). Die Nachbarn flagten, fie jeien oft von ben Chorälen beläjtigt worden, bie er des Abends auf einem fchlechten, mif: tönenden Harmontum jpielte. Der €ebte aber, ber mit Beſtimmtheit angeben fonnte, er habe Herrn Clément Henri Sanjon gejehen, war der Profurator des Königs Louis-Philippe. Ihm Hatte der Vollitreder der Strafurteile in Paris eine genaue Aufitellung feiner Schulden geben müſſen. Teilnahmlos ftand er ba, als ginge ihn dies alles nichts mehr an. Als fet er Idngjt geftorben und wandle nur irrtümlich nod) auf Erden. Und einmal nur zudte er zufammen, als er die heijeren €ieber hörte, bie von der Straße empor: fladerten, Heine Flämmchen des Aufruhrs. In obumüdjtiger Verzweiflung ftredte er bie Fauft gegen bas Genfter, als fame daher all fein Unglüd. Und wie von Ekel gefchüttelt, murmelte er: „Der Pobel!”... 5 A, DX 18 X | DX 18! X) vA > Die Münchnerin. Bon Frig von Oftini in Münden. as fet im voraus eingeftanden: Der Titel ijt eine Attrappe! Bon „der Münchnerin“ wird hier nicht die Rede fein, jondern von Münch⸗ à; nerinnen. Die „Münchnerin“ ext ftiert nicht. So wenig, wie „die Wienerin“ oder „die Berlinerin”. Und wenn das Wort „Die ne im folgenden gebraucht wird, fo erjeßt es eben nur eine Ally Sag: periode mit einfdranfendem „Wenn“ und „Aber“ und „Das heißt... .” zen Bund bat aud) bier die Schuld, uralte vielleicht. Und dann: die höchſten Stufen der fozialen Sdidtung find überall pore — Die große Dame, von der erften Hofrangflaffe bts et= was weiter hinunter, fiebt in München aus wie in Berlin oder an der blauen Donau. Unterjchiede beftehen im Grunde nur im Zoilettenbudget ober im jenem leichten Anz Hang von Dialekt, ber einer Rede von ſchö⸗ nem Wunde erft Wärme und Mürze gibt. Unterjchiede be|tebem vielleicht aud) nod) in ber gejelichaftlichen Form, bte hier um eine Nummer ftrenger, dort um einen Schatten leichter genommen wird, bie hier ein bißchen mehr, dort ein wenig minder die Komödien und Tragödien der Herzen verhüllt. Erſt unterhalb jener internationalen und uniformen „Hofſchicht“ beginnen bie feineren Unterjchiede. Und fie werden deutlicher und podlen mit ber wachjenden Freiheit bes Lee ens. Aber guerft gum Außeren! Wenn unjereiner nad Berlin fommt, wird er bin und wieder Frauen feben, blond, hodgewadjen, ftattlid) und ein wenig ab» weiſend in threr Art, die vielleicht nicht „die Berlinerin“ find, uns aber fo erjcheinen. Und in Wien wird er Frauen eie pom einer gewillen anmutigen und lalligen Fülle, eles ante, brünette Frauen mit dunflen und Ieb: bat redenden Augen, Frauen, bie thm den ypus ber „Wienerin“ vor|tellen mögen. Den Typus der Münchnerinnen wird ein rember in der Iſarſtadt vergeblich judjen. ier Hat nicht, wie vielleicht in Wien, die affenmijdung den Typus einer neuen Rajje geihaffen, bier beftehen aud) im Außerlichen ungezählte Typen nebeneinander. Die Brü- netten find in der Mehrzahl. Schwarze nicht felten. Sogar Frauen mit tiefblau- chwarzem Haar fommen merfwiirdigerwerle in allen Schichten vor, und man muß ben Ursprung dieſer Bejonderheit vielleicht weit an in der Gefdidte fucken. Vielleicht ei den Türken, bie Rurfiirft Max Emanuel, der Sieger von Belgrad, in reichlicher Zahl mit nad) München brachte. Oder vielleicht nod) weiter zurüd: rings um München ijt uralter Rulturboden, auf Schritt und Tritt polen man über rdmijde Walle unb fel: ifche Gräber. In nádjjter Nähe Münchens follen jid) nod) gewifle Enflaven mit faft unvermifchten altrömifhen Wbfdmmlingen bis in unjere Zeit erhalten haben. Und im XVII. und XVIII Jahrhundert tamen durch bie pruntliebenden Rurfiirften italieniſche Künſt⸗ ler und Bewerbetreibende in folder Maſſe nad München, daß welfde Namen bei alt: münchener prp nicht jelten find. Go fann man jid) jenen ,bunffen (inidjlag" leicht erfláren. Cine große Zahl ber Münch— nerinnen fieht romaniſch aus. Lichtblonde Frauen fieht man — qo de natürlich von denen, die ihr Blond aus Parts beziehen — nicht oft. Am meijten in jenen Schichten ber Kunftwelt und Boheme, die jet einen fo ungeheuren Zu ug aus bem Norden hat. Häufiger ijt ein ul lond, bas mit den Jabs ren immer bunfler wird. In der Figur neigt bie Münchnerin gerne zum Runden. ,, Mollet’ nennt man das im einheimijchen Idiom. Cin gang Hein wenig mag bas ja mit dem Nationalgetränt gu: ammenbangen, ein wenig mit ben em hblegma — id) rede nur von duperlidem Phlegma der Bewegung. Denn was bas innere Temperament betrifft, jo erfreut fid) die Münchnerin im allgemeinen einer recht warmblütigen Lebendigkeit. Im übrigen tft biele — bie phufiologiichen Zujammen« hänge lónnen wir bier nicht weiter erörtern — armblütigfeit ja meijtens mit anges nehmer Rundung ber Form verbunden. Als der große Franzoſe Gourbet — ich glaube im Sabre 1869 — ... elu Datte, wo er mit feinem Freunde Wilhelm €etbI ſchwei⸗ end und vergniigt beträchtlich viele Daß im Sofbräuhaufe zu leeren pflegte, da bradte er als eine feiner merfwürdigiten Entdels tungen die Nachricht nad) Hauje, in München hätten „les femmes de vraies tetons*. Jn Paris miifjen demgemäß damals „echte Büſten“ eine große Seltenheit gewejen fein. — Diefes Dokument ijt zu kurios, als daß man es aus PBrüderie ane unterjchlagen dürfte. Typifdhe WMiünchnerinnen: Augen fenne id nidt. Grau und Braun mag vorherrichen. Nicht ganz felten habe ich bei dunflem Haar lidjtbraune oder Dellgraue Augen gejehen — ein Phänomen, bas unbeimlid) berüdenb auss leben fann. Hände und Füße find angenehm mittelgroß. Der fráftige, gerade Händedrud ber Münchnerin fann vielleicht als ein Chas rafterijtitum gelten, ebenfo thr energiſcher und fidjerer Schritt. Zierlichteit it nicht immer vorhanden, aber 3ierlidjfeit ijt wahrhaftig nicht ber bódjite Neiz einer Frau. Tizians Venus in der Tribuna zu Florenz ijt aud) nicht zierlih. Befinne ich mid) recht, jo bes Ue MEC a. cag — J — — — 2 OSL SL SPSL SESE SL SESE SL] lebt ber Hauptreiz ber pad LUE will agen bes in München am meilten verbreis teten und gejchäßten Frauentypus gerade in einer gewitlen erbbeit unb geltigteit bes Wefens —, bie febr wohl mit liebenswiirs biger Wärme unb Schmiegjamleit vereinigt ein fann! Und im lebten Grunde find es efe Eigen a der Frau, die München einer Joldyen Beliebheit im Reiche gebracht aben. Dan Ichwärmt — oft über Gebühr — für Münden und liebt unfere gar nicht fo unbedingt und in allem Itebenswiirdige Stadt, bie, ehrlich fet es geitanben, nicht immer gleiches mit gleichem vergilt. Man liebt ebenjo bie Münchnerin, ihre offene und tmütige arant, ihren leichten und Fabtigen inn und bie freie Unbefangen: , mit ber [ie fic gibt — in jedem Sinne! Da liegt der Zauber, der Zauber der Stadt und der Frau: Die freie Unbefangense heit! Reine andere beutidje Stadt und deutſche Frau hat ibn. Gener Zauber leiht dem Münchner Leben feine Wärme und feine Far: be, jeine Süßigkeit und feine Befahr. Die Ge: A cee freilich find hier fo geheimrät- id), die Stiftsdamen fo jtiftspämlich und bie CpieBbürgerinnen jo [pteBig, wie anders» wo. Durch ben Kontraft vielleicht noch mehr. Wo bet „chineſiſchem Heuwafjer“ der SJtajfen: mord weiblicher Reputationen überhaupt [portmäßig betrieben wird, ijt die Entriijtungs: traft und die Lieblofigteit — ber Klatſch aud bier unermeplid). Noch unermeßlicher als ans Derswo — denn der Stoff zum Klatſch ijt metjt im Überfluß vorhanden, bas muß einges ftanden werden; es wächſt und gedeiht reid: lider Standal an der Sjar. Kaum darum, weil man bier im Innerften unmoralijcher wäre, als im au ne fälteren Norden. Sd) bin jfeptijd) in diefen Dingen und glaube, daß die are vom verbotenen ‘Baume übers all gleid) [tart begehrt, aber nicht überall gleich heimlich per|peijt werden. Aber man tit n leibenjdjaftlidjer, ift weniger forgfam im ‘Berjteden, weniger ängitlic) vor ber bójen Nachrede, ijt unbefangener, mit einem Worte. Man ijs in bójen Dingen wie in guten. Diefe Unbefangenheit verichönt ben wildeften Taumel des flüchtigſten Genuffes im närris cen Faſching, wie das ftille Blüd der ech» ten Liebe; fie ijt dann wieder bas Gubftrat jenes feinjten Gefühlsverhältniffes, bas es von Menſch zu Menſchen gibt ber Freundſchaft wilchen Diann und Weib, bte, wie ich glaube, ier befonders oft und wohl gedeiht. Gie ift bie Grundlage fener Gefelligfeit, die ber rembe an den Iſarathenern — natürlich nur beitimmten Kreifen von Bfarathen! — jo febr rübmt, ber feden und ungebundenen ele igfeit ber GenteBenben, wie der edleren Geljelligfeit ber Rulturmenfden. Der Hein: bürgerliche Mitteljtand freilich ift bier unge: jellig, wie felten wo, und vor nicht langer Seit war es aud) nod) bie beitjituierte Bours geoifie. CEs ijt faum mehr als ein Menjden: alter her, daß man bier d ins Haus eines Biergroßinduftriellen (mit Karten) zur Cot 5. v». Oftint: Die Münchnerin. BSS3333334 237 ree geladen wurde und dafür — feinen Taler Mabhlgeld bezahlte. Und die Familientreife, in denen man zu gejelligen Zweden einans der in Der Wohnung bejuchte, wobei jeder Gajt jid) Bier und Ejfen auf eigene Koften aus bem Wirtshaus holen läßt, Dat's nod) vor furgem gegeben — gibt's wohl nod) heute. In Dielen reifen bat die Frau feine T0 iognomie — bas fann man Sich benfen! Wher onjt fann man bier eine ganz unbegrenzte, vorurteilslofe an nben, eine, die nicht auf Brunk und Renommage geftellt rik ondern nur das eine Ziel hat, daß bie Bälte id) wohlfühlen. Und tm Mittelpunft eines olden 3irfels fteht immer eine liebenswürs Dige, ee und füdjige Frau. Die Münchnerin weiß zu laden und zu verftehen — immer abgejeben von Gtifts» damen und Beheimrätinnen. (Cie bat den Humor, der aus Cinnenfreubigteit unb Gite gemil t ift. Und aus Gejundheit. Alles umpfe, ?Berbrebte und Fremdartige, all bas Lichtſcheue und Schwüle, bas im Frauen: leben ber Großſtädte gedeiht, gibt es gan natürli auch bier. ber gewiß ijt, da erade Dies, wie übrigens Jo manche andere inane und nichtichöne rua eddy bes ünchner Lebens, Import ijt. Jenes Leben ijt im Grunde gejund — auch in feinen Feh= lern. Wher es wird beeinflußt durd den unges Ad Zujtrom von exotilchen Cxijtengen, von ejen, deren Woher und Wohin rätjelhaft bleibt, von Männern und Weibern, die a fommen, weil man in dem internationalen Ge: wühl der Münchner Boheme leicht untertaus chen und leicht aud) wieder obenauf Schwimmen fann, von anderen — und bas find bie Gefabr= Iichften für unfer einheimifches 9Bejen! — die in Echaren herbei fommen, weil fie die fede Freiheit, bie bier blüht, zügellos zu ges nießen gedenfen. iy bie Verſchlechterung bes Tons unb ber Gitte in bejtimmten frei: fen haben bieje nicht wenig getan. Bon einem Typus der Münchnerin, die auf dies fem Boden müádjt, let jpäter bie Rede. Oben ward gejagt, daß die große Dame bier genau [o ijt, wie anderswo. Die llei« neren Damen im allgemeinen wohl aud, die Beamtenfrau und bte feinere Biirgersfrau. Auch die aoe ee Tugend hat überall das —— Geſicht. Sn München gibt's, wie in erlin, jene tapferen kleinen Frauen, die in Enden Haushalt jid) nad) ber Dede jtreden unb bei einem fnappen Budget mit Gragie ausfommen. Es gibt aud) jene Bürgers» frauen, bie in ber Menage bie wirtichaftlich wertvollere Pa repräjentieren — fie [tn in manden Serufsfreijen fogar typiſch. Gebr oft hält bann die Frau zulammen, während der Mann vertut; fie fibt im Hide gerladen, fie müht fid) in ber Wirtsküche von früh bis nachts, während der Herr Ges mabl im ,3eugl^ berumfutjdiert oder im Caféhaus Tarod und Billard fpielt. Gie wird bid und jchwerfällig, und wenn fie am Sonntag fic aufdonnert mit Brillantboutons, Riejenhut und teuerem Pelzwerk, fteht te 238 pecessssssssad Fritz von Oftini: § nicht eben vornehm aus. Trobdem find ge: tabe unter Ddiefen berben GBejchäftsfrauen pradjtvoll tüchtige Menſchen. Im allgemeinen aber ijt die Neigung zum Luxus und zum eben über bie Verhältniffe im allzu leicht: lebigen München auch bei ben Frauen groß, it gerade in den legten Jahrzehnten enorm gewadjen, und zumal im Karneval, der hier alles gleich madt, wird nicht eben gefpart. Bälle und Redouten gibt’s wie Sand am Meer, und ba walzt die jolide Ehefrau, Ichwigend unter Domino und Mtasfe, aber mit vergniigtem Gleichmut neben der Kos fotte ober dem Süßen Mädel, trinft ihren Sdampus an einem Tijd) mit der Sjalbs weltlerin und fieht dtefe eher mit Neid an, als mit Geringſchätzung. Diefe Gleichheit unter dem Zeichen ber tönenden Geigen und ber flingenben Schelle ijt ganz ähnlich, wie jene andere Münchner Gleichheit unter dem Zeichen bes Maßkrugs beim Galvatorbier oder auf dem Oftoberfeft. Nicht bloB bie Bourgeoife, die auch einmalein Stiid Lebewelt denteber will, findet den ae zu jenen Re⸗ Douten und bals parés. Auch die Damen der befannten feinften Rreije — und in Diengel Bis zu ben Doffübigen und den titelftolgen Frauen ber Beamtenhierardie. Einmal im Karneval wenigjtens jdlangelt man jid) an einem Mittwoch ins Deutiche Theater, tief vermummt, und weidet fid) am Dunjtfrets der „Sünde“ jatt. Hinterher fann man fid ja entrüjten! Man fieht aus der Loge zu, wenn in vorgerüdter Stunde bie Duadrillen fh gum Bacdanal entwideln und die funft- reihen Figuren ber Francaije zu einem wil« den „Drehen“ und Ctampfen mit obligatem Indianergeheul vereinfacht werden. Wenn in der berühmten Ede linfs vorn an der Bühne, wo der verjtorbene 9tecanicet pflichtgetreu auf den bals parés feine Studien nad bem Leben p machen pflegte, bei ben Schlußfiguren ber uabrille bie Tanger ihre Damen gelegentlid aud) mit Hallo hod in bie Luft heben beim ,Srab'n" — und nicht immer mit bem Kopf nad) oben — da gibt's ſchon Backhantinnen, bie's toll treiben, und Lebensanſchauungen treten zutage, bie nicht mehr „ſchöne Unbe- fangenheit” heißen können. Da war 3.8. einmal einer in unferer Nähe, deffen blondes Gemahl jid) eben zappelnd und jauchzend durch bie Luft ſchwenken ließ unb der in fraf- tigem Münchneriſch gelajjen ihr lebhaftes Temperament mit ben Worten fenngeid)nete: „Der ärgite Feen is bod) met Frau!“ Ein Blanzliht — und ein Schlagfchatten! Auf diefen Bällen geht es gewiß oft bis an bie Grenze. Und wer fSittenftreng ijt, mag den Rove Ichütteln. Nur eins muß bes tont werden: bier treiben ne und Übermut ihre Exzeffe — Gewinnjudht nicht. Das Bemeinite fehlt. Hier ilt ein — ſabbat, aber nicht etn Markt. Das Unters tauchen in 9taujd) und Taumel ijt für viele dieler Dominos, Ihäbige und elegante, vers wegene und bisfrete, angejahrte und junge, der einzige Sonnenfchein in einem Leben, das fonft in aux Monotonie Sorge und Arbeit ausfüllen. Sm allgemeinen ijt für die Miünchnerin überhaupt die Liebe mit allem, was damit zujammenhängt, Hergensangele- enbeit, bei der fie nicht an ihren Borteil dentt, dem nur allzu oft ihren Vorteil, ja ihr Lebensgliid ver stirs ae ce Wie viele, die ihre jungen Sabre hier verbradt haben, benfen mit Wehmut unb Riihrung an Münchner „Verhältniſſe“ zurüd, Ber báltnijje, bie leichtjinnig gewejen fein mögen, aber immer ihren Schimmer von Poefie hats ten, von einer fanften Glut von Güte durch⸗ haucht waren! Herr Balduin Groller Bat an biejer Ctelle vor on und Tag ausge: führt, daß das „Süße Mädel“ in Wien nicht bobenjtánbig xs Auf bem Münchener Boden wächſt dies Pflänzchen reichlich — ich denfe, von hier [tammt jogar ber Begriff, der jeinen Namen je wohl aus einem Gedicht Ernft von Wolzogens erhalten bat. Und bas Ge: dicht entitand hier, foviel ich weiß! Das Münchener Süße Mädel bat mit ber Grifette ber Parijer Boheme bas eine gemein, daß fein Zeichtjinn, feine Giindhaftigfeit in der Regel feine Berechnung kennt — und bie tft es ja bod) wohl, die folde Dinge, erit ſchmutzig madt. Es tjt lebensluftig, rote jene, ein wenig jentimental und im übrigen reicher an Humor als an Brundjäßen. Faux mé- nages gibt es faum in ausgedehnter Menge, das erlaubt jdjon die Polizei nit — Die Damen find in folden Fallen meijt nicht Münchner Mädels, fondern gugegogene Mite pO ber intelleftuellen Zigeunerei. Das üBe Mädel von München wohnt nidt mit dem ,Cdab5" zujammen. Es tjt eine Rell nerin, Ladnerin ober ein Putzmamſellchen, bas tagsüber arbeitet und abends nad) fieben © von feinem Studenten, Runftbeflijfenen ober lonft einem liebebedürftigen jungen Mann an ber nádjiten Straßenede erwartet wird. at er was — gut! Hat er nidts — und lie was — aud) gut! Haben fie alle beide nidts, dann teilen fie es reblid). an lebr oft ijt jte bie Gebende, zumal wenn fie dem Stande ber bejjeren Kellnerinnen ans ehört, bie bübjd) Geld verdienen, oder wenn fe ein fleines Gejchäftchen betreibt, einen ugladen hält oder Ähnliches. Wie oft i ter Jold) etn Mädel einem Syüngling, deflen rau Mama es nur mit einem fi donc! ane djauen würde, über |d)mere Zeiten wegges holfen, hat ihm ihre Liebe, ihre Jugend und ihre S IpRHU E eopfert unb ibn ſchließlich großmütig und ohne Vorwürfe ziehen laſſen, wenn’s „aus war’. Syd) täufche mid) nicht darüber, daß es von joldjen Dingen bier mehr gibt als gut ijt; ich weiß aber aud), daß joldje Dinge nicht ſchlimmer werden ba: durch, bap fie mit naiver Offenheit betrieben werden, |tatt mit ſcheuer Heimlidfeit. Ein Schimmer von e De von Romantif, ein Duft von Schönheit liegt über diejen Sünds Bern Der Fremde, ber im Münchner arneval auf Abenteuer ausgeht, |pürt bas Jofort an den flotten Dominos, bie er fennen ESISSSSEIIIISITTN Die Mündnerin. 239 lernt. Die wollen von Gefellfdaft fürs erite nichts, als einen lujtigen Abend, fommt’s bod) ein Souper. Gind folde dazwilchen, die frech nach feinem Geldbeutel enm. jo finb's gum guten Teil gajtierenbe Abenteue: rinnen, wie fie ja unjer Karneval aud in Mailen anzieht. Der Karneval! Nicht nur die Früchte, die, nad) Dumas’ hübjchem Vergleich in der „Demimonde”, bas bewußte Heine Fleckchen ober ben Wurmjtich aufweijen, find hier bes fonders lodend, fondern aud) die gefunden rüdjte im 9tad)barforb. Die Frau hat ier noch den Mut, einen Spaß J— und einen Spaß zu verſtehen. Hier gedeihen noch Maskenſcherze, bei denen alles eifrig mittut, bei denen nicht wie anderswo die, die etwas fid halten, mit fiifft- enn $üdelt auf bie Spaßmadjer herab» eben. Die Münchnerin „kann einen Buff vertragen“ — einen Tritt mit bem Jtagels (fub ober einen Stoß mit dem Ellbogen auf dem Bauernball, aber aud) das etwas re Hair erzwort eines Tänzers, der n berber Maske jid) berb ausdrüdt. Gie will nicht bloß ſchön fein, fondern die Rolle ausfüllen, bie fie für den Abend auf fich ges nommen bat — fei’s nun als intrigterender Domino oder in der burlesten Bermummung eines Riinjtlerballes ober at: Cie ijt Dann zu jeder Selbitverleugnung fähig, wie d fibermütigiten Tollheit unb vor allem azu, B und bte Bleichgeftimmten unbegrenzt in amüfteren. “Die fünjitlerijd)e Atmoſphäre lindens läßt ein bejonderes Geſchick für Erfindung drolliger, phantaftijcher ober ſchöner Gewänder erjtehen, bte bunte Diannigfaltig- leit der Typen, der aftive Humor ber Mäd» den und Frauen, tut das übrige, ſolche Mbende oft zu unvergebliden Fejten bes Lebens zu aotialien. ter lei aud) von ber Toilettenfunft ber Münchnerin gefproden. Man fieht bier vielleicht jebr viel weniger flotte Eleganz, als bei der Wienerin, aber man fieht mehr in⸗ bipibuellen Schi, mehr perjónlidje Abftim: mung in der Kleidung, als in Berlin. Das geht bis an die untere Grenze des gutfituierten Mittelftandes. Darunter wird’s übel, — end ir am Werktag — abgejehen natürlich pon den Mädels ber Konfeftion und ver: wandter Gewerbe. Die gewöhnliche Arbeites rin fleibet fid) jo reizlos und untveiblid), wie anderswo in Deutidland auch — man bes eift, Daß a. B. ein Franzoſe, der zum erjten ale bier i unjere Stein: und Mörtelträges rinnen in "ber Uniform der jchweren Arbeit oder unjere berbfnodjigen, halbmännlich ans gegogenen „LZrambahnweiber“ mit äfthetijchen und jogtalen Schaudern erblidt. Gie ers nen ihm als Br al Verkörperung er Unkultur. Ich weiß mich zu erinnern, daB uns vor langen Jahren ein großer Pariler Zeichner, deffen Spezialität es war, die Not bes Proletariats zu Ichildern, be die Jugend eine Gejdicdte illuftrieren follte, in der ſolch eine Bauarbeiterin vorfam. Er war ratlos — in feinem Paris gab’s für fo etwas fthlechterdings fein Vorbild! Die Wohlhabendften üben natürlich aud bier jene internationale Eleganz, bie feine a E Unterfdiede, nur Nuancen Tennt. Die Münchner Nuance mag eine gewilfe malerijdje Note fein, bie fid) in der Wahl bes Cdjmudes und der Farben ausdrüdt. Man fieht I vielleicht beim Schmud mehr auf ein bejonders hübſches Stüd! Arbeit, einen mertwürdigen gar entlang, als auf fnallige Rojtbarfeit der Steine, und im zn ers unb Literatenfreifen begegnet man wohl aud) nod) — id) ſage nod)! — ben ver: Ichiedenen Varianten bes Reformfleides mit irgendwelcher aparten Handarbeit. Den ab: Admadt häßlichen „Reformſack“ trifft man eilid) nur nod) bei den Mal: und Dicht: weibden ber Schwabinger Boheme, und aud) bier hat er metit jdjon der burſchikoſen Sportstleidung Pla gemadht — im Winter Ihon s Man fieht in den Frauen diefer Schicht ber merfmiürbigiten Typen genug. Müncdhnerinnen fann man fie jelten nennen. Die exgentrijd)ften fommen aus dem jlawilchen Diten und nicht wenige, wie gejagt, aus dem germanijden Norden. Sie fommen, tauchen auf und tauchen unter. Der Vorwand, unter bem fie fommen, ijt meijt bie Runft; die Ab⸗ ficht aber, bie fie Herführt — die Münchner Freie heit ein wenig zu genießen! Die einen tun’s wilder, Die andern — und ein kleiner Teil iſt prächtig in ſeinem Fleiß, ſeiner Energie und der Tapferkeit, mit der er ſich durchſchlägt. Ich denke, recht viele geben das Genie-Leben wieder auf und werden Alltagsfrauen, irgendwo, irgendwie, wenn es müde geworden ſind, von dünnem ee und eißen zu leben. Gar manches Leben freilich wird wurmſtichig in dieſer Welt, wo die ſchöne Redensart nur p oft ber puren Schmutz vergoldet und bie Phraſe alles Joe: bie Kunft, die Liebe unb bte Weiblidfert. Unfere Malweiblein im Lodens lac oder im weiß gewejenen Gweater, wenn ie mit kühnen Männerjchritten neben lang mabnigen Genofjen einberftampfen, die Lud wigsftrage herunter, oder wenn fie fid) in Wonne und Entzüden auf den Diwans der „Modernen Kunjthandlung“ winden, it Bilder van Gogh oder Cézanne ausgeitellt werden, find jehr drollig — gewiß! Und man lacht über fie, und bie Witblätter haben ihren Stoff an ihnen. Wher hinter ber Groteste ftedt oft genug das Elend. Das lebt in München — aber das iit nicht Miinden! Das lebt ja auch in Berlin, und id) babe Exemplare vom reinjten Waſſer dort in ,literarijden” Kneipen gefehen. Das Schöne und VA i M Ge an ber Münchnerin ijt vielmehr, daß fie thre Wne mut und Weiblichkeit nicht über ber Unbes ee ihrer Mebensanjdjauung verliert. n jenem Zigeunertum [tedt eine bittere Hus m — es Bat ein trosig verbifjenes Ges ide ündjnerijd) Dagegen tit es, eine fröh⸗ the 9tadjjidjt zu haben gegen die andern — 240 ESSSSSSZTI iW. v. Oltini: Die natürlich aud) gegen fid) felbjt. Die Toleranz der Geritiquf geht hier ziemlich weit, wenn ihr Objeft im übrigen Sympathie verdient, wenn es ich nicht nur bie ſchöne Uns een der Sitten leijtet, fondern auch gable, ott und Dergensgut ijt. Da tlt lindjen ein "Rlein Saris", ter ift bie Ninon be PEnclos möglich, die frau, deren eingeltandener Lebensgwed die Liebe ift — adj, id) babe fie mehr als einmal fennen elernt in drei Degennien, jeit ich gum erften ale die nod etwas fteifen Schritte aufs Parfett der „großen Welt“ tat. Bon den eleganten CErjdeinungen, bie ich Damals in Balliälen bewunderte, lebe ich immer eine nod) vor mir, die Frau eines großen Finanz⸗ mannes, bildfchön nod) im grauen Haar und immer nod) lebens und liebesluftig. Bon ihren „Schägen“ wußte bie ganze Stadt — [con Jeit der Krinolinenzeit — und ibramant à titre erſchien tegetmáBt er mit thr in ber Welt, ee ann. Oft a neben ibm. Wenn fie wedjelte, wußten’s alle — und fie an Jo unbefangen von ihm, wie von ihren Pferden. Cie war ein Mufter an Eleganz, an per: önlicher, ftarf afgentuierter; ihr Träftiges, elles Laden war Muſik, und der warme nflang an Dialeft [tanb an) Organ vor- trefflidh. Shr klaſſiſch gejchnittener Kopf fiberitrabIte in feiner pom en Wirkung aud) bie Jungen. Gie war überall zu feben, wo Leben war, und alles huldigte thr. Cie bes bauptete ihre Pofition, tro& allen Klatiches und allen Neides, mit rir a Sicherheit, fie ftand bei Wohltätigkeitsfeſten neben Durch» Iaudten unb Day sina und ging auf dem „Armenball” am Arme eines echten Prinzen und nad) ber Polonäfe wieder an der Geite ihres eleganten Freundes. Gie nahm bie Freiheit ıhres Liebeslebens als ihr Necht und verjchleierte nichts, und fie behaup» tete jenes Recht und thre Polition ſieg⸗ reich gegen alle Boreingenommenbeit echter unb eingebildeter Dioral. Das war eine Münchnerin unb — id fann mir nidt ad — eine ganz — dazu! Sie tjt ſeitdem längſt als Urgroßmutter ge: ſtorben. NE Die Toleranz und Freiheit der Münch— nerin er[tredt jid) — zu ihrer Ehre fet’s gefagt — wahrhaftig nicht bloß auf bas, was man L die Sitte heißt. Das wäre billig unb in older Ginjeitigfeit fein Ruhm. Wenn wir ier in München jo gar fein Kaſtenweſen aben, fo ift auch bas wieder bas 3Serbienit - ber Frau. Denn bie Kaften-Borurteile im immer von den Frauen aus. Hier in Mün⸗ hen beftehen fie nicht — ausgenommen viel: leicht für bte Hoffabigen, bte ja überall bas ab: fonderlihde Recht in Anjpruch nehmen, fich WIE. Cay 6) (9) W X9 Pb iE n qm. V4 - \ EN Py mp4 — u ® (9 (9) —J*ol6)y— (9) "ZI Ax NEN EU! | 6 CCl * OU Miindnerin. BESSssesessessed bie Geſellſchaft zu nennen. Gonft gilt im allgemeinen bet bem Münchner der Menſch. Sit er — eg fie — ein netter Kerl — fo Hy fte überall willfommen, wo fonjt nette eute verfehren. Und gar, wenn irgendeine perjönliche Tiidhtigfeit, ein künſtleriſcher Vor⸗ zug Damit verbunden if. München ijt die Stadt ber Mtesalliancen; aus jenen ſchnell⸗ efniipften Herzensbündnijjen —— einem ann aus höherer Geſellſchaftsſchicht und einem Süßen Mädel, das gar feine Gebo: tene ijt, entwideln fid) unzählige Eben, und Jie gedeihen merfwiirdig oft zum Buten. Es wird freilich auch hier viel gejchieden. Aber nicht felten ijt es, daß jene Frauen, die nad) ber Auffalfung der „Beborenen“ nirgendwoher fommen, fid) jadjte und ficher durch natürlichen Sjersenstatt und reinmen|d): liche UNE einen felten Blak in der Gelelfjdjaft erobern und zu deren Lieblingen werden, in ber Bejelljchaft, bie eben München it und in der man fid nicht langweilt — aber auch nicht nur im Sinne der rohen Ges Be amüfiert. Den Freibrief für Diele Geſellſchaft, Mis München, gibt fein Rang, fein Titel und feine olen und Leute, Dte anderswo febr exfíujto fein etia miifjen x bier oft recht viel Mühe geben, wollen ie als Narr Ms eingelajjen werden. Da gibt's feinen jelbitverftändlichen „Sofas lah“ für bie Frau Regterungsdireftor — enn vielleicht Es gerade auf diejem Pla die [done Schauipielerin X, ober die inter: ejjante Dtalerin 9), ober gar die anmutige Frau 3 — Gie wilfen bod), bie, bie früher auf dem Überbrettl fo große Triumphe ges p bat! Wir haben — bant bem Wejen er Münchnerin! — bier tetne bemerfenswerte wen oren:, Künſtler⸗, Sinana : Gefellichaft. ber wir haben eine Geſellſchafi, in der bas Belte, Hübfchelte, CElegantefte und Unterhaltlidfte aus allen diejen an pugleich unb als gleichwertig verfehrt — und azu fommen nicht bte Schlechtelten aus der tere. unb Beamtenwelt und aus ber Ariſtokratie. Der Sor in einer folden eat: weitet von lelb[t ben Horizont. Mer jid) bier bewegt, lernt bie Mentden nad ihrer Menſchlichkeit taxieren, nicht nach dem fozialen Bewande, das der Zufall ihnen umgebángt bat. Und das iit an [id) ſchon "Tri, frei, fiber und unbef t tijd), fret, er und unbefangen, guts hersig und mit Humor begnadet — fo tft die lindnerin, find viele Münchnerinnen! Vielleicht habe ich vergeffen zu jagen, daß aud) jehr viele hübſch und nicht ganz wenige Ichön find? Bon einer temperamentvollen Schönheit, bie Das Herz flopfen, nicht bloß die Augen ftaunen madıt! ——— 22 tig - X0 4 J > 2N [] Sy NN , QD 0 RR o «m 9 chép» 0 E> © BE Q 0 I 6 BS à SOR a SM O RSS 0 © 5 re U 0 Se © - Qe O EE D ER De ee eS 2 ded Bor dem Schulgang. Gemalde von Chardin in der Fürftlich Liechtenjteinjden Galerie zu Wien. Photographie und Verlag von J. Lowy in Wien. ee rer Ripe eg O0 ger SO EO 9 <> 0 BS GE 0 SH o 0 Tr «Se 6 EE OSH OBE dD BS 0 EB o OE 6 SP TI 6 e ae Q Wwe a $ «ae I Te AE 90-4 Re CEP OER OR 8 DD Q Qm OR O0 cm CS S — db oe sep O EDS Der Halleyihe Komet. Bon Dr. Mt. Wilhelm Meyer. eine Himmelserjcheinung ijt jeit den ältejten Zeiten mit |o allge: meinem und tiefgehendem Inter: ejje betrachtet worden, wie bie einer Sonnenfinjternis und bie eines Rome: ten. Beide brachten nad) der allgemeinjten Überzeugung großes Unglüd. Da aber eine Sonnenfinfternis jchnell vorüberging, hielt aud) die Furcht vor ihr nicht lange an. Cin Romet aber blieb oft wochen: und mo: natelang am Simmel jtehen, unjtet und bedrohlich) unter den Sternen die Kreuz und Quer laufend, und er fonnte [o ent: jeblid) groß werden, daß er den ganzen Himmel umjpannte. Kein Wunder, dap man ſich alles Ungemad)s von ihnen verjah, bejonders da man fie nicht für eigentliche Himmelswejen, fondern für Diinfte nahm, bie aus der Erde in bie Luft emporjtiegen und fid) dort entzündeten. Mehr als alle Sjirnge|pinjte ber Sterndeuterei, von denen ich früher einmal bie Lejer biejer Blätter unterhal: ten babe, jchien der Kometen: Aberglaube be: rechtigt, jolange man dieje Erjchei: nungen der „jub: lunaren” Natur zujchrieb, bie uns aljo mit Teuer und giftigen Diin- iten einmal wirf: lid) auf ben Leib rüden fonnte. Kein anderer Haarjtern aber bat zur Klärung unjerer Grfennt: nis vom wahren Wejen diejer Er: Icheinungen fo ausjchlaggebende Bedeutung ge: Edmund Halle habt alsder Hal: Sdadtunblatt aus bem leyjche, defjen Wiederauftauchen in den lebten, unfern Injtrumenten nod) erretd: baren Tiefen des Himmelsraumes vor fur: aem mitgeteilt wurde, und der im Frühjahr bes Jahres 1910 vor aller Welt fein leuch: tendes Kleid nad) 75jähriger Abwejenheit für uns alle jichtbar wieder über bas Him: melszelt ausbreiten wird. Die Gejchichte des Halleyjchen Kometen, die ich über zwei Sahrtaufende dehnt, ijt deshalb eine Ge: \hichte der Erkenntnis biejer |o vielfach rätjelhaften Wejen jelbjt geworden, und es lohnt fid) wohl, dieje Bejchichte hier wenig: ſtens zu jfigaieren. Edmund Halley, defjen Namen un: fer Komet feit bald zweieinhalb Jahr: hunderten trägt, war ein Zeitgenojje und Landsmann des großen Newton, der zuerjt ftreng nachgewiejen hatte, daß bie Schwerkraft, die den Apfel zur Erde fallen läßt, eine allgemeine Eigenjchaft aller Ma— terie Jet. Halley, einer der vieljet: tigjten und flar: jten Köpfe jeiner Zeit, hat eine ganze Reihe von grundlegenden Arbeiten in den verſchiedenſten Wiſſensgebieten geſchaffen. Er war der erſte, der von der Regie— rung zu dieſem Zwecke nach St. Helena geſchickt, die Sterne des ſüdlichen Him— mels katalogiſier⸗ te, von denen bis dahin noch faſt gar keine Auf— zeichnungen exi— ſtierten. Er beob— achtete und maß zuerſt die Abwei— (1656—1742). jtronomijden Mufeum reptom: Sternwarte. Belhagen & Klafings Monatshefte. XXIV. Jahrg. 1909/1910. II. Bd. 16 249 prex Dr. M. Wilhelm Meyer: Hungen der Magnetnadel in den verjchie: denen Zonen, er unterjudjte bie Erjchei: nungen von Ebbe und Flut, er jd)rieb ge: lehrte Abhandlungen über Lebensrenten, er zeigte, wie man Tauchergloden fonjtrute: ren fonnte, er führte zeitweilig bas Rom- mando eines Kriegsichiffes, bereijte ganz Europa, baute ben Kriegshafen von &riejt und wurde mit geheimen Staatsgejchäften betraut. Damals fonnte nod) der Sohn eines Geifenjieders ein fo vieljeitiger und namentlich ein fo alljeitig anerfannter Mann werden. — Sein Hauptverdienjt aber, das T mit unjerem Kometen zujammenbringt, war jeine Entdedung des großen Werfes New: tons über die Schwerkraft als Beherrjche: rin aller Bewegungen im Weltgebäude, Diejes fundamentalen Werkes, worauf heute Die ganze ajtronomi|d)e Wiſſenſchaft beruht. Newton, ein einjamer Denker, hatte das Werk jchon lange vollendet in feinem Pult liegen. Er erzählte gelegentlich [einem Freunde Halley davon, der es [id) ausbat, um es zu lejen. Die ungeheure Tragweite des Werkes erfennend, drang er in den Freund, es für ihn herausgeben zu fónnen, worauf jid) Newton gar nicht einmal jo Ichnell einließ. Gelehrte vom Sdlage p pre. bes $jallegidjen Rometen im Jahre 1066. 9lusid)nitt aus bem jogenannten Bayeux: Teppich. [3i343434363434346343€363333] Newtons werden mit ihren Werfen nie: mals fertig. Es ijt immer nod) etwas baran zu verbejjern, zu vervolljtändigen, ehe es in ihren Augen für die Öffentlichkeit reif ijt, und ich bin überzeugt, daß manche be: beutenbe Schöpfungen verjtaubt und ver: kommen find, weil fie ihren — Halley nicht gefunden haben. So erjchien die „Principia Philosophiae naturalis* im Jahre 1686 mit einem Ge- dicht von Halley an der Spike, bas mit den Worten endigte: „Nec fas est proprius mortali attingere divos." Newton hatte E daß alle — = 4 my — 200035 ah Fate SD in Der Welt alle anderen Maſſen bireft im Verhältnis ihrer Größe und umgefehrt im Duadrat ihrer Entfernung anziehen, und daß man alle Bewegungen, die wir am Himmel wahrnehmen, aus diejem einen Gejege erflären fann. Waren die Kometen, jene unfteten Him: melswanderer, etwas Materielles, nicht nur ein geilterhafter Schein, fo mußten auch jie fic) nad) Newtons Prinzipien bewegen, man mußte Durch bieje ihr Geheimnis fin: den. Newton jelbjt hatte den mathemati- (den Weg angegeben, durch den dies ge- \chehen fónne. Aber Halley war es, der ihn zuerjt praftijd) betrat, und vierunds LSSSSSSSSSSssssay Der Halleyihe Komet. zwanzig Kometen, von be: nen er die Aufzeichnungen ihres jcheinbaren Weges unter den Sternen in den Chronifen auffinden fonn- te, „berechnete“, bas heißt, aus biejen fcheinbaren Be: wegungen ihre wahren Bahnen durch die Himmels: räume bejtimmte. Er fand, daß lie alle um die Sonne in Parabeln liefen, wie es bas Geſetz Newtons not: wendig machte, daß [te aljo Himmelwefen feien wie alle die anderen, deren Einfluß auf bie Gefchide der Men- iden man allmählid) be: gann in bas tyabelreid) des ar zurückzuwei⸗ inter Diejen vierund: zwanzig Kometen befanden fid) nun drei, bie nad) ber Rechnung Halleys fait ge: nau denfelben Weg um die Sonne 3uriicdgelegt hatten; es waren der von 1682, ben Halley ſelbſt beobachtet hatte, und die von 1607 und 1531. BZwilchen den Aaskelung von Kometen aus ber eit bes Regiomontanus. E 1476. twa um BeSeSssseesssssd 243 liegenden Bedingungen fid) bewegen fann. Jn folchen Ellipjen bewegen fic) be: fanntlid) alle Planeten, aljo aud) unjere Erde um bie Sonne; nur war bie Ellipfe diefes Kometen, ber fortan. den Namen Halleys trüg, viellanggeitredter, jo, wie man es auf unjerer Abbildung fieht. Der flein- jte Kreis um bie Sonne itellt bie Bahn der Erde bar. Wir jehen, daß bie Bahn des Kometen nod in fie hineingreift. Wenn er der Sonne am nddjten itebt, fein Perihel erreicht, jo befindet er fid) nur nod) 0,6 unferer Entfernung von der Sonne von thr ab, ober rund 90 Millionen Kilome: ter. In feiner größten Ent: fernung aber ijt er 35 mal weiter, als wir von der Sonne entfernt find, von ihr hinweg geeilt. Er be: findet fid) alfo dann nod beträchtlich weiter entfernt als der legte Planet unjeres Syftems, Neptun. In Kilo: breien lagen zwei Zwilchenzeiten vonnahes metern find es rund5000 Millionen. Nun |. zu gleicher Lange, etwa 75 Jahre. fonnte man aljo nicht mehr daran zweifeln, daß es ein unb derjelbe Komet war, der inner⸗ Balb dieſer Seitipan: ne jebesmal auf bem: jelben Wege zur Son: ne zurüdgefehrt fet. Diefer hatte alfonicht eine Barabel wie bie anderen Kometen be: Schrieben, in ber er nit zum zweiten Male zur Sonne zu: riidfehren fann, jon: dern eine Ellipje, die mit der Hyperbel, dem Kreis und der geraden Linie bie ein- zige mathematijche Sigur ijt, in ber ein Körper unter ben vor: Da gibt aber unjere Zeichnung ein falfches Bild von der Situation, weil fie nur eine Bahn bes Halleyfden sun gegenüber der Bahn der Erde und anderen Planeten. 16* — Ego ERE le EU calomus MEE AY TOALAAK TOC, probus, ca 7 — — * Problicii-prope Dreidam. arxi paterni cultor falerüssimuss-d Aitrenomus, Phyficus, Rotanicus egregius; ın nulla fere docerina hoipes i ! ndidus m omm vita Philosophus: § — Natur die XI. Junii, M-DUC- XXI. — —— — aco DURAVIT, AMEE EG DEF. — ae _ 951 — * m — a 4 — TS TRE Bildnis bes Bauernaftronomen Johann Georg Palizich, bes Wiederentdeders bes Stid aus bem Aſtronomiſchen Glace wiedergibt. Die Bahnen der Erde und ber übrigen Planeten liegen wohl un: gefähr in diejer gleichen Ebene, bie in der Zeichnung das Papier darjtellt, bie Ebene ber Kometenbahn aber erhebt jid) über jene um 17'/, Grab. Nachdem die Iden— tität jener drei Erjchei- nungen von 1531, 1607 und 1682 nad): gewiejen mar, ſuchte man begreiflicherweije bald nach noch frühe: ren Erjcheinungen un: jeres Kometen, zu: ndchjt nur, indem man in den Jahren, bie ungefähr um weitere 75 Jahre zurüdlagen, nad) entjprechenden Aufzeichnungen in den alleyihen Kometen vom Jahre 1758. —RX eum der Treptow-Sternwarte. Der Halleyſche Komet im Jahre 188. 244 2359939383938] Dr. M. Wilhelm Meyer: BESSsssssssssd Annalen forſchte. Wher dtefe einfache Wtethode fonnte bald nicht mehr genügen, denn man hatte offenbar zu berüdjichtigen, daß nad) bem Newtonjchen Gejeß der Komet nicht immer ganz genau in derjelben Ellipje um dieSonnelaufen fonnte, weil auch alle Planeten, in deren geringerer oder gro: Berer Nähe er voriiberfam, ihn anziehen und teilweije aus feiner Bahn ablenfen mußten. Gie ,jtórten" jet: nen Lauf, wie man jid) fach: mánnijd) ausdriidt. Golde „Störungen“ üben aud) alle anderen Himmelskörper aufeinander aus. Ihre Be: rechnung ijt eine recht lang: wierige Gade. Man muß ja offenbar für den ganzen Zeitraum, während Dieje Störung ftattfindet, Die immerfort wechjelnden Ab: jtánbe aller Planeten von dem Kometen berechnen, weil die Anziehung mit dem Duadrat diejer Entfernung fic) bemift. Alle bieje Wir: tungen können jid) in einem oder bem anderen (inne derart ſummieren, daß die wahre Umlaufs: zeit Des Kometen zwijchen 74 Jahren 5 Mo: naten und 79 Jahren 2 Monaten jchwantt, wie aud) an den Wiedererjcheinungen felbjt beobachtet wurde. Dieje weitläufigen Be: rechnungen find nun bis zum Jahre 760 genau und bis 240 v. Chr. zurüct annähernd ausgeführt worden. Dabei zeigte es fic, daß man alle Wieder: fünfte Des Rometen bis zum Jahre 11 v. Chr. zurüctverfolgen fonn: te, mit derjenigen Un: jicherheit, bie in ben weiter zurüdliegenden Seiten bleibt, in denen bie Aufzeichnungen über ben Sauf neu er: Der Halleyſche Komet. \chienener Schweifiterne oft recht mangel: haft und unflar aus den Bejchichtsannalen zu entnehmen find. Möglicherweije find aud) nod) die Kometen von 87 und von 239 v.Chr. Erjcheinungen unjeres Schweif: fterns, den wir dann mehr als zwei Jahr: taujende zurüc verfolgen können. Was hat er alles in diejer Zeit gejehen, wie hat er jedesmal bieje liebe Erde und ihre Bewohner verändert gefunden! Im Jahre 11 v.Chr. leuchtete er bem Kaiſer Auguſtus, und es wurde ihm nachgejagt, daß er den Tod jeines weijen Ratgebers, Teldherrn und Schwiegerjohns Agrippa verjdjulbet habe. Als er dann im Jahre 66 unjerer Zeitrechnung wiederfam, erichien er, wie berichtet wurde, als gewaltiges feuriges Schwert, um bie vier Jahre |páter jtattqehabte Zerjtörung Jerujalems zu ver: fünden. Nach fünf weiteren Umläufen, in denen er jedesmal irgendwo, meiltens in China, wo alle ſolche Himmelserjcheinungen viel jorgfältiger notiert wurden als im Abendlande, gejehen worden war, erjchien er 451 zur Seit ber vere eens und Attila, die Hunnengeißel, wurde in der gewaltigen Völkerſchlacht in ber Ratalaunijchen Ebene ge: Ichlagen, als das geheimnisvolle Himmelslidt faum vor einigen Monaten erjd)tenen und wieder verichwunden war. Die Anna: len berichten dentiefen Eindrud, den bieje Zuchtrute Gottes auf Freund und Feind gemacht hat. Man müßte eine ganze Welt: gejchichte |d)reiben, wollte man den Wandel des Bölferbildes unjerer Erde durd) bie verjchie: denen MWiedererjcheinungen un: jeres Kometen verfolgen. Ich \pringe nur [d)nell auf die Gr: Icheinung von 1066 hinüber, weil dieje in einem merfwiirdi- gen Bilde dargejtellt ijt. Die Gemahlin Wilhelms bes Er: oberers hat, wie man jagt, eigen: händig einen 70 Meter langen Teppich gewirkt, ber bie Taten ihres Gatten darjtellt und der id) Heute nod) in Bayeux be: findet. Auf Seite 242 ijt das Ctüd desjelben abgebildet, bas unjern Kometen zeigt, und man 8 Beobachtet und gezeichnet von &. B. Bond. [2í2«24343434243€343434] 245 jieht darauf, mit weld) großer Erregung bas Volk auf bas fchredliche Geftirn hin— weilt, unb wie Harald, der Feind Wil: helms, ob feinem Anblick jdjier tn Ohnmacht fällt oder gar ftirbt. In Wirklichkeit fiel er etwa ein halbes Jahr nad) bem Erjchei: nen des Kometen in der Schlacht bei Ha: jtings im Oftober eben jenes Jahres 1066. Vom Beginn unferer Zeitrechnung an bis zu $jalleys Zeiten war der Komet 23 mal erjchienen, indem er unter wechjeln: ber Gejtalt immer wieder für ein neues Geftirn gehalten worden war. Jetzt zum erjten Male fonnte man fein nádj|tes Wie: dererjcheinen vorausjagen, und Halley jefbjt fiindete es für Das Jahr 1759 an. Er aber veritand es damals nod) nicht, jene „Stö— rungsrednungen” auszuführen, bie eine genaue Borausjage ermöglichen. Bereits einige Jahre vor dem erwarteten Wieder: erjcheinen machte fid) nun der franzöſiſche Wfademifer Clairaut, ber ein Wunderfind war und jchon im Alter von 12 Jahren der Akademie eine gelehrte matbematijdje ee, im Verein mit der Der Donatifche Barnet vom Sabre 1858. >= 25^ 25 29 25^ 2^ — — 2 Y E Ew us Lus — = > MM X Refleftor der Sternwarte Serer eget von Carl anm in Gena, mit bem ber Halleyjche Komet im a Der Halleyſche Komet. 247 re 1909 wieder gefichtet wurde. dagegen günjtiger. Der Aſtronom be Ia Mux, der auf der Snjel Bourbon beob- achtete, jah Anfang Mai den Schweif des Kometen 47 Grad lang jid) über den Himmel ftrecen. Ende April war er dies: jeits ber Sonne uns bis auf 26 Millionen Kilometer nahe gefommen. Diejer Wiederkehr folgte bie lebte vor der gegenwärtigen, im Jahre 1835. Ihre Borausberechnung hatten mehrere Rechner unternommen. Wm nächlten fam der Wahr: heit Bontecoulant, ber das Perihel nur einen Tag früher angegeben hatte, als es wirklich jtattfand, nämlich am 16. Novem— ber jenen Jahres. Zwiſchen den Peri: helien von 1759 und 1835 lagen 28006 Tage, während bis zur nád)|ten Wieder: fehr nur 27182 Tage liegen werden, bas ind 824 Tage oder 2 Jahre und 3 Mo: nate weniger. Es ijt ein nicht geringer Triumph für ben Menjchengeijt, jo tief in bas wechjelvolle Getriebe der Naturfräfte eingedrungen zu jein, um alle jene verän: derlichen Einflüjje aus dem einen Gejeb 948 FSSSsessesSsSsse] Dr. M. Wilhelm Meyer: RER] FE — VALOR Ps. PM ocu uL od vw -— LN Nolae E ut o ous. S CLA Scr. Lage ber Bahnellipje bes Halleyihen Kometen gegenüber ber Bahn unjerer Erde um bie Sonne. ber Anziehung erfennen unb genau vor: ausjagen 3u fónnen. Der Komet wurde i. J. 1835 zuerjt am 6. Auguft von Dumoudel am pápitlid)en Dbjervatorium zu Rom gejehen, zunächſt nur als Schwacher Nebel ohne Schweif, wie die Kometen ftets aus den Tiefen des Weltalls zu treten pflegen. Erjt Anfang Oftober entfaltete er die merkwürdigen Gricheinungen, die, hauptſächlich von Beſſel beobachtet und diskutiert, den er|ten fräftigen Anjtoß zu einer , Theorie der Kometen“ gegeben haben, durd) bie man heute bas bis dahin jo geheimnisvolle Wejen biejer Himmelslichter wenigjtens teileije entjchleiert hat. An ihnen war ja jtets das Wunderbarjte und Unerflär: lichjte ber oft ungeheuer lange Schweif, der, aus einem myjteriöjen wie phospho- refzierenden Lichte gewoben, jid) über die Sterne ausbreitet, ohne ihnen auch nur das geringjte von ihrer Leudhtfraft zu nehmen. Was biejen oft Millionen von Kilometern dien und zehn: und mehrfach längeren Schweif, ber bod) fo völlig durchlichtig bleibt, aujammen]ebt, jcheint hiernad) et: was ganz Wejenlojes, Ätheriſches zu fein. Anderjeits aber geht jein Stoff bod) deut: lid) vom eigentlichen Kometen aus, der zweifellos etwas Materielles ijt, weil er dem Newtonſchen Bejeße in [einem Umlauf um die Sonne folgt. Während aber alle andere Materie jtreng geſetzmäßig ange: zogen wird, ſtößt bie Sonne die Materie ber Kometenjchweife ab, denn fie bleiben immer von ihr abgewendet. Hier lagen aljo auf allen Seiten Widerjprüche. In den erjten Tagen bes Oftober 1835 begann unjer Komet, der bis dahin nur eine Berdichtung in der Witte feiner rund: lichen Nebelmaſſe gezeigt hatte, jid) plot: lich ftärfer zu verdichten, unb nun jtrömte auf ber der Sonne zugewendeten Geite, die aljo die größte Strahlung von ihr emp: fing, ein Etwas gegen fie hin, bas jid) fächerartigausbreitete und tm Laufe einiger Tage hin und her pendelte, immer um die Richtung zur Sonne herum. Dieje Aus: ſtrömung bog allmählich um und wurde nun deutlich) von der Sonne abgejtoken. Sie fiel gewijjermagen hinter den Kopf bes Kometen zurüd und bildete hier den Schweif, ber am 28. Oftober mit bloßem Auge, wie auf Seite 244 abgebildet, aus: jah, und etwa 20 Grad lang war. Solde Ausjtrömungen bat man fpdter nod) an vielen Kometen beobachtet. Recht deutlich trat [ie unter anderem an dem großen Ro: meten von 1881 hervor. Zwei Zeichnungen auf Seite 246 jtellen bie eigentümlichen Er: Icheinungen dar, wie id) fie mit Thury am Genfer Refraftor am 27. und 28. Juni jenes Jahres beobachtete. Wlan fieht dar: auf, wie von einem zum anderen Tage zwei nebeneinander liegende Hauben ent: Itanden waren, deren Fortjegung dann den Schweif bildeten. Der Donatijche Ko: met von 1858, defjen prächtige Erjcheinung noch zu meinen erjten Kindererinnerungen zählt, wies jolche Hauben in außerordent: [SS °25232°252°2°752 32322325] lich [d)óner Form auf. Die hier abgebil: dete Zeichnung: desjelben hat Bond in Cambridgeam 9. September 1858 gemadt; auch fie veranſchaulicht jehr chin, wie die Hauben in den Schweif übergehen. Die Entwidlung biejer Strahlen, Haus ben und bes Schweifes geht um [o inten: jiver vor fid), je mehr fid) der Komet ber Sonne nähert. Gie ijt bie gweifelloje Ur— jadje ber Revolutionen, die hier in bem Rometenferne, das ijt bte fid) in ber zuerjt beobachteten 9tebelfugel bildende Verdich- tung, vor fid) geht. Der Kern ijt zwar etwas Materielles, weil er von der Sonne angezogen wird, aber jeine Maſſe muß dod) jehr gering fein, weil man an ihr umge: fehrt nod) feine auf einen anderen Körper geübte Anziehungskraft mejjenb nachweijen fonnte. Diejer materielle Kern wird bei der Annäherung zur Sonne immer inten: jiver von ihr bejtrahlt. Es beginnt jchliep- lid) etwas auf ihm zu fieden. Das Spek— trojfop verrät auerjt KRohlenwajjeritoffe, aljo unjerm Leuchtgas ähnliche Gaje, bann aud) Natriumdämpfe (aljo von Kochjalz herrührend) und, bet bejonders großer Annäherung an die Sonne, aud) Gijen- dämpfe. Dieje jehen wir, nachdem fie vom Kern ausgeſtoßen wurden, den Schweif bilden. Er ijt aljo wirklich etwas Mate: tielles. Da bieje Materie aber abgejtopen wird, jo haben wir auf der Erde dafiir nur Die eine Erklärung, daß fie eleftrijd) jein muß. Außerordentlich fein verteilte elef- trijierte Materie wird jelbitleuchtend, und jo haben wir aud) bie Leuchterjcheinung der KRometenjchweife erflärt. Gleichwohl bleibt nod) eine ganze Reihe von Fragen über bieje jeltjamjten aller Himmelskörper Der Halleyſche Komet. ISSSSesssessssd 249 offen, und es ijt zu erwarten, daß die dies: malige Wiederfehr unjeres Geftirnes, das jebt bie Witronomen jo jehr viel vollfom- mener gerüjtet findet, manche ber nod) offenen Fragen Iójen wird. Dieje Wiederkehr war zunädjit gleich: falls von Bontecoulant, ber bie vorige be: rechnet hatte, bearbeitet worden. Er fand den 17. Mai 1910 als wahricheinlichites Datum des nadjten Periheldurchganges. In neuerer Zeit aber ijt bie Riejenarbeit von den beiden Engländer Crommelin und Cowell wiederholt worden, die erſt— malig ben 8. April für jenes Datum fan: den, wobei [ie aber gleich hHinzufügten, daß eine Unficherheit von etwa adjt Tagen übrig blieb. Der Komet hatte jid) diesmal dem mächtigen Jupiter [o jehrgenähert, daß biejer allein Die Umlaufszeit des Schweif: jterns um nicht weniger als 22!/, Monate verfürzte. Es bot Schwieriateiten , Diejen großen Einfluß mit voller Genauigfett zu bejtimmen. Die genannten Rechner mad) ten fid) jedoch nod) einmal an die Arbeit und fanden ſchließlich als wahrjcheinlidjiten Periheldurdhgang ben 16. April. Es wurden nun Ephemeriden zur Auf: judjungbes Geitirnsberechnet. Holetſchek, Adjunkt der Wiener Sternwarte ftellte feft, daß der Komet im Winter 1907/08, wo er fid) zwijchen Saturn und Jupiter rund 1200 Millionen Kilometer von uns ent: fernt befand, noch von ber 19. Helligfeits: flajje fein mußte, bie auch mit den beiten gernrohren noch nicht gejehen und aud) faum durch lange photographilche Aufnah: men erreicht werden fonnte. Es ijt al]o begreiflich), daß man den Kometen da: mals nod) nicht entbedte, während Prof. 4 _3*20™ [- 20 ' nome d 9 — Sh E Lm — Se EU u. - -L e c - -~ Aldetiaran ^ > vi p? ER a +. » = 3 1 SE re ieh. SUL Be ‘ i. — Ori | BS a “or | 250 BeSSssa Dr. M. Wilhelm Meyer: Der Halleyide Komet. BESSSSSEN Wolf in Heidelberg ungefähr an der Stelle des Kometen einen fleinen Planeten von 18. Grége photographierte. In ben Som: mermonaten befand ſich bas Beltirn wie: ber von uns entfernter, weil bann bie Erde fid) von ihm hinweg bewegt. Außerdem jtand es meijt am Tageshimmel, bie Sonne tritt zwilchen uns und ihn, weshalb erjt wieder im Herbit 1908 an eine weitere Suche gegangen werden fonnte. Am 1. November 1908 befand fich der Komet nod) etwa jedjsmal weiter von uns entfernt wie wir von der Sonne, 910 Millionen Kilometer, aljo immer nod) eine Sonnen: entfernung weiter als Jupiter. Er mußte 18. Grópe und eben an der Grenze der Gntbedungs- Möglichkeit fein. Aber aud) um bieje Zeit glüdte es nicht, ibn aufzu- finden. Erſt am 12. September 1909, als er nod 3,8 Sonnenweiten oder 570 Mil: lionen Kilometer von uns, ungefähr auf balbem Wege zwiſchen Jupiter und Mars itanb, fand ihn Wolf in Heidelberg in ein: ftündiger Belichtung mit dem auf Seite 247 abgebildeten Riejenfpiegel als ein faft ver: Ichwindendes Lichtwölfchen, wie es bier gleichfalls wiedergegeben ijt. Es war 16. Größe und befand jid) fehr nahe an bem Orte, ben die englijden Aſtronomen berechnet hatten. Inzwijchen tjt er aud) in ben größten Fernrohren ber Neuzeit direkt gejehen worden und bis Anfang November auf bie 14. Größe angewadjen. Aber be- fanntlid) find erjt Sterne von ber 6. Größe mit blopem Auge jichtbar. Der Komet ijt aljo immer nod ein auch in den beiten Fernrohren fajt verfchwindender, ganz Kleiner Nebelfled, ber fid) von Tau- jenden ibm ganz gleichjehenden Himmels: objeften nur burd) feine langjame Bewe- gung zwijchen den Sternen unterjcheidet. Die bereits vorliegende Reihe von Be: obadjtungen diejer Bewegung ließ die Be- rechnung feines wirklichen Periheldurch: ganges bis auf etwa einen halben Tag Unficherheit zu, und man fand ben 18. April 1910 dafür, aljo nur zwei Tage ver|djie den von ber Vorherbejtimmung der Eng: länder. Wir haben einen neuen Triumph bes Newtonſchen Gejebes zu verzeichnen. Das Diagramm auf Seite 249 gibt an, wie ftd) in den Iegten Jahren das Geftirn unter den feiten Sternen bewegt hat, be: ziehungsweife noch bewegen wird. Wir fehen, daß es fid) bisher hauptſächlich an ber Nordgrenze der Sternbilder des Ein- born und Orion, bin unb her lavierend, aufbielt, wie es aber vom Jtovember 1909 ab in lebhaftere Bewegung gegen den Stier hin geriet und nun rüdläufig, bas heißt gegen die Richtung der Bewegung der Sonne und der Planeten, durch den Widder, die Fiſche und [o weiter läuft, ber Sonne entgegen. Seine wadjende Hellig: fett wird ihn wohl im Januar aud) fdjon in mittleren Fernrohren jichtbar machen. Nad den Erfahrungen von 1835 wäre dann anzunehmen, daß er etwa Anfang März auer|t einen Schweif entwideln und die intereffanten Phänomene zeigen wird, Die ich vorhin befchrieb. Dann aber fommt er bald der Sonne zu nahe, in deren Strah⸗ len er während feines ‘Periheldurchgangs Mitte April verfchwindet, um erjt auf der anderen Seite wieder hervorzutreten. Indem er jid) Dann wieder von der Sonne entfernt, erreicht er am 19. Mat jeine größte Nähe zu uns, die auf 21 Millionen Kilometer herabgeht. Wahrjcheinlic wer: den wir an biejem Tage mitten im Schweife des Kometen [teden. Bor hundert Jahren nod) hätte man jo etwas faum öffentlich vorher verfiinden dürfen, wenn man nicht eine JBeltuntergangspanit heraufbejhwören wollte. Heute können wir bem Tage mit völliger Geelenrube entgegenfehen, wir werden nichts, gar nichts dabei empfinden, noch wahrnehmen. Erſt nad) diefem Tage wird dann der Komet wieder für jedermann fidtbar am Abend: himmel auftauchen und hoffentlich zu unfer aller Freude einen recht glänzenden Schweif entfalten. fiber die zu erwartende Schöns heit bieles Kleides, in bem er fid) uns prdjentieren wird, ijt gwar im vorbinein nichts Sicheres vorauszujagen. Sie bat bei den perjdjiebenen Wiederfünften fehr gewechjelt. Aber ben Befikern jelbjt nur Heiner Fernrohre wird er ficher bes Inter: ejjanten genug darbieten. . > o «gp» O0 «0D» CB O «UD» OD» OD O «UD» OO O «AUD OD OE 0 O «^ O «M» 0 «09» 0 «G0» O tt et ED OO 0 GO E> 2 0 A > NOSMOSent Du nicht fommit, bijt Du Y aud) fo ein gewöhnlicher Kerl EDEN und id) nenne Dich wieder Cie" FT AQ y — apoitrophierte Ridard Wag: 31223; P. © ner feinen Freund Peter Gor- nelius, als er ihn 1862 von Wien nad) Mtaing binrief, um Seuge zu fein, wenn er zum an Male die Dichtung der Meilterfinger vorlas. | Nun, Cornelius war fein — Kerl. Inmitten des ſtrengen Winters, der ihn in ſeiner Dürftigkeit doppelt heimſuchte, — er die anſtrengende Reiſe nach Mainz, um ſofort nach Erledigung der an Angelegenheit ebenjo ' nurjtrads na ien urüdzufahren. Ein Opfer an Zeit unb Geld — das bei der jämmerlichen Lebens: lage Cornelius’ nicht bod) genug veranichlagt werden fann. Und Wagner braudjte ibn nicht wieder Cie zu nennen. Geine Ab: ſchätzung bieles Freundfchaftdienites erfahren wir aus einem Schreiben an jeine Bertraute Mathilde Wejendond: „Nun ging’s wie in ber Bürgihaft her: Sie wiſſen, alle Flüſſe waren übergetreten, viele Cijenbahnzüge gingen gar nicht mehr; völlige Befahr über: al. Macht alles nidjts: Schlag 7 Uhr am Hten tritt mein Cornelius ein und anderen Tages reiit er nad) Wien zurüd! Nun müljen Ste aber willen, weld) armer Teufel bas iit; wie ber lid) mit Stundengeben quält, es monatlich auf 40 fl. zu bringen. Aber — er liebt mid) febr. Und Sie feben, was id) auf ibn gebe. Schreiben Cie ihm, Rind: er liebt Cie aud. Er wohnt ‚Weiß: gärber = Pfefferhofgajje 30 Wien‘, tft aud) ein Neffe bes berühmten Mtalers.“ Die Auszeichnung bes „Du” liek Wagner nur wenigen in dem unermeßlichen Kreis ee Berfehrs zuteil werden. Darunter ind neben atbilbe SBejenbond, bie er allerdings nur in belonbers geweihter Stim: mung jo vertraulich anredet, vor allem Lifat, ber Dresdener Ublig, ber Mtagdeburger Kol: lege Friedrich mitt, Wilhelm Fijcher, Bonn Heine zu nennen. Es ift wunder: ar, wieviel ein jolch furzges Wort aus bem Munde eines Wagner belagt, wie bie Per: lönlichleit mit einem Schlag in neuem Licht ericheint, in einer gewiljen Verklärung ſtrahlend. Das eben iſt die Weihe des Genius, daß er alles um ſich ber adelt und erhebt. Dar: um find aud) alle Urteile, alle Außerungen über Menjchen, mit denen er in nähere Füh— lung fam, von fold) einjchneidendem Inter: ejje. Nicht als ob jede Außerung eine Un: ee bedeutete. Gewiß nicht. Manche teile entbebren gerade infolge ber Aus= nahmeftellung Wagners durchaus der All: Richard Wagner über Zeitgenoflen. Bon Dr. Wilhelm Kleefeld. 6 <> O «siio OE > OE o E SE o ali 5 > o > 0 E> 6 adiit» OEE 0 O alii» o GE 0 ABO IP 0 EDS unum e Er 6 6 ecu gemeingültigfeit. Andere Urteile hat Wags ner felbjt im Laufe der Zeit geändert und eingejdrantt. Aber ob die Urteile in fid) ftichhaltig und dauernd gültig ober nur vor⸗ übergehend bedentungsvoll — es hat einen ganz bejonderen Neiz, Perjonen ber ſtürmi⸗ Iden Rampfzeit Wagners einmal in feiner Beleuchtung, mit feinen Augen gu jehen, ihre Stellung im Runijtreide burd) den Diktator bejtimmen zu laffen, ihre Bedeutung für bie Zeitgefchichte in bie Worte bes Bayreuthers gefaßt zu hören. De ih Fülle ber Gelidte! Da ift der „Lönigliche Freund“, Ludwig II. von Bayern. Der große „Erlöfer*! In ber \chwierigften Lebenslage |d)uf jeine rettenbe and bie befreiende Tat. „Mein junger önig ift ganz dazu gemadt, all bas in Drdnung zu bringen. Aller Antrieb dazu fommt aus ihm ſelbſt. Sa, der liebt mid); das ijt nun einmal jo!” — ws batte der König bem Künftler auge: elt: „Dein Deiliger Name nie wird er verflinger, Da für bas Höchſte Du willft mutig ringen!” gait mußte jolde Hingabe Beſtürzung ber: porrujen: „Der König tjt leider fo tan und eiftvol , feelenvoll und Derrlid), dab id) irchte, jetn Leben müſſe wie ein ar Böttertraum in bieler gemeinen Welt zer: rinnen.” Aber bas Jtiegeglaubte ward Er: füllung, und in überquellendem Befühle ftürzt Wagner dem Großen zu Füßen: Wie tinnte nun ein Wort den Sinn Dir zeigen, Der bas, was Du mir bift, wohl in fid) faßt? Nenn’ id) faum, wasich bin, mein dürftig eigen, Bift, König, Du, nod) alles, was Du halt: So meiner Werte, meiner Taten Reigen, Er ruht in Dir zu holdbegliicter Raft: Und haft Du mir die Sorge ganz entnommen, Bin nun ich um mein Hoffen jelbft getommen. Go bin id) arm, und nähre nur bas eine, Den Glauben, bem ber Deine fid) vermählt: Er it bie Macht, Durch die td) ſtolz erfdjeine, Er ijt’s, der heilig meine Liebe ftählt; Dod nun geteilt, nur halb nod) iit er meine, Und ganz verloren mir, wenn Dir er fehlt. Co gibft nur Du die Kraft mir, Dir fu danten, Dur königlichen Glauben ohne Wanten.“ Von all ben Fiirften, mit denen Wagner mehr oder minder flüchtig Gedanfen taujdte, fanden nur wenige den Wut, fiir fein Wert einzutreten. Zwar hatte Napoleon II. jelbjt es Durdgejebt, daß ber „Tannhäufer” am der Großen Oper in ‘Baris zur Aufführung fam unb — wie Wagner mit Genugtuung feititellt — „felbit das Zeichen zum Applaus bierem gegeben", zwar hatten die Gropber: 252 ESSSSSSSSETRTI Dr. Wilhelm Kleefeld: zöge von Baden und GCadjjen- Weimar fid) um Wagners Kunſt bemüht, zwar hatte $20: nigin Augufta von Preußen, „die geijtvolle rau”, fid) lebhaft für jeine Arbeiten inter: ejliert, gwar war zu den er[ten an Teltipielen mit dem alten Kaijer Wilhelm ein ganzer Kranz von Königen und Fürlten, lelbit ber Kailer von Brajilien in — Mitte, erſchienen, — eine weſentliche Förderung er— ſein Werk p nur durd ——— ielleicht läßt fid) eine gewiſſe Erklärung für die Vorſicht dieſer soe in bem Bere gelten des ſächſiſchen Königs finden. Bes anntlid) hatte König Friedrid) Auguft II. mein: wegen der verm EDEN Teilnahme an der Revolution in Dresden verfolgen lajjen. Der Künftler floh nad) der Schweiz: die frühere Verehrung für den König wan: delte jid) in bitteren (roll. Er jucht einen Anlaß zur Darlegung jeiner Befühle: „Eines betiimmert mid) ſchwer, weil es mid) bis auf die Knochen verlebt: bas tjt ber mir Jo häufig gemachte Borwurf der Undanfbarfett gegen den König von Gadjen. Ich bin bod) gänz- lid) Gefüblsmenjd) und konnte bemnad) bie: on Borwurfe gegenüber lange nicht begrei- en, warum id) denn diejer vermeinten Un: banfbarfeit wegen in meinem Gemiite fo ger feine Regungen bes Bewillens empfand ? d) babe mich endlich gefragt: ob ber König von Sachſen ftrafbar jet, mir unverdiente Gnaden erwiejen zu haben, für welchen Fall E ibm wegen feiner Verlegung bes Redtes allerdings zu Dant verpflichtet gewejen wäre ? en Ipridjt ihn metn Bewußtjein von biejer Schuld vollfommen frei. Daß er mir 1500 Taler dafür zahlte, daß ui auf bas GebeiB jeines Intendanten ihm jährlich eine Anzahl jchlechter Opern birigterte, war allerdings übermäßig bezahlt: indes lag ne für mid) weniger ein Grund zur Dank: arteit als zur Unzufriedenheit mit meiner ganzen Unftelung. Daß er mir für das efte, was ich bieten konnte, nichts zahlte, verpflichtete mid) nicht zur Dantbarfeit: dak er mir da, als id) ihm wirklich Gelegenheit ab, mir gründlich zu helfen, nicht helfen onnte ober — durfte, jonbern jid) ruhig mit einem Intendanten über meine Gntlajfung unterhielt, — berubigte mid) über die Ab: hängigkeit meiner Gtellung von QGnaben: erzeigungen. Schließlich bin id) mir aber aud) bewußt, wenn felbft ein Grund zu be: jonberer Dankbarkeit gegen den König von Gadjen bei mir vorhanden gewejen wäre, tijjentlid) feinen Alt der Undankbarkeit gegen ihn begangen zu haben.“ Scharf und [d)neibenb wendet er fid) gegen den Nachfolger A Johann, da er thn nit amnejtieren will: „Meinem Landes: vater habe id) nichts zu Jagen: wenn er ſich unterjtchen wollte, mid) in meinem Schwal- benneite zu bejuchen, würde ich ihm die Tür weijen.” Es bedurfte der TFürjprache des &aijers Jtapoleon, um den verbitterten Für: ften zur Amnejtierung Wagners zu bewegen. Ten großen Geiftern jetner Zeit widinete Im SO << g Wagner ftets gern Worte: der Berehrun und Bewunderung. Müſſen wir uns do ins Gedächtnis zurüdtufen, daß er — 1818 geboren — nod Zeitgenojje von Goethe, eethoven und Weber war. Wenn nun aud) Wagner bei gegebenem Anlaß für dieje Heroen jeine Perjönlichteit einlebt, jo war thre Größe bod) in btejer Zeit bereits jo unantajtbar anerfannt, daß hier feine Weſen⸗ heitsbereicherung eintreten fonnte. Es dürfte deshalb von näherem Intereſſe fein, gerade jeine Stellung gu den weniger Legitimierten fennen zu lernen. Berlioz gegenüber neh: men wir einen jtarfen Dieinungswechjelwahr. Go heißt es bet ber erjten Bekanntſchaft mit Berlioz’ Werken: „Für bie reine Aunft fann er nicht jchreiben, ihm entgeht aller Schön: heitsjinn.“ Bald jollte fid) bas Urteil mil: dern: „Wenn id) mir von einem etwas er: warte, jo ijt dies von Berlioz ... Sch liebe Berlioz, mag er fid) mibtrautjd) und eigen: jinnig von mir entfernt halten.“ Nach bem Londoner Aufenthalt hören wir: „Einen wahren Gewinn bringe id) aus England mit: eine herzliche und innige Freundſchaft, die ich für Berliog gefaßt und die wir beide gejdlofien. Ich hörte ein Konzert der Newphilharmonie unter jeiner Leitung und war allerdings wenig von jeiner Aufführung ber Wiozartihen G-moll:Sinfonie erbaut, und hatte ihn wegen der Exefution jeiner Romeo und Syulie: Ginfonie, die jehr unge: nügend war, zu bedauern. Einige Tage darauf waren wir allein aber bei Sainton zu Tiih: er war fehr lebhaft, und meine tn London gemadten SFortichritte im Frangd: ilden erlaubten mir, während eines fünf: tünbigen Zulammenjeins alle Mtaterien der Kunft, ber Philojophie und des Lebens in teiBenber Mitteilung mit ihm zu bejprecdhen. Sd) gewann baburd) eine tiefe Sympathie für meinen neuen Freund: er wurde mir ein ganz anderer, als er mir früher war; wir janden uns plößlich als Leidensgefähr⸗ ten, und id) tam mir — 3lüdlidjr vor als Berlioz. — Nach meinem lebten Konzerte befudjte er mich noch mit meinen übrigen wenigen Londoner Freunden; feine Frau war aud) mit; wir blieben bis früh drei Uhr beijammen und trennten uns für diesmal unter herzlichen Umarmungen.” — Aber auch dies Urteil wird bald wieder modifi: tert: „Berlioz ijt bem Neid verfallen; meine nftrengungen, mid) ot als Freund erhal: ten zu fónnen, find erfolglos geworden ... Gein Unftern bat ibm ein böjes Weib ge: eben, bas fid) beitechen läßt, um ihren febr eibenben und ſchwachen Mann zu bejtim= men. Gein Benehmen gegen mid) war etn itetes Schwanken zwijchen freundjchaftlicher Neigung und Abprall von dem Beneideten.”“ uch Mteyerbeer gegenüber a wir einen Umjdlag der Meinung. Zuerlt konſtatiert Wagner mit Freuden, dak er bei jeinem ploglidjen Erjcheinen in Paris ,fid) mit ber liebenswürdigftenTeilnahmenad) bem Stande jeiner Angelegenheit erfundigte und helfen SSSSSSSsSsssSsesel Nihard Wagner wollte”. Dann verzeichnet er mit Genug: tuung, bap Meyerbeer, als er ihm feine Oper nad) Berlin fdytdte, „mit der Bitte, ihr die Annahme an dem dortigen Hoftheater zu verichaffen, bieje mit ziemlicher Schnelle be: wirkte”. Aber plößlicdy jchlug ber Optimts- mus um: „Mit Meyerbeer hat es nun bei mir eine eigene Bewandtnis: id) haſſe ihn nicht, aber er ijf mir grenzenlos zuwider. Diejer ewig liebenswiirdige, aefállige Menſch erinnert mich, ba er jid) nod) ben Anjchein ab, mid) zu protegieren, an die unllarite, ajt p id) jagen lafterhafteite Pertobe meines Lebens; bas war bie Periode ber KRonnexionen und Hintertreppen, in der wir von den Protektoren zum Narren gehalten werden, denen wir innerlich burdjaus unzu⸗ etam find. Das iit ein Verhältnis ber voll: ommenften Unehrlichkeit: feiner meint es aufrichtig mit bem andern; der eine wie ber andere gibt fid) den Wnjdein der Zugetan⸗ bett, und beide benugen fic) nur jolange, als es ihnen Vorteil bringt. Aus ber abjidht- [iden Ohnmacht jeiner Gefalligfeit gegen mich mace ich Mtenerbeer nicht ben minde- ten Vorwurf, — im Gegenteil bin id) froh, nicht jo tief fein Schuldner zu fein. Uber Seit war es, daß id) mid) vollfommen aus dem unreblidjen Berhältnilfe zu ibm Ios: madjte: äußerlich habe ich nicht bie geringlte SBeranfajfung dazu gehabt, denn Jelbft die Erfahrung, daß er es unreblid) mit mir meine, fonnte mid) nicht überraidjem und zumal mir fein Necht geben, ba id) mir im Grunde jelbjt vorzuwerfen hatte, mid) ab: Jichtlich über ibn getáujd)t zu haben. Uber aus inneren Bründen trat die Notwendig: leit bei mir ein, jede 9tüdjid)t ber gewöhn: lichen Klugheit in bezug auf ihn fahren zu lajfen: id) fann als Künftler vor mir und meinen Freunden nicht exijtieren, nicht dens fen und fühlen, ohne meinen vollfommenen Begenjag in SUtegerbeer zu empfinden und laut zu befennen, und hierzu werde ich mit einer wahren Verzweiflung getrieben, wenn id) auf die irrtümliche Anficht jelbjt wieder meiner Freunde ftoße, als babe ich mit Meyerbeer irgend etwas gemein. RKetnem meiner Freunde fann ich mich, mit allem, was id) will und fühle, in reiner deutlicher Gejtalt binitellen, als wenn id) mid) voll: jtandig von biejen verjdwimmenden Um: rijfen lostrenne, in denen ich jo vielen nod) ericheine. Es ijt dies ein notwendiger Wh ber vollen Geburt meines gereiften Welens, — und [o Gott will — gedente td) mandem damit zu dienen, ba id biejen Akt mit fol- chem ws vollziehe! —" Bei Liſzt vollzog fid) bas Umgelehrte. Bon der scien Begegnung erzählt Wagner: „Sonderbar muß mir wohl Lijgts Lebens: begegnung vortommen. Zum eritenmal traf id) ibn vor 20 Jahren in Paris, zu einer Seit, wo mid) — in miBlid)jter äußerer Lage — bereits tiefer (fel vor der Welt fafte, in welder er eben glänzend und ftrahlend vor mir Derangaufelte. Sekt, wo id) nur en muß Liſzt abermals i über Zeitgenoffen. 253 zu bereuen babe, diefer Welt durch mein Sdidjal einmal wieder entgegengetrieben worden zu fein, wo ich meine Gugenderfab- rung jo gründlich erneuere, und nichts, feine Boripie elung, fein Anfchein mich mehr be: wegen fann, gegen fie den Finger augu. vor meinen ugen darin berumjonnen! ... Niemand weiß bejfer wie er, was das ijt, bas dort zu erreichen ijt. Richtiger beurteile id) ihn ba: her, wenn id) annehme, da das Rechte ihm jelbft verjagt bleibt, liebt er es, fid) dann und wann tm Schein zu beraujdjen .. .“ Als dann die Beziehung — enger wird, kann ie Wagner bod) nicht verhehlen: „Zwiſchen Lijgts und meinem intelligenten Charafter ijt ein |o großer und wefentlicher Unterjchied, dak mich oft eben die Schwierig- leit, ja — wie ich glauben muß — Unmög- lichkeit, mid) ihm verftändlich zu machen, quälend ängitigt und zur ironijden Bitter: leit ftimmt: bier aber tritt nun gerade bie Liebe fo jchön ausgleichend und befriedigend ein, daß td) warme, freundjchaftliche Bezic- — bei Männern faſt nur bei einer Sij: ereng der Anjchauungen für möglich halten mag. Denn diejes freundichaftliche Gefühl ijt es Dod — allein, was überhaupt wiſchen Männern Übereinſtimmung herbei—⸗ ihren fann: vollfommen in ihren Anſchau⸗ ungen gujammentreffen werden fie wohl nie, oder hödjitens, wenn fie unbedeutend find und ihre Anfchauungen fid) auf nabelteger: des Gemeines beziehen; treffen fie Höheres unb Ungemeines, |o wäre fajt nur an Io: giih = praftifchen Sujammenbang ber Intel» ligenzen zu denken, wie fie in ber P idaftlidjen Sphäre vorfommen mag. Das eigentlich Erwärmende der Be tritt aber eben erit ba ein, wo burd) fie Differen- zen, wie id ein Höheres, Interventeren: des ausgeglichen unb als unbedeutend bar: ejtelt werden. Dies angenehme hat: abe id) durch £ijat ſchon wiederholt erbals ten. Dod) will ih — ruhig betrachtet — nicht leugnen, daß ich es für gut halten muß, wenn wir nie lange und nahe beifammen find, weil id) bann bie zu ftarfe Difenbar: werdung unjerer ?Berjdjtebenbeit zu fiird)- ten hätte, In der Ferne gewinnen wir i uns ſehr.“ Wher immer näher fommen id) die Künſtler; fie finden fic in Freundſchaft, Liebe, Selbjtverleugnung, in der ohne Bei- jpiel bajtebenben Aufopferung füreinander, die Ichlieglich ihre Krönung finden jollte, als Wagner Lilzts Tochter Cofima heiratete. ieß es bei ber Beiprechung der Lijgticen ompojitionen zuerſt: jchwer ijt es, einen a zu tabeln, viel [d)merer aber einen Sfreund zu loben — fo wuchs die allgemeiite fünftleriiche Berehrung fo, daB Wagner — nur den Ausweg des Scherzes and. In ſolcher hingebenden Stimmung warf er ſich einmal auf den Boden und trod) gebiidt zu dem Freunde: „Liſzt, zu Dir muß man a allen vieren fommen." Freilih, was Lijgt Wagner gewelen, ift 254 ESSBISSTIISSZAN Dr. Wilhelm Rleefeld: BESiISsseesesss völlig ohne cig uals Es tft mit goldnen Settern in bie si Ala ag eingegraben. Mir verftehen, wenn Wagner Lijgt ſchreibt, daß es für ihn ,,Lebensaufgabe nS jeiner Freundſchaft wert” zu fein: „Mir ijt's, als ob id) in eine tiefe Rrijtallflut untertaudte, um dort ganz bet mir zu fein, alle Welt inter mir gelajjen zu os ‘te und fiir eine tunde mein eigentliches Leben zu leben. Erfriſcht und geftärkt tauche i auf, um mid nad Deiner ſehnen.“ Ein jäher Wechſel der Geſinnung tritt wiſchen Nietzſche und Wagner ein. Die eiden großen Perſönlichkeiten hatten ſich erſt angezogen, mit magiſcher Gewalt, um ich nachher um ſo blutiger zu befehden. Mit oheitsvoller Verehrung rief Wagner den hiloſophen zum Zeugen auf bei ber Be- urteilung ber beut]djen Bildungsanitalten: „Wir fragen gerade Cie, ber Cie fo jung berufen und von einem ausgezeichneten Meilter ber Philologie vor vielen bevorzugt wurden, den Lehrituhl einzunehmen, und bier fid) jchnell ein jo bedeutendes Vertrauen erwarben, daß Sie es wagen fonnten, mit liner Feltigleit aus einem pitiolen Zufam- dann wieder egenwart zu menbange herauszutreten, um mit jchöpfe: riſcher Hand auf jeine Schäden zu deuten.“ ie ganz anders lautet der Text, nachdem Nietzſche m gegen Wagner und feine Runft ewandt! Da judt Wagner Trojt bet dopenbauer, der ihn früher jchon etn: mal fir feine Lebensauffalfung gewonnen hatte: „Neben bem — langfamen — Bor: rüden meiner Mufit habe id) mid) jebt aus: Ichlieglich mit einem Menſchen beicyäftigt, ber mir — wenn aud nur literarijd) — wie ein Himmelsgefdent in meine Ginjamtett gefommen ijt. Es ijt Arthur Schopenhauer, der größte Philojoph fett Rant, bejjen Ge: banfen er — wie er fic) ausbrüdt — voll: ändig erjt zu Ende gedacht hat. Die deut: er Sl haben ihn — woblweislid — a er aber — zur Schmad) Deutichlands — von einem englijden Rritifer entbedt. Was find vor diejem alle Hegels ujw. für Scharlatans! Gein Hauptgedante, die endliche Berneinung des Willens zum Leben, ijf von am Ernite, aber einzig erldjend. ir fam er natürlich nicht neu, und niemand fann ihn überhaupt denfen, in dem er nicht bereits lebte. Aber zu bieler Klarheit erwedt Bat mir ihn erjt bieler Bhilofoph. Wenn ich auf bie Stürme meines Herzens, ben furdtbaren Krampf, mit bem es fid) — wider Willen — an bie Rebenshoffnung antlammerte, zurüd: bente, ja, wenn jie noch jet oft zum Orfan anjdwellen, — jo habe ich dagegen bo nun ein Quietiv gefunden, das mir enblt in wachen Nächten einzig zu [5l verhilft; es tit bie herzliche und innige Sehnſucht nad) dem Tod: volle Bewußtlojigfeit, gänzliches Nichtjein, Verſchwinden aller Träume — etn: gigite endliche Erlöjung!" — Verwandte Auffaflung wird Wagner re E ignoriert: neulich) wurde burd) den Grafen Gobineau, den Philo- jopben und Dichter, zugeführt, deffen Urteil er ſtürmiſch aufgreift. „Den Grafen Go: bineau frugem wir, was er vom jebigen Zu: ftand der Welt halte. Er prüfte das Blut in den Adern ber heutigen Menſchheit und mußte es unbeilbar verdorben finden. Uns darf es willfommen fein, aus den Darlegun- gen eine Erklärung dafür zu gewinnen, daß unjere wahrhaft großen Geifter immer ein- ſamer dajtehen und — vielleicht infolge hier: von — immer jeltener werden: bap wir uns die größten Künſtler und Dichter einer Mit- welt gegenüber porjtellen fónnen, welcher fie nichts zu jagen haben.” Ron ber Mitwelt als (Gangem hielt Wagner an grund: wenig. „In unjerer heutigen Weltordnung berricht ganz unbedingt der Phililter, der gemeine, fchlaffe unb babet graujame Ge- wohnheitsmenid. Er ijt bie Stütze des Be: ftehenden, niemand anders — und gegen thn fümpfen wir mit nod jo adligem Mute alle vergebens.“ Die grimmen Feinde großer Kunft find feiner Meinung nad) zu ju „in der tragen Philifterhaftigfeit unferes blitums und der Eſelhaftigkeit unjerer riti". Fürwahr, das läßt an Deutlichkeit nichts zu wünſchen. Wher fo fdlimm, wie es flingt, meint es Wagner gar nidt. Er hält bas PBublifum für heilbar. Wenn er aud) eine leile Sromte durchſchimmern läßt, o iſt er bod) durchaus aufrichtig, ba er bet er freudigen Aufnahme feiner Werke jchreibt: x rechne bas ben Leuten bod) an, daß id) mit meiner Diufif bie Menjchen faft gang gu dem gleichen Enthufiasmus bewege, wie ies gewöhnlich von Tänzerinnen und ähn- licen Künltlern ee Das Befte für jetne Kunſt en Wag: ner vor bem Frauen-PBublitum. „Mit Frauen: herzen ijt es meiner Runft immer nod) ganz ut gegangen, und das fommt doch wahr: bein daher, daß bet aller herrichenden (Bemeinbeit es den Frauen bod) immer nod) am ſchwierigſten fällt, ihre Seelen fo grünb: lid) verledern zu lajjen, als Dies unirer itaatsbürgerlihen Männerwelt zu jo voller pd gelungen tit. Die un find eben bie Muſik des Lebens: fie nehmen alles offener und unbedingter in fic) auf, um es d ihr Mitgefühl zu verjchönen.“ te alle jchaffenden Künftler, empfing Wagner die tiefiten — von edlen Frauen. Die Ehe mit inna Planer war nach ſeinem eignen Ausſpruch eine „un⸗ glüdliche”; trotzdem bing er an ihr. Da er aus Dresden entflohen und in fchwierigfte Lage geraten, ijt bie „arme Frau jeine ein- gige Sorge”: „ft er|t meine Frau wieder et un 0 bebaure ich nichts, wünjche nichts guriid 1^ Freilihd eit ganz anderer Strahl ging von len MWefendond aus. „Was mich getröftet und geftartt hat, ift die Liebe jener jungen Frau, bie mir anfangs und lange 3agenb, gweifelnd, gdgernd und ſchüch— tern, Dann aber immer bejttmmter und fides ESSSZIEISISHTH Ridard Wagner über Zeitgenoffen. BSSSSSEE4 255 rer fid) näherte. Da gwijden uns nie von einer Vereinigung die Rede fein fonnte, ges wann unjre Jteigung ben traurig tvebmiti- gen Charafter, ber alles Gemeine und Nie- dere fern hält und nur in dem Wohlergehen des anderen den Duell der Freude erfennt. Cie bat jeit ber Zeit unferer en Befannts ſchaft bie unermiidlidjte unb — Sorge fiir mid getragen, und alles, was mein Leben erleichtern tonnte, auf die mus tigite Weije ihrem Mtanne abgewonnen ... Und biele Liebe, bie ftets unausgelprodjen gwifden uns blieb, mußte fid) endlich and) offen enthüllen, als id) vorm Jabre bem Zriftan' bidjtete und ihr gab." Bon den Frauen feiner Runft war es in eriter Linie bie Schröder:Devrient, bie ihn in feinen Ideen leitete. Bei ihrem n Auftreten in Bellinis „Romeo und Julia“ war er [don ,erftaunt, in jeiner jo durch» aus unbebeutenben Muſik eine |o außerordent- liche Leiftung ausgeführt zu leben". Seit⸗ dem er fie als Beethovens Leonore fennen gelernt, jchwebt fie ibm als Ideal vor Augen. „Mit welder Glut, mit welcher Poefie, wie tief erjchütternd ftellte fie dies außerordent- fide Weib dar! Was mid) bie Pygmäen ae anwidern, wenn id) ihres ſchaffenden eniujes gebenfe!^ Auch andere Künftle: rinnen haben ihm begeijtertes Lob abgerun: gen, jo bie gefeierte Briji in Mozarts „Don Juan”. „Das idjonite, reid)begabtelte SBeib, ganz befeelt von bem einen: Mo⸗ arts ‚Donna Anna‘ zu fein; da war alles ärme, Zartheit, Glut, Leidenſchaft, Trauer und Klage.” Die vielgenannte Tragddin Riftori, bie er als Mtedea jab, „gefiel ibm lebr — madte einen ziemlich bedeutenden Ginbrud^, Treilich fchien fid) ber in „Marie Stuart“ (tart abzuſchwächen. Naturgemäß läßt fic) Wagner durch den Glanz des Welt: rubms nicht blenden. Er weiß das Flüch- tige ber Erjcheinung von bem Dauernden u jcheiden. it welder Überlegenheit be- handel er bie angebeteten italienijchen pernjtars, ohne bas Bedeutjame ihrer Let= tung au verfennen. „Rubini wird erjt gett: lid) auf bem hohen B: darauf muB er fom: men, wenn etn Abend in der italienijchen Oper Ginn haben fol.“ Tamburini jpielte und fang „als weltberühmter Baritonijt den Don Juan. Der Filch auf bem Sande; ber Mann wurde den ganzen Abend über den an Klöpfel nicht los”. Da war aber ablahe, „ein Koloß und jeder Zoll ein Leporello”, während Madame Berjiani „mit ber Muſik der Zerlina ftd) nicht guredjtfinden fonnte”. Den Komponilten feiner Zeit begegnete Wagner ftets mit wiirdevollem Intereſſe. Er it bemüht, ben Gegenja& zwilchen fran- zöſiſcher und deutjcher Produktion in feinem inneren Wejen zu verfolgen. NRühmt er an Boieldieu „Xebhaftigteit, Geift, Wik’, an perry ,Gragie", nennt er Halevys Mufit „anitändig, gefühlvoll, an mandjen Ctellen Jogar von bedeutender Wirkung“, bezeichnet er Aubers „Stumme von Portici” als „ein Nationalwert, wie jede Nation Pieds nur eines aufgumeijen bat" — jo findet er für Roſſini nicht die gleiche Rube der Gachlich= leit, Das meifte Hingt etwas ironijd). , Co: lange diefer Mann lebt, wird er immer in Mode fein. Macht er die Mode oder madt ie ihn?” „Mit dem genialften Leichtjinn, er allein dies erreichen konnte, rig Rojfint alle fiberrejte der älteren italientjden Schule nieder.“ Doch bewundert Wagner bei dem Italiener bie Bornehmbeit, mit der er zu feiner Runft Stellung nahm. „Durch die ern|tlid) wohlwollende Art madte er den Ginbrud bes erften, wahrhaft großen und verehrungswiirdigen Menſchen auf mich, ber mir bisher nod) in ber Runftwelt begegnet war.“ „Diejer Ernjt bes alten Epituräers at mid) überrafcht.“ Über Spontinis Werke ält h Wagner jehr zurüd, aber feiner rdefterfiihrung zollt er hohes Lob. „Dan jab, er fajje den Lattitod als Marjchallftab auf und gebraude ihn nicht zum Taftieren, ondern zum Sommanbierem." Liber bie tt, feine Spieler zu beherrichen, läßt er Spontini jelbjt berichten: „Mein linfes Auge ijt Die erjte Biolin, mein rechtes zweite Biolin; um mit bem Blid zu wirfen muß man daher feine Brille tragen, wie jchlechte Dirigenten es tun, jelbft wenn man fura: jichtig ijt. Ich jehe nicht einen Schritt wert unb bod) bewirfe id) durch meine Augen, daß alles nad) meinem Willen gebt Mit weit ftrengerer Sachlichkeit beurteilt Wagner die deutichen Komponiſten. Spohr: „Wohl find die Produktionen diejes Meifters völlig deutſch zu nennen, denn fie [predjen tief und flagenb gu bem inneren Gemiite; doch mangelt es jeiner Muſik zu fehr an bem dramatifden Leben, bas von der Szene aus wirken fol.“ Marjdner: „Er beriihrte dies jelben Saiten, die Weber angeichlagen hatte, und erhielt Dadurch ſchnell eine gewille Poe pularität. Bei aller ihm innewohnenden Kraft war er aber nicht imjtande, bie von Weber fo glänzend wiederbelebte populäre beutjdje Oper aufrecht unb in Geltung zu erhalten.“ Dtendelsjohn: „Wenn wir auf bem Gebiete der Runjt an bie reine Perſön— lichkeit unjere Teilnahme verjdenfen wollten, jo dürften wir fie Mendelsjohn in ftarfem Maße nicht verfagen, felbjt wenn die Kraft bieler Teilnahme burd) bie Beachtung ge: ſchwächt würde, daß bas Zragijde jeiner Situation Mtendelsjohn mehr anbing, als es thm zum wirklichen, fehmerzlichen und läuternden Bemwußtjein fam." Nicht jehr freundlid) läßt er jid) über den zu feiner Zeit vielgerühmten, von bem deutichen Rai: ler jogar geadelten Ferdinand Hiller ver: nehmen: „Wie unter der Begünjtigung der volliten Anarchie ber modernen Runftzuftände bem Mtimen es gelungen ijt, fid) zum Herrn des Theaters zu machen, jo gelang es nicht minder dem gemeinen Mujiler, nur durch Benutzung jehr verjchiedenartiger Umjtände, fid obenan zu leben, bem Kunftgenie die 956 ESESEA Dr. W. Rieefeld: Ricard Wagner über Zeitgenoffen. BESesesced Sjanbmerfsgilben - Meifterfchaft, entgegengu- jtellen und fid) als den eigentlichen Befiger der Muſik zu gebürben." Er ſucht ibn in demjelben Lager, in dem er feine pringipiellen Gegner vermutet, einen Riehl, einen Hans- lid. „Herr Riehl hat es für bie Muſik auf bie Naivität abgejehen unb muß es bedauern, daß bie neueren Komponiften, von Weber an, refleftierte Muſik gejchrieben haben, in weldem Bedünten er mit dem berühmten Miener Doktor Hanslid durchaus überein: immt.“ Befanntlicd) wollte er feinen an: ern als Doktor Sjanslid in bem Beckmeſſer ber „WDteifterfinger“ treffen, den er zuerft Veit Hanslich genannt hatte. Die jüngeren Mufiler weiß Wagner alle in feinen Bann zu ziehen; wir hören nidt eigentlid) von ihren pofitiven Leiftungen, vielmehr von ihren Bemühungen um Bay: reuth. fiber ben Komponiſten Karl Ritter ſchreibt er in einem Briefe: „Er ilt tüchtt ebildet und voller Talent, und namentli wt auch feine muſikaliſche Begabtheit nicht gering. Sekt konnte er dem Verlangen nicht widerltehen, meinen ‚Rohengrin‘ (deffen Bar: titur er genau fennt) zu hören und ijt eigens deshalb nad) Weimar gereijt.^ Bon Karl Klindworth [pridjt Wagner i anertennend. $ijat hatte ihn Wagner empfohlen mit den Morten: „Mit diejen au — lichſter Freund, ſtelle ich Dir Karl Klind— worth vor, von dem ich Dir ſchon a Annee miindlid) und brieflich gejagt. Du findelt in ihm einen vorzüglichen Muſiker und Pia: niften, ber Dir Herglid) ergeben und nicht umfonft ein paar Jahre in Weimar mit mir geblieben. Geit vorigem Jahr hat er fid) tn London etabliert, wo ich ihn Deiner Pros teftion freundfdaftlid) anempfeble."^ Und Wagner erwidert: „Ich fonnte in wenigem Klindworth nüglich jein. Diefer dauert mid ehr. Er itt zu viel Künftler und nobler enid), um in London nicht lebr unglüdlich zu fein. Der müßte etwas anderes anfan- en.“ Bejonders innig gejtaltete (id) bas erhältnis zu Hans von Bülow: „Er ilt und bleibt mir ganz ergeben, und es ijt oft rührend, wenn td) dahinter fomme, welde ae Mühe er fid) immer für me gibt. r ift bann jebr traurig, wenn id) thm lage: das hülfe bod) alles nichts!“ Bon den Malern, mit denen Wagner in Fühlung kam, gewannen beſonders Feuer⸗ ach und Kietz ſeine Gunſt. „Feuerbach ſchrieb mir und ich machte glücklich einmal wieder die Erfahrung, was es heißt — mit einem ganzen Kerle zu tun zu haben.“ Die Freundſchaft mit dem Porträtmaler Kietz datiert aus der Pariſer Zeit. „Er iſt ein liebenswürdiges Talent und ein präch— tiges Gemüt. Ein vortrefflicher Menſch; ihm wird's gewiß immer gut gehn, denn alle Menſchen müſſen ihm gut ſein.“ Wie feſt Jugendbeziehungen geknüpft PROMS cO SHINO HO Sa) 04563 werden, erfennem wir aus dem allzeit von tieffter Sympathie getragenen Gebantenaus- taujd) mit dem Dresdener Kreis. Da iit der KRammermufifer UHlig. Mit ibm hat Wagner große Pläne; er will ihn von den Dresdener Ketten befreien. „Du bijt nod nicht fertig, b. b. Dir ftedt ber sema ne Rammermujifus nod im Leibe... Alle Freude gönne id) Dir, nur nidjt bie des SBbilijters — denn Du bift mein Bruder. Du und jedermann wird heutzutage als Philifter geboren, und langlam und mühe: voll gelangen wir Armiten erft dazu, Mten- iden zu werden. Die Frauen, die ganz das geblieben find, was fie von Geburt an nd, fónnen uns einzig lehren, und wären ie nidjt, wir Männer gingen rettungslos im Tütendrehen zugrunde.” Da ijt der — Wilhelm Fiſcher. „O Du allervortrefflichſter Menſch, Mann, Bruder, Freund, Chordirektor und — — ber!!!“ Und da ift aud) der ne ner Ferdinand Heine Er hatte agner bas Caenarium zu „Xohengrin“ angefertigt. „Du bajt Deine Gace jebr ſchön — ja m vielem zu Ihön — gemadt! Ich bin Dir jo vielen Dant dafür ſchuldig.“ Auch bie Roftiim: und Seforations|figgen zum „Tann häufer“ fommen von feiner Hand. „Spaß muß Dir’s dod) madjen, dak man Deine Koſtümzeichnungen nad Paris als Mufter fommen läßt.“ Wher nicht nur ber Helfende rd Hel aud) ber Menſch Heine wurde des höchſten Vertrauens gewürdigt: , Grog, nadt unb offen ftanden wir beide auf ber Erd» fugel, bie wir Welt nennen, und begriffen mit einem Uberblid das ganze Gefüge bie- les Balles.” Bon Ferdinand Heine zu Heinrich eine, bem Namensvetter. Geltfame Worte dren wir ba aus Wagners Mtund.: Zuerit burd) feine Dichtungen angeregt, durch eine feiner Arbeiten jogar für den Gtoff bes „liegenden Holländers“ begeiltert, wendet er fid) [páter völlig von ihm ab. „Den Romangero habe id) nicht gelejen. Ich abne meinen völligen Ruin, wenn id) aud) nod) mit jo was mid) abgábe.^ „Keine Täus hung hielt bet thm vor: von dem unerbitt: lihen Dämon des Verneinens deifen, was verneinenswert jdjien, ward er raltlos vor: warts gejagt, durch alle Illuſionen moderner Gelbjtbelügung hindurch, bis auf den Puntt, wo er nun a jt wieder fid) zum Dichter log, unb dafür auch feine gedichteten Liigen von unjeren Romponiften in Muſik gelebt erhielt.” — ende: wie wir uns zu einem lolchen Urteil ftellen, wir fónnen uns dem Retz folder pointierter Auslafjung nicht entziehen. Und darum haben aud all biele Lobes: und Tadelsvoten, bie über bie Tage: si unb bie zahllojen Briefe Wagners verjtreut find, Anſpruch auf Intereffe und Beachtung. U ras an SH Ay (C > a e > on OS OB o «QU» O «5G» O XS 7 6 7 0 «30» O «290» 0 I 0 9 I 22 I 0S AS AP o AP O SP o AS 020 I 0 7 o Pe 1 22 AS 227 1 22 1 0 7 0 7 727 07 i 9 ! ! ! e. ; 9-9 0 «99» 0 SE 0 «JU» BD 0 IP 0 «QE» Ep 0 «20» O «90» 0 «S0» «QU» SEO 0 «GU» DD Et SS 0 AP 0 «89 0 «DU» o 4 OSH 6 an La Pepa. Gemälde von Prof. Otto Hierl: Deronco. € I 0 ED 0-9 gU oh o DE — + — EI eK Jes = CR Je Ke Kyle Rie 2f o 9 e Ke KS ZEN alte Herr [ab nod) einmal iN \) nad), ob in feinem Haufe aud BU Mf alles in Ordnung fei. Er ging EIS) mit bem prüfenben und be: dächtigen Blid, mit bem er früher, ehe er ftd) zur Rube gelebt, Lager, Kontor und Höfe feiner Fabrik am Rhein jeden Mor: gen Durdjdritten Hatte, burd) bie paar Bimmer der Billa — durch fein freundlich belonntes, einbettiges Schlafgemahd — durch den Eßraum — in bie Edjtube mit bem Arbeitstifch, auf bem die Photographie einer dicken, wohlwollend Lächelnden Dame ftand, den Salon, wo nie ein Menſch fab, bas Fremdenzimmer mit bem frijch über: zogenen Lager und bem Blumenjtrauß am Fenſter. Cr wußte jchlieklich felber, daß bieje Mufterung unnötig war — in feinem ftillen Witwerheim war alles in Ordnung — aber er Hatte eigentlich in Baden: Baden den ganzen Tag nichts zu tun, als darauf zu halten, und nahm feinen Hut, bürftete ihn, obwohl fein Stäubchen an ihm au fehen war, und rief nad) oben: „rau Schwöbel, id) geh’ jebt auf die Bahn!“ Eine Treppe hoch, unter dem Dad), wohnte die Wirtjchafterin mit dem Haus: mädchen. Sie fam herunter: „Schön, Herr Neubert!” „Sit der Joſeph [d)on fort ?“ Jawohl, ber Hausburfche war unter: wegs nad) dem Bahnhof. Herr Neubert nicte befriedigt. Aber er jagte unruhiger als ſonſt: „Alfo, nicht wahr, Frau Schwö- bel, daß alles fttmmt! Gerade diesmal! Sd) denke, ber junge Herr wird fic) wohl wafden, wenn wir gurüdfommen, und dann können wir gleich frühftüden! ... Aber gut!“ „Jawohl, Herr Neubert! Es wird dem Herrn Leutnant [djon [chmeden!“ „Und mit bem Wein, da frag’ id) met: nen Sohn erit! Rorfen Sie nicht unnüß auf, Frau Schwöbel!“ Herr Neubert befaß die Sparjamfeit aller alten Raufherren, die bei Taujenden von Mark nicht mit ber Wimper zuden, aber den Taler üngjtlid) drehen. Er trat vor das Haus in den grellen Sonnenfchein, F Velhagen & Klaſings Monatshefte. XXIV. Syabrg. 1909/1910. IT. Bd. e Jp of Je 2f Je 2 Je 9 Je Ke Ke Ke 2 Je Ke Ke Ke Re 2 Je 9 Je Ke Ke Re Rie Ke Re Re Ke Fhe Fe 9 Pater, peccavi! Novelle von Rudolph Straß. le A Se o e Ke Ke Khe Khe 0 de Ke Ke Ke ?K Je Ke KSI = u N V N H ck) der auf dem Garten flimmerte, und blieb ba nod einmal, ben Blid am Boden, in ernjten Gedanfen Stehen wie einer, ber einen wichtigen Gang vorhat. — Es war ein heißer Sommertag über den Schwarzwaldbergen und ber grün um: bujchten Bäderftadt, bie man von hier aus zum guten Teil überblidte. Die Vögel zwiticherten in dem fleinen Garten, die Rofen dufteten, bte Päonien jtanben [teij unb prunfooll in regelmäßigen Abjtänden in ihren tief[d)wargen Erdrabatten, jujt fo wie der alte Witwer in feiner nüchternen Drdnungsliebe das haben wollte. Geine Villa lag dicht über der Lichtenthaler Allee, an einer Stelle, wo in Baden: Baden nur [ehr wohlhabende Leute wohnen fonnten. Der alte Herr, der es gewohnt war, alles gründlich zu tun, hatte fid) etn: mal mit Bleiftift und Bapier ausgerechnet, daß man bie Plätze, wo er jeine Blumen 30g, beim Berfauf als Baugrund ganz mit Gilberjtüden bededt befommen könnte. Der Erwerb biejes Bodens war ein gutes Gefchäft gewefen, wie bas meijte, was er in feinem fechzigjährigen Leben begonnen hatte. (fr bebielt beim Abwärtsfteigen ben Strohhut der Schwülen Sommerluft wegen in der Hand. Er war gediegen in Hell: grau gekleidet, mit einer jugendlich weißen Wefte. Sein graues Haar war jorgfältig gefcheitelt und gefämmt, fein Kinn zwijchen den beiden grauen kurzen Bacenbartenden jauber ausrafiert. Gein Gefichtsausdrud war wohlwollend. Es lag darin eine ge- wille Kühle, bie Reſpektabilität bes Groß: faufmanns, der fein Leben lang Streng mit feinem Perfonal, vorfichtig gegen die Ron: furrenz, höflich gegen bie Gejchäftsfreunde getvelen war. Hinunter jebt auf ber fteilen Straße zur Kichtenthaler Allee wurde er nicht müde. Hinauf auf bem Riidweg — da tat es fid) oft ſchon ein wenig [chwerer, da merkte man feine fechzig Jahre. Er ging gemeffen. Gr hatte Beit. Wie jeden Tag lal er fid) bebádjtig bie wohlbefannten Hdujer ami: [den ben Parfgdrten rechts und links an. 17 958 BSSSVSSSHessssy Rudolph Stra: Befonders an dem einen haftete, während er vorbeifam, fein erniter Blid beinahe unverwandt. Es war ein großes, zwei: ſtöckiges Gebäude mit einem [chattigen Vorgarten, am Tor ein Schild: „Penſion A. von Boddendied, Anftalt für Stoff: wedjel: unb diätetifche Kuren.” Ein paar Herren faßen mit ihren Zeitungen im Freien unter einem Gonnenzelt, belle Damenfletder fchimmerten im Grün ber Bäume. Herr Neubert beachtete das nidj Er fudjte oben etwas — an den Fenſtern, ba, wo, an ben gefchäftig han: tierenben Mädchen mit den weißen Häub- den zu erkennen, die Küche war. Auf eine Sekunde erfdjien der Kopf einer blonden, jungen Frau zu Mitte ber Dreißig zwijchen den der Hike wegen weit offenitehenden Scheiben. Sie nidte faum merklich und balblächelnd ihm zu. Er lächelte auch, ein wenig verlegen. Er grüßte nicht weiter. Denn er hielt ja feinen Hut in der Hand. So war der ganze Vorgang nicht auffällig. Uber als der alte Herr feinen Weg fort: jebte, glaubte er bod) neugierige Augen: paare aus allen Büſchen und Fenftern in jetnem Riiden zu |püren und wurde rot unb verwirrt, als habe er ein [chlechtes Gewilfen. Er war es nod) auf dem Bahnhof. Er ging aufgeregt auf und ab, blieb wieder ftehen, jah nervös in bie Richtung nad) Dos, wo von ber Rbeinebene her das Dampfwilfdhen fommen mußte, und atmete endlich tief auf: Gottlob — da lief der Zug ein. Aus einem Wagen erfter Klaffe [prang ein bildhübſcher, großer junger Menſch in elegantem Zivil und blickte fuchend um fi. Er erkannte ben um einen Kopf klei—⸗ neren Bater unter den vielen Leuten nicht gleid), unb der winkte ihm, fic) mühſam burd)brüngenb: , Ludwig ... Ludwig... da bin id..." Vater und Sohn füpten fid) und fahen fid) hinterher einen Augenblid ftumm und etwas verlegen an. Dann fagte der alte Herr jchnell, fic) gefchäftig die Hände rei- bend: „So... alfo... nun, da ijt ja der Joſeph! .. . Gib ihm Dein Gepad... id) benfe, wir fahren unterdes voraus!... Oder willft Du lieber zu Fuß gehen ?” ,Jtee.. . fahren!” lachte ber junge Mann. „Herrgott... war das heiß in bem Kupee!“ Er trodnete fid) mit dem Tuch die Stirne, auf dem der [djarf in der Höhe bes Mübenrandes gegen das jonnenge: bräunte Beficht abgejebte weiße Streifen den Offizier verriet, und ftieg hinter feinem Pater in bie Drofchle. „Heute früh, wie id) wegfuhr, befam id) eben nod einen Brief von meiner [chweiterlichen Liebe !” jagte er. „Bon der Klara?“ „a. Sie will Beute abend aud) fom: men. Aber ohne ihren Mann. Der hat Aufſichtsratsſitzung!“ „So — ſie will auch zu mir herüber!“ ſprach der alte Herr gepreßt. Dann ſchwieg er längere Zeit. Der Wagen rollte durch die Lichtenthaler Allee. Der Huſar in Zivil blickte ſich neugierig nach rechts und links um. Das bunte Leben, die vielen Menfchen,diereichen Toiletten gefielen ibm. „Nett hier!“ meinte er unbefangen. „Du haſt Dir wirklich einen famoſen Erden⸗ fleck ausgeſucht, Papa!... Schau mal ba: den Bierergug! Donnerwetter ... bier fieht man bod) was! Schade, daß ich nur bis morgen früh Urlaub hab'! ... Aber jebt mitten im Sommer... . Wenn Du dem Oberſt nicht jelbit gefchrieben hättejt, daß es jeDr wichtig wäre, fo hätte er mid) überhaupt nicht Iosgelaffen . . .“ „sn ein paar Stunden fann man viel reden, Ludmig!“ meinte der alte Herr lang: fam. Dann verjtummte er wieder. Er war zu aufgeregt, um eine alltägliche Ron: verjation zu führen. Der Sohn bemerfte es und bebelligte ihn nicht weiter. Er unterhielt jid) während der langen Fahrt auf jeine Weije, indem er mit einem eiges nen £ádjeIn die Damen auf der Promenade mujterte. Sein Gefidjtsausdrud war ba: bei nicht frech, nur verjtändntsvoll unter: nehmend. Manchmal fam ein Blid zurüd, ein paarmal ein pieljagenber. Er wußte das Schon. Er fannte [id). Er fand immer feine Abenteuer. Sie wuchſen ihm zu, ob er wollte oder nicht. Aber diesmal wollte er wirklich nicht. Es war feine Zeit dazu. Er war wahrhaftig inerniteren Dingen hier. Er wandte fid) zu dem Vater und ers zählte ihm, nur um etwas zu reden, vom Dienft, von ben Gejdwijtern, von feinen Pferden. Der alte Herr hörte geritreut zu. Aber es war thm dod) lieb, daß fie ſpra⸗ chen. Dies Schweigen wäre zu driidend geworden, zumal jest, wo der Zweijpänner ganz langjam im Schritt bie um dirfe Mittagszeit beinahe verödet in der Gon: nenglut daliegende Straße hinaufflomm. Da tauchte wieder bas Haus mit der Auf: Schrift: „Penſion U. von Boddendied” auf. Der Leutnant las es im Borüberfahren und fdaute untpillfürlid) neugierig bin: über. Dort zeigte fid) jebt feine Ceele. Man ak wohl [djon da drinnen. Der alte Herr hatte verjtohlen, ein bißchen fcheu, dem Sohn zugejehen. Es war ein miß- trauifcher Zug um feine Mundwinfel. Sie rollten wieder eine Weile jchweigend dahin und blidten angelegentlich rechts und linfs ins Grün hinaus. Dann erjchien Hinter einer Wegbiegung die Villa, und Ludwig Neubert rief erfreut: „Na — da ijt ja Dein &usculum! ... Famos! Ich hab’ nen Riefenhunger... "Tag, Frau Schwö⸗ bel! 9ta ... Sie werden aud) immer jünger !" Frau Schwöbel, eine rüjtige Fünfziges rin, lächelte gejchmeichelt. Von allen Rin: dern ihres Herrn, bie gelegentlich zu Be: judy) famen, liebte fie ben Alteften, den Hufaren, am meilten. (ie hatte für ihn mit befonderer Luft und Liebe gefodt. Das Effen war gut. Solange Vater und Sohn bet Tijd) auf der Veranda [aBen, Iprachen fie in Gegenwart bes bedienenden Mädchens nur über gleichgültige Dinge. Erſt als fie fid) bann vor ber Hike in das Haus zurüdgezogen und bei einer Zigarre einander gegenüber Blak genommen Dat: ten, rüdte fic) ber alte Herr mit einem plöglichen Entſchluß auf dem Lederjofa zurecht. „Schmedt Dir die Henry Clay, 9ub: wig?” - „a. Sie ijt ganz ſchön!“ „Haft Du jonjt alles, was Du brauchſt?“ „Danke, Papa!“ „Kun — dann wollen wir jebt als Män- ner miteinander reden!“ Emil Neubert preßte babet die Finger: Ipiten flad) auf den Knien aneinander. Co ſaß er aufrecht da. Es war die Hal: tung, bie er früher bei wichtigen fauf- mánnijdjen Befpredungen einzunehmen pflegte. Und ebenfo aufmerfjam, aber ge: Ihäftlidy ruhig, war fein ältliches, ein wenig kränkliches und faltiges, aber Fluges Belicht, als er erjt einmal aufhüftelte unb Pater, peccavi! BESSSSTSZIBSTTT34 259 bann in halblautem, trodenem Tone be: gann: „Du bift ber 9tItejte, Ludwig! Als Dffizier ein erwachjener Menſch! Gold) ein Studentchen im erften Semefter wie der Paul ijt mir nod) ein Dummer Junge! Und bie zwiſchen Euch, die Klara unb bie Glije, find ja ganz unter dem Einfluß ihrer Männer. Die find nur die Papageien für bas, was die ihnen jagen! Na... unb daß meine Herren Schwiegerjöhne natür: ih...pah... ift mir aud) ganz gleich!“ Er madjte eine geringjchäßige, für fein bedächtiges Wejen ungewohnt energilche Handbewegung burd) die Luft. Sein Sohn laß ihm, ein Bein über das andere ge: Ichlagen, die Havanna zwiſchen ben Fin: gern, gegenüber. Auf feinen frijchen jungen Zügen war ber Ausdrud eines ftraffen, dienftlich=ernften und verjtändnispollen Interefjes, wie er fonjt wohl einer An- Iprache feines Oberften an das SOffigters: forps zuhörte. „Du fannft aljo nachher mit Paul und ben Schweitern reden!” jagte ber alte Herr. „Mir it bas zuviel! Überhaupt bin ich feinem Menſchen Rechenſchaft [djulbig !^ Einen Augenblid lief ein Schatten von jtillem Cigenjinn über fein Antlit. Dann fuhr er jo gejchäftsmäßig und ausbruds: los wie bisher fort: „Du bijt jung, Lud- wig, und braudjt bas Leben nod) nicht zu fennen! Ich bin alt und follte es kennen. : Aber ich hab’ es nicht gefannt. Erft in ben fünf Jahren, feitbem ich hier einjam haufe, ijt es mir wie Schuppen von ben Augen gefallen! Das tjt ja alles Schwin⸗ del, Kind, was man fid) fo im allge meinen einbilbet . . .” „sch verfteh’ nicht, Papa...” Der alte Herr [adjte. Es war etwas in feinen matten, blauen Augen, was den Sohn feltjam berührte. Gein Vater hatte nie im Leben Humor gehabt. Gr war immer ein pedantijder Bücher: und Zahlen: menjd) gewefen. Wenn andere über bie Schnur hieben — auch feine eigenen Rin- der — gut! Er war tolerant gegen alle Lente! Er tat bloß nicht mit. fibermut war eine Brande des Lebens, die er nicht fannte. Aber jebt jchien es bem Hufaren, als mache der alte Kaufmann da vor ihm fid) heimlich über irgend etwas [ujtig. Der Vater gwinferte |o fonderbar mit den Augen und verjeßte dann plößlich wieder 17* 260 ESSesseesesesessay Rudolph Straß: BESSSSSSSsse3sesssi trübe: „Da muß man weiter ausholen, mein Junge! ... Wir wollen mal fagen, vor feds Jahren, wie Du nod) in ber Prima gefeffen bijt und Du und die Mama mid jeden Tag gequält habt, Du müßteft Dffizier werden!... Nun... id) gab nad! Ich hab’ ja immer nachgegeben. Ihr wart ja alle immer ftdrfer als ih." Er zündete fid)